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Wie die Nakba die Geschichte der Palästinenser beeinflusst hat

Im Dokument Palästina und die Palästinenser (Seite 50-64)

Der erste arabisch-israelische Krieg von 1948 war ein einschneidendes Ereignis in der modernen Geschichte der Palästinenser. Die Auswirkungen der Nieder-lage von 1948 – der Nakba (arabisch: Katastrophe) – auf die Palästinenser waren tiefgreifend und haben die Gestalt Palästinas und die palästinensische Geschichte auf vielfache Weise geprägt. Keine ernsthafte Analyse des heutigen palästinensischen Lebens wäre vollständig ohne ein Verständnis dieser Auswir-kungen von 1948. Materiell zerschlug die Nakba die sozioökonomischen Struk-turen Palästinas. Die arabische Wirtschaft in Palästina wurde praktisch zerstört, und Hunderte von Dörfern verloren ihre Bewohner, als mehr als die Hälfte der arabischen Bevölkerung ihre Heimat verlassen musste. Nachdem Israel die Rückkehr der Flüchtlinge verweigerte, waren sie gezwungen, sich im Exil so gut wie möglich ein neues Leben aufzubauen. Israel unterzog indessen Palästina einer vollständigen Verwandlung, zerstörte die palästinensischen Dörfer und löschte den arabischen Charakter des Landes fast völlig aus. Politisch raubte der Krieg den Palästinensern nicht nur ihren Staat, wie er in der Resolution 181 der UN-Vollversammlung vom November 1947 vorgesehen war, sondern führte auch zu einer Revolution innerhalb ihrer politischen Führung, deren Echo bis heute in der palästinensischen Politik zu spüren ist. Darüber hinaus bleibt auch das kulturelle und intellektuelle Leben bis heute von den Folgen von 1948 geprägt, was deutliche Auswirkungen auf die palästinensische Politik und Gesellschaft hat.

Wer die palästinensische Geschichte verfolgen und verstehen möchte, muss sich der verschiedenen grundlegenden Auswirkungen der Nakba bewusst sein.

materielle auswirkungen von 1948

Der arabisch-israelische Krieg, der eigentlich schon in den letzten November-tagen 1947 begann und genau genommen bis zur Unterzeichnung des letzten Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und Syrien im Juli 1949 dauerte, verwüstete den arabischen Sektor Palästinas. Sozioökonomische Strukturen, Gebäude, das Land und die Demografie wurden für immer verändert. Diese

Palästina und die Palästinenser Michael R. Fischbach die katastrophe von 1948 – Wie die nakba die Geschichte der Palästinenser beeinflusst hat

karte 5: die Waffenstillstandslinien von 1949 (sogenannte Grenzen von 1967)

Quelle: Gudrun Krämer, Geschichte Palästinas, München, Verlag C.H. Beck, 4. Auflage (beck’sche reihe),

© Peter Palm

Palästina und die Palästinenser

Tatsache erklärt besser als alles andere die Irrungen und Wirrungen palästinen-sischer Geschichte seit 1948.

Die materielle Zerstörung Palästinas zeigt sich am dramatischsten in der Demografie des Landes vor und nach dem Krieg. Abgesehen von den im Krieg getöteten Personen1, führten die Kämpfe zu einer massiven Entvölkerung Palästinas. Vor dem Krieg von 1948 lebten über 1.308.000 Araber in Palästina.2 Während der Kämpfe wurden mehr als die Hälfte dieser Menschen aus ihren Heimatorten vertrieben. Die meisten davon lebten in jenen 77,2 Prozent des Landes, die als neuer Staat Israel aus dem Krieg hervorgingen. Ungefähr 750.000 Menschen flohen oder wurden von den israelischen Streitkräften vertrieben.

Zwei Drittel von ihnen fanden Zuflucht in den restlichen 22,8 Prozent Paläs-tinas, die nach dem Krieg unter arabischer Kontrolle verblieben (der Westbank und dem Gazastreifen).3 Etwa 300.000 weitere Flüchtlinge fanden sich außer-halb Palästinas in den benachbarten arabischen Ländern wieder. Selbst von den ungefähr 160.000 Palästinensern, die in Israel zurückblieben, lebten über 30.000 nicht mehr in ihren Heimatdörfern.4 Die palästinensische Vorkriegsgesellschaft verteilte sich so auf drei unterschiedliche Gruppen: die Palästinenser in Israel, die in der Westbank und im Gazastreifen und die in der arabischen Welt und anderswo.

Abgesehen von der demografischen, veränderte sich auch die räumliche Wirklichkeit Palästinas durch den Krieg und den Exodus der Flüchtlinge drastisch.

Die Flüchtlinge ließen zwischen 360 und 429 Dörfer zurück, die von den israeli-schen Behörden später zerstört wurden.5 Nur 81 palästinensische Dörfer inner-halb Israels blieben intakt.6 Aus Städten in Israel, deren Bevölkerung aus einer Mischung aus Palästinensern und Juden bestand, wie Jaffa, Haifa und Tiberias, wurden nach 1948 mehrheitlich jüdische Städte mit kleinen palästinensischen Minderheiten. Nur eine einzige palästinensische Stadt in Israel, Nazareth, behielt ihre palästinensische Bevölkerung und ihren Charakter. Der arabische Charakter der Westbank und Gazas blieb erhalten, obwohl sich die räumliche Realität dieser Gebiete durch die Entstehung von Flüchtlingslagern veränderte.

1 Es existieren keine verlässlichen Zahlen, obwohl man manchmal von etwa 10.000 Toten liest.

2 Justin McCarthy, Population, in: Philip Mattar (Hrsg), Encyclopedia of the Palestinians, überarbeitete Ausgabe, New York: FactsOnFile, Inc. 2005, S. 395.

3 Michael R. Fischbach, Land, in: Philip Mattar (Hrsg.) (2005), S. 294. Abgesehen von der Westbank und dem Gazastreifen kontrollierte auch Syrien nach dem Krieg einen winzigen Teil palästinensischen Territoriums in der Nähe der heißen Quellen von Al-Himma.

4 Zu den verschiedenen Angaben zu den Flüchtlingen innerhalb Israels (den „anwesenden Abwesenden“ in israelischem Sprachgebrauch), siehe: Nur Masalha, Present Absentees and Indigenous Resistance, in: Nur Masalha (Hrsg.), Catastrophe Remembered: Palestine, Israel and the Internal Refugees. Essays in Memory of Edward W. Said (1935-2003), London und New York: Zed Books 2005, S. 11 f.

5 Für eine Diskussion der verschiedenen Angaben zur Anzahl der verlassenen Dörfer, siehe Michael R. Fischbach, Records of Dispossession: Palestine Refugee Property and the Arab-Israeli Conflict, New York: Columbia University Press 2003, S. 3 ff.

6 Siehe Salman Abu Sitta, Atlas of Palestine 1948, London: Palestine Land Society 2004.

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Quelle: Palestinian Academic Society for the Study of International Affairs (PASSIA) karte 6: Von israel zerstörte palästinensische dörfer

Jüdischer Grundbesitz, 1947 Israel in den Grenzen des Waffenstillstands von 1949 Von Israel zerstörte palästinensische Dörfer 1948

Westbank und Gazastreifen

Palästina und die Palästinenser

Über die Zerstörung ihrer Dörfer hinaus verloren die Flüchtlinge ungeheuer viel Land in Israel. Eine von 1953-62 von der UN-Aussöhnungskommission für Palästina (UNCCP – United Nations Conciliation Commission for Palestine) durchgeführte Studie identifizierte 6.057.032 Dunam Land aus Privatbesitz7 (ein Dunam = 1.000 m²), die von Flüchtlingen zurückgelassen wurden. Ein riesiges Gebiet, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Juden vor dem Krieg in ganz Palästina nur 1.734.000 Dunam besessen hatten, lediglich 6,59 % des Gesamtge-biets.8

Dieser verlorene Grundbesitz hatte einen schwindelerregenden Wert und kam einer immensen Enteignung gleich. Laut Schätzungen der UNCCP verloren die Flüchtlinge Privatland im Wert von mindestens 235.660.250 £P (1948 etwa 824.780.808 $).9 Diese Zahl enthält keine in Gemeinschaftsbesitz befindli-chen Dorfgrundstücke, Weideland, Land zur öffentlibefindli-chen Nutzung usw. Eine spätere Untersuchung von Yusif Sayigh setzte den Wert des verlorenen Grund-besitzes weit höher an. Sayigh schätzt, dass die Flüchtlinge 6.611.250 Dunam Land im Wert von 403.400.000 £P (1948 etwa 1.625.702.000 $) zurückließen sowie 173.000 Gebäude im Wert von 954.304.000 $.10 Sami Hadawi und Atif Kubursi schließlich berechneten, dass die Flüchtlinge 19.031.012 Dunam Land im Wert von 528.900.000 £P (1948 etwa 131.467.000 $) verloren hatten.11 Selbst das Land vieler in Israel gebliebener Palästinenser wurde während des Krieges und danach enteignet. Darüber hinaus übernahm der neue israelische Staat weitere 12.500.000 Dunam meist unfruchtbaren Landes in der südlichen Negev-(Naqab)-Region, welches die israelischen Behörden nach 1948 zu «Staatsland»

erklärten.12 So kam es, dass 1962 93 Prozent des innerisraelischen Landes von der Israel Lands Administration kontrolliert wurden. Palästinensische Bürger besaßen damals lediglich 810.200 Dunam in Israel – 4 Prozent der Gesamtfläche des Landes.13

Zusätzlich zum Wert des Landes verloren die Flüchtlinge laut Schätzungen der UNCCP zwischen 70.122.000 $ und 169.538.070 $ (im Wert von 1948) an beweglichem Eigentum wie Hauseinrichtungen, Bargeld, Schmuck, Nutztieren,

7 Fischbach (2003), 274 ff. Siehe auch Michael R. Fischbach, The Peace Process and Pales-tinian Refugee Claims: Addressing Claims for Property Compensation and Restitution, Washington: United States Institute of Peace Press 2006, S. 41.

8 Fischbach, Land, a.a.O., S. 294.

9 Fischbach (2003), S. 275-77; Fischbach (2006), S. 42-45.

10 Yusif al-Sayigh, al-Iqtisad al-Isra’ili [The Israeli Economy], Cairo: League of Arab States, Institute for Higher Arab Studies 1966, S. 107 ff. Siehe auch Fischbach (2003), S. 320 ff., S.

381f., und Fischbach (2006), S. 44 f.

11 Sami Hadawi, Palestinian Rights & Losses in 1948. A Comprehensive Study. Teil V: An Economic Assessment of Total Palestinian Losses written by Dr. Atef [sic] Kubursi, London:

Saqi Books 1988, S. 113 u. 187. Hadawis und Kubursis Methode erklärt, wie sie zu den deutlich größeren Zahlen von verlassenem Land kommen.

12 Fischbach, Land, a.a.O., S. 294.

13 Fischbach, Land, a.a.O., S. 295.

Palästina und die Palästinenser Michael R. Fischbach die katastrophe von 1948 – Wie die nakba die Geschichte der Palästinenser beeinflusst hat

Werkzeugen, Autos, Fabrikinventar usw.14 Auch hier führt Sayighs Studie höhere Verluste auf: 453.375.000 $ an beweglichem Eigentum.15

Natürlich hatten diese traumatischen Ereignisse entsprechende Folgen für die demografischen, räumlichen und sozioökonomischen Strukturen Paläs-tinas. Innerhalb Israels war der größte Teil der Bourgeoisie und der Intelligenzija geflohen und hatte eine nahezu ausschließlich ländliche, führerlose Bevölke-rung zurückgelassen. Die Landwirtschaft war durch die andauernden Enteig-nungen und die Beschlagnahme bestimmter landwirtschaftlicher Produkte wie etwa Olivenöl ins Chaos gestürzt worden. Einige Bauern in den Dörfern an den Waffenstillstandslinien waren von ihrem Land auf der anderen Seite des Zauns getrennt worden, Händler waren von ihren traditionellen Märkten abgeschnitten.

Und auch außerhalb Israels hatte die Nakba große Auswirkungen auf die materi-ellen Aspekte palästinensischen Lebens. Zu den 80.000 Palästinensern, die in dem später von Ägypten kontrollierten Gazastreifen lebten, kamen fast 250.000 Flüchtlinge hinzu, zu den 450.000 Palästinensern in der Jordanien zugespro-chenen Westbank stießen 350.000 Flüchtlinge.16 Diese Flüchtlingspopulationen bedeuteten eine enorme Belastung für lokale Ressourcen und soziale Strukturen.

Während die einheimische palästinensische Bevölkerung in der Westbank und im Gazastreifen mehrheitlich intakt aus dem Krieg hervorgegangen war, fehlte es den Neuankömmlingen an Land, um ihr Leben und ihren Lebensunterhalt wieder aufzubauen. Für ihr Überleben waren sie auf die internationale Hilfe der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) angewiesen. Zwar hatten nicht alle Flüchtlinge Land verloren – nach einer Studie der UNCCP von 1965 waren es etwa 44 Prozent 17 –, aber es war doch ein vernichtender Schlag für die ehemals als Bauern lebenden Flüchtlinge, sei es auf eigenem oder auf gepachtetem Land, nunmehr in der Westbank und im Gazastreifen als von Spenden der UNRWA abhängiges Lumpenproletariat zu leben.

Auch die einheimischen Bauern in der Westbank und im Gazastreifen waren betroffen. Die Waffenstillstandslinien trennten einige Dorfbewohner von ihrem Land innerhalb Israels, und Händler und Handwerker waren von ihren tradi-tionellen Märkten anderswo in Palästina abgeschnitten. Palästinenser, die in Exilländern außerhalb des Mandatsgebietes Palästina untergekommen waren, im Libanon, Syrien, Jordanien, den Golfstaaten oder noch weiter entfernt, standen vor den gleichen Problemen.

Abgesehen von diesen negativen Auswirkungen, führten die materiellen Folgen von 1948 auch zu gewissen positiven Entwicklungen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft. So ließ beispielsweise der andauernde

politi-14 Fischbach (2003), 272-76; Fischbach (2006), S. 45.

15 Sayigh, a.a.O., S. 108-10. Siehe auch Fischbach (2003), S. 322 u. 382, sowie Fischbach (2006), S. 45.

16 Sara Roy (aktualisiert von Martha Myers), Gaza Strip, in: Philip Mattar, a.a.O., S. 172; Don Peretz, West Bank, in: Philip Mattar, a.a.O., S. 531.

17 Fischbach (2003), S. 277.

Palästina und die Palästinenser Quelle: Bernard Wasserstein, Israel und Palästina – Warum kämpfen sie und wie können sie aufhören?,

München, C.H. Beck Verlag 2003, © Peter Palm

karte 7: zunahme des jüdischen Grundbesitzes in Palästina 1930-44

Palästina und die Palästinenser Michael R. Fischbach die katastrophe von 1948 – Wie die nakba die Geschichte der Palästinenser beeinflusst hat

sche Kampf, dem alle Palästinenser – wo immer sie auch gestrandet waren – ausgesetzt waren, eine gut entwickelte Zivilgesellschaft entstehen, mit Medien, Gewerkschaften, Studenten- und Berufsorganisationen, Forschungsinstituten und Menschenrechtsgruppen. Dies hat die palästinensische Gesellschaft in den sechs auf die Nakba folgenden Jahrzehnten geprägt.

Politische auswirkungen von 1948

Die Nakba hatte auch dauerhafte politische Auswirkungen auf die Palästinenser.

Aufgrund der Zerstörung des wirtschaftlichen Lebens und der gesellschaftlichen Strukturen Palästinas konnte keine «normale» sozioökonomische Entwicklung ablaufen, die zum Entstehen einer «normalen» politischen Reaktion auf die Tragödie geführt hätte. Eine unmittelbare Folge war, dass in Palästina kein dem neuen jüdischen Staat vergleichbarer arabischer Staat entstand. Das britische Mandatsgebiet Palästina wurde aufgeteilt zwischen Israel, Jordanien und Ägypten, und die in den einzelnen Gebieten lebenden Palästinenser wurden von Auswär-tigen regiert. Weitere palästinensische Exilanten waren den Regimen im Libanon, in Syrien, im Irak, in Kuwait und in Saudi-Arabien unterworfen. Sie mussten sich umgehend anderen Staaten und Nationalbewegungen unterordnen, von denen die meisten der Entstehung einer rein palästinensischen Bewegung kritisch gegenüberstanden, da sie ihnen bedrohlich werden konnte. In der Folge zerfielen die schon zersplitterten politischen Strukturen Palästinas noch weiter.

In den ersten zwei Jahrzehnten nach 1948 entstand aus der Nakba keine vereinte palästinensische Nationalbewegung. Palästinensische Aktivisten orien-tierten sich meist an den Bewegungen in ihren Aufnahmeländern, die einen breiteren ideologischen Ansatz verfolgten und sich nicht allein auf palästinensi-sche Fragen beschränkten. In Israel, wo die Palästinenser bis Dezember 1966 dem Militärrecht unterstanden und offen arabische Parteien, wie die panarabische nationalistische al-Ard-Bewegung, verboten waren, wendeten sie sich der binati-onalen, jüdisch-arabischen Linken zu, der Israelischen Kommunistischen Partei.

In der Westbank, in Jordanien, im Libanon und in Syrien wurden Aktivisten von panarabischen Parteien wie der Baath-Partei angezogen, von der pansyrischen Ideologie der Syrischen Sozial-Nationalistischen Partei, von linken Gruppierungen wie der Jordanischen Kommunistischen Partei oder – wie diejenigen, die der Arabischen Nationalbewegung beitraten – von der panarabischen Philosophie des ägyptischen Präsidenten Jamal Abdel Nasser. Wieder andere Palästinenser wurden von den verschiedenen Regierungen, denen sie unterstanden, rekrutiert und arbeiteten mit in zionistischen Parteien wie der Arbeitspartei in Israel oder wurden Bürgermeister und Minister in der Regierung Jordaniens und der Westbank. Die ersten Anzeichen einer grenzüberschreitenden, rein palästinensischen Natio-nalbewegung entstanden in den späten 1950ern unter den Flüchtlingen in den Golfstaaten. Hier kam es zu einer folgenreichen Auswirkung der Nakba von 1948 auf die palästinensische Politik: Die Entstehung einer panpalästinensi-schen Bewegung, die von Flüchtlingen gegründet und geführt wurde und in den

Palästina und die Palästinenser

Flüchtlingslagern sowie anderen Zentren palästinensischen Lebens im Exil zu Hause war. Die Bewegung nannte sich al-Fatah. Ihre Ziele waren recht einfach:

bewaffneter Kampf bis zur Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Häuser und auf ihr Land in Israel; Übernahme von Eigenverantwortung anstatt arabischen Parteien und Regimen den Kampf zu überlassen sowie Neutralität in den erbitterten innerarabischen Fraktionskämpfen um Pro-Nasser- und Anti-Nasser-Gruppie-rungen. Die Tatsache, dass die Aktivisten der Fatah – einschließlich ihres Führers Jassir Arafat – mehrheitlich aus traditionellen, kleinbürgerlichen und muslimi-schen Milieus stammten, führte dazu, dass die Fatah sich generell weder dem militanten Säkularismus linker Bewegungen anschloss (von denen einige einen unverhältnismäßig hohen Anteil an christlichen Mitgliedern hatten) noch einer gesellschaftlichen Revolution innerhalb der arabischen Gesellschaft, die viele Linke mit dem nationalen Kampf gegen Israel verknüpften. Ihre Herkunft prägte den insgesamt konservativen, traditionalistischen und islamischen Charakter der Fatah über die Jahrzehnte.

Die vernichtende arabische Niederlag im Juni 1967 und das Scheitern der Führungsansprüche Nassers und anderer arabischer Führer ließen die Popula-rität der Fatah und anderer von Flüchtlingen nach dem Krieg gegründeter paläs-tinensischer Widerstandsbewegungen unmittelbar steigen. Dazu gehörten die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP, geführt von George Habash) und die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP, geführt von dem Jordanier Nayif Hawatmeh). Diese Guerillaorganisationen griffen die traditionellen Führer der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) an, einer rein palästinensi-schen Organisation, die von Nasser und den arabipalästinensi-schen Regimen 1964 gegründet worden war. Erst 1969 übernahmen sie die Macht. So wurde Arafat zum Vorsit-zenden sowohl der Fatah als auch der PLO.

Während die Aktivisten der PLO aus allen Schichten der palästinensischen Gesellschaft kamen und ihre Finanzierung unter anderem von reichen paläs-tinensischen Geschäftsleuten ausging, stammten ihre Anhänger meist aus den armen Flüchtlingsbevölkerungen innerhalb der arabischen Welt, in der Westbank und im Gazastreifen. In den langen Jahren, in denen die PLO die Agenda palästi-nensischer Politik bestimmte und sich ihre Ideologie und ihre Strategien verän-derten, repräsentierte sie stets die Erfahrungen palästinensischer Flüchtlinge in einer Post-Nakba-Welt. Dazu zählten das Beharren auf der Errichtung eines palästinensischen Staates und dem Rückkehrrecht, das Vertrauen nur auf sich selbst, der bewaffnete Kampf, die Formulierung einer rein palästinensischen Identität und Bewegung und das Misstrauen gegenüber den Machenschaften der arabischen Regime.

Yezid Sayighs Untersuchungen18 haben gezeigt, dass die Entstehung einer bewaffneten nationalen Befreiungsbewegung im Exil die Entwicklung und die

18 Yezid Sayigh, Armed Struggle and the Search for State: The Palestinian National Movement, 1949-1993, Oxford: Clarendon Press, Oxford University Press, und das Institute for Pales-tine Studies 1997.

Palästina und die Palästinenser Michael R. Fischbach die katastrophe von 1948 – Wie die nakba die Geschichte der Palästinenser beeinflusst hat

karte 8: arabischer und jüdischer Bevölkerungsanteil in den einzelnen regionen Palästinas (1944)

Quelle: Bernard Wasserstein, Israel und Palästina – Warum kämpfen sie und wie können sie aufhören?, München, C.H. Beck Verlag 2003, © Peter Palm

Palästina und die Palästinenser

Strukturen palästinensischer Führungsorgane über Jahrzehnte geprägt hat, insbesondere in der Fatah. Die Tatsache, dass nationale Führungsstrukturen als Teil einer militärischen Bewegung entstanden, hilft uns, den Aufbau und die Handlungen der Fatah, der PLO und nach 1994 der durch den Osloer Friedens-prozess eingesetzten Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) zu verstehen.

Trotz der Existenz von Nationalräten und anderer dekorativer Symbole einer Demokratie, leitete Arafat alle drei Gremien autoritär und verschwiegen, fast wie ein General. Im Laufe der Zeit wurden Personenkult, Nepotismus, Korruption, der Einsatz von Sicherheitsdiensten und der Mangel an Rechtsstaatlichkeit zu typischen Charakteristika des politischen Lebens in Palästina – und das trotz der Entwicklung einer aktiv gegen diese Tendenzen angehenden, funktionierenden Zivilgesellschaft unter den Palästinensern.

Selbst der wichtigste Richtungswechsel in der palästinensischen Politik zeugt noch von den Auswirkungen der Nakba: Die Verschiebung des Schwerpunktes nationaler Bemühungen von einer bewaffneten Volksbewegung für die Befreiung ganz Palästinas in den 1970er- und 1980er-Jahren hin zu einer diplomatischen Lösung durch die Schaffung eines palästinensischen Staates in der Westbank und im Gazastreifen. Da Israel – anders als in den Gebieten, die unmittelbar nach 1948 unter seine Kontrolle fielen – nach der Eroberung der Westbank und des Gazastreifens das durchgängig arabische demografische Profil der beiden Terri-torien nicht sofort veränderte, waren diese 22,8 Prozent des Mandatsgebietes Palästina der einzige Teil des Landes, in dem immer mehr Aktivisten der PLO eine Chance für einen zukünftigen, arabisch-palästinensischen Staat sahen. Das Scheitern des bewaffneten Kampfes um die Befreiung der Gebiete von 1948 (d.h.

Israels) und die oft herben Rückschläge, die der PLO von arabischen Regimen beigefügt wurden, verschob den Schwerpunkt der palästinensischen Politik auf die Westbank und den Gazastreifen. Dieser strategische Richtungswechsel war jedoch in all seinen Dimensionen äußerst kontrovers und spiegelte die zerrissene politische Wirklichkeit der Palästinenser nach der Nakba wider. Für die außer-halb der beiden besetzten Gebiete lebenden Flüchtlinge bedeuteten die Aufgabe oder die Mäßigung des bewaffneten Kampfes um eine vollständige Befreiung und die Aufnahme diplomatischer Gespräche zur Schaffung eines Staates in der Westbank und im Gazastreifen einen Verrat an der früheren Vision der PLO von der vollständigen Befreiung und Rückkehr der Flüchtlinge in die Heimat ihrer Vorfahren in Israel.

Israels) und die oft herben Rückschläge, die der PLO von arabischen Regimen beigefügt wurden, verschob den Schwerpunkt der palästinensischen Politik auf die Westbank und den Gazastreifen. Dieser strategische Richtungswechsel war jedoch in all seinen Dimensionen äußerst kontrovers und spiegelte die zerrissene politische Wirklichkeit der Palästinenser nach der Nakba wider. Für die außer-halb der beiden besetzten Gebiete lebenden Flüchtlinge bedeuteten die Aufgabe oder die Mäßigung des bewaffneten Kampfes um eine vollständige Befreiung und die Aufnahme diplomatischer Gespräche zur Schaffung eines Staates in der Westbank und im Gazastreifen einen Verrat an der früheren Vision der PLO von der vollständigen Befreiung und Rückkehr der Flüchtlinge in die Heimat ihrer Vorfahren in Israel.

Im Dokument Palästina und die Palästinenser (Seite 50-64)