• Keine Ergebnisse gefunden

Soziale Transformationsprozesse in Palästina

Im Dokument Palästina und die Palästinenser (Seite 88-107)

Während Palästina im 20. Jahrhundert als eigenständige Verwaltungseinheit neu entstand, war das Palästina des 19. Jahrhunderts in seinen kulturellen und gesell-schaftlichen Mustern ein Fortsatz der syrischen Provinzen des osmanischen Westasien.1 Zu diesen Mustern zählten ökologische Strukturen, Grundbesitz und Ernteregelungen, der Gegensatz zwischen Lebensräumen in Küstengebieten und im Hochland gelegenen Städten, Land-Stadt-Dichotomien sowie wirtschaftlich relativ autarke Dörfer.

Wie Anatolien, Syrien und die libanesischen Berge wurde auch Paläs-tina zahlenmäßig von einer autonomen Bauernschaft bestimmt sowie von einem bäuerlichen Steuersystem (als Ersatz für das frühere feudale Timar-Le-henssystem) und von der klaren Unterscheidung zwischen einer städtischen Kaufmannskultur und der gemeinschaftlichen Organisation der landwirtschaft-lichen Produktion auf dem Lande. Nach den wenigen erhaltenen Quellen aus dieser Zeit waren das gesellschaftliche Leben und das Bewusstsein eindeutig orts- und verwandtschaftsorientiert. Städte und Dörfer waren eingebunden in Protektionsbeziehungen und vermeintliche Gruppenzugehörigkeiten.

Der Zeitpunkt von Palästinas Eintritt in die Moderne, im Sinne einer Integra-tion in die globale Wirtschaft und einer starken Beeinflussung durch technologi-sche Neuerungen aus Europa, wird unterschiedlich gesetzt: mit dem Einmarsch der napoleonischen Truppen um die Jahrhundertwende, mit dem ägyptischen Feldzug Ibrahim Paschas (1831-1840) oder häufig mit der Einführung der osmani-schen Verwaltungsreformen von 1839 und der Kommerzialisierung des Bodens im Gesetzbuch von 1858. Diese Zeitpunkte markieren jedoch lediglich verwal-tungstechnische Eingriffe in bereits vorhandene gesellschaftliche und ökono-mische Netzwerke. So spricht z.B. Beshara Doumani in seiner Studie zu Handel und Landbesitz in Zentralpalästina von Protektionsbeziehungen zwischen Großgrundbesitzern und Bauern, trotz der osmanischen Dekrete.

1 Diese Analyse stützt sich auf meinen längeren Aufsatz Palestinian Society, erschienen in:

The Encyclopedia of the Palestinians, Philip Mattar (Hrsg.), Facts on File, New York 2000.

Für Einzelheiten und Verweise sei auf diesen Artikel verwiesen.

Palästina und die Palästinenser Salim Tamari konfliktreiche moderne – soziale transformationsprozesse in Palästina

karte 9: die Verwaltungseinteilung in Palästina in spätosmanischer zeit

Quelle: Bernard Wasserstein, Jerusalem. Der Kampf um die heilige Stadt, München, C.H. Beck Verlag 2002,

© Peter Palm

Palästina und die Palästinenser

Gegen Ende der osmanischen Herrschaft hatte das scheinbar unveränder-liche palästinensische Dorf Umwälzungen erlebt, die sowohl das Erscheinungs-bild der Dörfer als auch die Beziehungen zu den Machthabern in den Städten veränderten. Die Jahrhundertwende brachte einen Rückgang nomadischer Einfälle in die Bauernschaften, ein starkes Bevölkerungswachstum auf dem Land und den Bau eines zwar rudimentären, aber effektiven Transportnetzes, das die Dörfer mit den regionalen Zentren und entfernteren Absatzmärkten verband.

Strukturell wurden in diesen Jahren sowohl das Grundbesitzsystem als auch die landwirtschaftliche Produktion radikal verändert: Vom gemeinschaftlichen Besitz des Bodens zu privatem Grundbesitz durch Auswärtige; von der Subsistenzwirt-schaft zur Monetarisierung, Massenproduktion und dem Export landwirtSubsistenzwirt-schaft- landwirtschaft-licher Erzeugnisse.

Das Dorf blieb zwar Einkommens- und Machtquelle, nicht jedoch Sitz der Machthabenden. Großgrundbesitzer, Steuerpächter, Funktionäre, Kunst-handwerker, Händler und Honoratioren lebten sämtlich in den vier oder fünf wichtigen städtischen Zentren. Sie bildeten eine privilegierte Elite, die ihre Vormachtstellung in Palästina festigte. Trotz dieser Status- und Einkommens-unterschiede war die palästinensische Gesellschaft durch Verwandtschaft oder Pseudo-Verwandtschaft gegliedert, wobei Klassenunterschiede kaum erkennbar waren. Und obwohl der Stadt-Land-Gegensatz das palästinensische Bewusstsein bestimmte, wurde dieses Bewusstsein außerhalb der lokalen Gemeinschaften (wie in der Volksdichtung deutlich wird) durch andere, als primär aufgefasste Identifikationen erzeugt: vor allem durch regionale Loyalitätsbeziehungen, religiöse Verbindungen und Familienzugehörigkeiten. Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Landbevölkerung in Palästina mit wenigen Ausnahmen in Gruppen aufgeteilt, die auf Clanzugehörigkeit und Abhängigkeits-beziehungen mit städtischen Großgrundbesitzern und Honoratioren basierten.

der niedergang der ländlichen autonomie

Eine unmittelbare Folge der osmanischen Reformen im Palästina des 19.

Jahrhunderts war der Niedergang der ländlichen Autonomie. Er war die Konse-quenz verschiedener Verwaltungsbestimmungen (angefangen mit dem Landge-setz von 1858), die der Regelung des Grundbesitzes dienten. Sie förderten die Auflösung des gemeinschaftlichen bäuerlichen Besitzes von Dorfland (musha) und die Zunahme nicht ansässiger Großgrundbesitzer. Da die Reformen jedoch darauf abzielten, die landwirtschaftliche Produktivität zu erhöhen, hatten sie auch andere, stabilisierende Folgen. Dazu zählten die Sicherheit der Landbe-wohner vor Plünderungen, ein starkes Wachstum der Stadtbevölkerung und der Anschluss der Region an ein Netz von Transportwegen und an das Eisenbahn-system. Außerdem trugen die osmanischen Verwaltungsreformen zur Trennung des sanjak (Bezirk) Jerusalem (wo nach dem ersten Weltkrieg die Mehrheit der Bevölkerung Palästinas lebte) von den nördlichen sanjaks Akko und Nablus bei (die das beste Ackerland hatten). Anders als die wichtigsten städtischen Zentren

Palästina und die Palästinenser Salim Tamari konfliktreiche moderne – soziale transformationsprozesse in Palästina

Quelle: Böhme/Kriener/Sterzing, Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konfliktes, Schwalbach/Ts., Wochenschau Verlag 2009, 4. vollst. überarb. und akt. Aufl.

karte 10: Palästina unter britischer mandatsherrschaft

Palästina und die Palästinenser

Palästinas war Jerusalem damit von seinem ländlichen Umfeld abgeschnitten.

Seine Elite bestand meist nicht aus Großgrundbesitzern und es gab auch keine organisierte Form der politischen Interaktion zwischen der Stadt und Land.

Zwei Auswirkungen der verwaltungstechnischen Isolation Jerusalems auf die Clanpolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollen hier genannt werden:

Die relative Unabhängigkeit und die privilegierte Stellung der Jerusalemer Honoratioren durch ihre direkte Verbindung zur Hohen Pforte in Istanbul.

Diese Unabhängigkeit wurde gefördert durch das (mit offenkundig imperi-alistischen Ambitionen vermischte) Interesse der europäischen Staaten an der Heiligen Stadt. Diese relative Autonomie hatte jedoch auch eine deutlich negative Auswirkung auf das politische Leben im südlichen Palästina. Die Stellung der lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen im Bildungs- und Sozialbereich war – verglichen mit den nördlichen Bezirken und Damaskus, wo derartige Verbände starke Positionen innehatten – eher schwach, eine Folge der starken Abhängigkeit Jerusalems von der Zentralregierung. Die damalige Sozialwirtschaft Jerusalems kann aufgrund ihrer Abhängigkeit von religiösen Stiftungen und internationalen Wohlfahrtsorganisationen und ihren schwachen Verbindungen mit dem ländlichen Umfeld als «parasitäre Sozialstruktur» bezeichnet werden.

Eine verschärfte Rivalität zwischen Jerusalemer Familien und Familien aus Nablus. Dies war die zweite Folge des verwaltungstechnischen Separatismus, jedoch reichen die Wurzeln dieses Konflikts zurück bis vor die Reformen.

Traditionell klagten Honoratioren aus dem Norden über ihre Abhängig-keit von den «Launen der Effendis in Jerusalem» – wie es der Nabluser Historiker Ihsan al-Nimr ausdrückt. Diese Feindseligkeiten blieben sogar nach der Vereinigung Palästinas unter dem britischen Mandat erhalten.

Jahrzehnte später stieß die einzige panarabische Massenbewegung, al-Isti-qlal (Unabhängigkeit), bei ihrer Mobilisierung palästinensischer Araber für ihr antizionistisches und antiimperialistisches Programm unvermeidlich auf den Widerstand der Jerusalemer Familien der Husseinis und der Nascha-schibis. Das lag einmal daran, dass der Führer der al-Istiqlal-Bewegung, Awni Abdul-Hadi, einer Familie von Großgrundbesitzern aus dem Bezirk Jenin (Nablus) entstammte, vor allem aber daran, dass das Programm von al-Istiqlal sich gegen Parteien wandte, die auf Clans und Familien basierten.

Die beiden wichtigsten Führer von al-Istiqlal, Abdul Hadi und Muhammad Izzat Darwazeh, sahen Palästina als Teil einer größeren syrischen Heimat.

Die Macht einer Familie scheint auf zwei eng miteinander verknüpften Faktoren zu beruhen. Einmal auf der Anzahl der Personen, die ein Clanoberhaupt bei Strei-tigkeiten mit anderen Familien mobilisieren konnte. Dies hing zumindest bei den Bauern davon ab, wie viel Land sie kontrollierten, sowie von dem komplexen Protektionssystem mit Teilpächtern und semi-autonomen Bauern, und auch ihre Finanzkraft als Kreditgeber spielte in einer zunehmenden Geldwirtschaft eine

Palästina und die Palästinenser Salim Tamari konfliktreiche moderne – soziale transformationsprozesse in Palästina

Rolle. Der zweite Faktor war der Zugang der Oberhäupter und ihrer Verwandten und Gefolgsleute zu öffentlichen Ämtern, d.h. die Fähigkeit, Anhängern als Gegenleistung für ihre Unterstützung in Konkurrenzkämpfen (einschließlich Kommunalwahlen, die unter dem britischen Mandat zu einer wichtigen Arena für Rivalitätskämpfe wurden) bestimmte Dienste zu erweisen.

Die auf diesem Protektionssystem beruhende Macht über die Bauern und die Festigung dieser Macht mit Hilfe eines öffentlichen Amts stärkte sich wechsel-seitig. Einflussreiche Dorfpatriarchen, denen es gelungen war, sich nach Auflö-sung des musha-Systems umfangreichen Grundbesitz zu sichern, sandten einige ihrer fähigeren Söhne oder Verwandten in die regionalen Zentren, um sich dort zu etablieren, oder sie ergriffen selbst ein öffentliches Amt. Manche meinen, die Macht dieser Potentaten lasse sich an ihrer Übersiedlung vom Land in das regio-nale Zentrum ablesen.

Nicht immer jedoch war Grundbesitz unter semifeudalen Bedingungen (die Verpachtung von Land an Teilpächter durch den wakil, den Makler des Grund-besitzers) eine notwendige Voraussetzung für die Machtausübung. In Paläs-tina gab es Fälle, in denen sich die Macht eines Clans fast ausschließlich auf die Ausübung eines öffentliches Amtes gründete, also auf die Fähigkeiten einzelner Mitglieder, sich in den Dienst des Staates zu stellen. Grundbesitz und kaufmän-nische Aktivitäten waren hier zweitrangig. So war es z.B. beim Clan der Nascha-schibis, die nach den Husseinis zu den wichtigsten Anwärtern auf die nationale Führung zählten.

Die zionistische Bewegung und ihre Erfolge beim Aufbau moderner und unabhängiger jüdischer Institutionen sowie die Unfähigkeit der Kolonialre-gierung, die nationalistischen Ansprüche der Palästinenser zu befriedigen, zwangen die einzelnen Clans in eine für sie ausgesprochen ungeeignete Rolle.

Zwar konnte die arabische Führung die Massen gegen die koloniale Präsenz der Briten und für den Unabhängigkeitskampf mobilisieren, die Verdrängung der jüdischen Kolonien hätte jedoch eine vollkommen andere Strategie erfordert, welche die Nationalbewegung in einen langwierigen Kampf und eine Klassen-gesellschaft gezwungen hätte, die das Protektionssystem, auf dem ihre Macht basierte, höchstwahrscheinlich zerstört hätte.

Paradoxerweise stärkte der umfangreiche koloniale Staatsapparat nach dem Ersten Weltkrieg die Position der «führenden Familien» in Palästina, da es keine alternativen zwischengeschalteten Machtstrukturen gab. Sie wurden zu Vermitt-lern des Staates gegenüber den ländlichen Massen und der armen Stadtbevöl-kerung sowie zu deren Vertretern (oder vielmehr Wohltätern) gegenüber der Zentralmacht. Die Reaktion der traditionellen Führung auf die Revolte von 1936 zeigt sowohl die Grenzen als auch die Stärken dieses Clansystems.

Die spontanen Bauernaufstände zu Beginn der Revolte zwangen die beiden großen nationalistischen Parteien, die Arabisch Palästinensische Partei (des Husseini-Clans) und die Nationale Verteidigungspartei (des Naschaschibi-Clans), sich im Obersten Arabischen Komitee zusammenzuschließen. Beide Clans repräsentierten dieselbe Klasse (wenn man diesen Begriff hier verwenden

Palästina und die Palästinenser

kann) und beide liefen Gefahr, ihre Privilegien zu verlieren, falls die unabhän-gigen Bauern auch nur zeitweilig die Oberhand gewinnen würden. Die engeren Verbindungen der Husseinis zum Land, al-Haj Amins Rolle als Mufti von Jerusalem und die Kollaboration der Verteidigungspartei mit den britischen Behörden in der Vergangenheit führten dazu, dass die Naschaschibis im Komitee eine untergeordnete Rolle spielten.

Dieser Zusammenschluss schien das Ende der Clanpolitik einzuläuten.

Tatsächlich wurde sie auf der nationalen Führungsebene jedoch nur zeitweilig ausgesetzt. Die institutionellen Bindungen der hierarchischen, vertikalen Allianzen blieben erhalten.

die entstehung neuer eliten

Während die alten, auf osmanischen und britischen Verwaltungszonen basie-renden Bezirke in Palästina an Bedeutung verloren, entstanden neue regionale Aufteilungen, bedingt durch die Integration der regionalen Wirtschaft in den europäischen Markt. Die kolonialen Einflüsse trugen auch zur Entwicklung einer modernen Infrastruktur bei, hauptsächlich aus militärstrategischen Gründen.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs besaß Palästina den größten Pro-Kopf-Anteil an Eisenbahnverbindungen im Nahen Osten, obwohl die wirtschaftlichen Auswirkungen der modernen Verkehrsmittel nicht so dramatisch waren wie in Ägypten.

Der Bau der Bahnlinie Jaffa-Jerusalem (später Jerusalem-Haifa mit Verbin-dung zur Hedschas-Bahn), das Wachstum des europäischen Marktes für Zitrus-früchte und die Ausbreitung von Lohnarbeit durch die britische Kriegsbeteiligung und die Beschäftigung von Palästinensern in den Kolonialbehörden führten zum Niedergang der agrarischen Subsistenzwirtschaft und den damit verknüpften, semi-feudalen Beziehungen.

Viele in den großen Städten lebende Großgrundbesitzer und einige Funktio-näre, deren Reichtum nicht auf Grundbesitz gründete, begannen, ihre landwirt-schaftlichen Gewinne in den Ex- und Import und die Konsumgüterindustrie zu investieren. Ein im Jahr der Revolte 1936 entstandener Bericht der Royal Commis-sion widersprach dem vorherrschenden Bild einer kraftstrotzenden, modernen jüdischen Industrie, die den hauptsächlich auf Handwerk basierenden arabi-schen Sektor in den Schatten stellte. Er stellt fest, dass «die arabische Industrie ebenso vielfältig ist [wie die jüdische] und aus einigen großen und zahlreichen kleineren Unternehmen besteht, die im Ganzen einen beträchtlichen Beitrag zur Industrie Palästinas leisten.» Zu den wichtigsten urbanen Industrien im arabischen Sektor gehörten die Seifenproduktion, Getreidemühlen und das Textil- und Baugewerbe. Auch der auf Zitrusplantagen in Jaffa, Gaza und den Regionen von Ramla-Lydda basierende Agrarkapitalismus boomte während der Mandatszeit. Die Olivenölproduktion war der wichtigste Produktionszweig auf dem Lande. Hier investierten reiche Bauern und Großgrundbesitzer ihr Kapital, obwohl die Techniken meist recht primitiv blieben.

Palästina und die Palästinenser Salim Tamari konfliktreiche moderne – soziale transformationsprozesse in Palästina

So entstand in den Küstenstädten Gaza, Jaffa und Haifa – den Toren nach Europa am Mittelmeer – eine neue Kaufmanns- und Unternehmerklasse.

Begleitet wurde diese Entstehung einer Bourgeoisie von wichtigen demografi-schen Veränderungen. Die Bevölkerung insbesondere der Küstenstädte wuchs enorm. Schon vor der Mandatszeit war Jaffa die am schnellsten wachsende Stadt gewesen. Allein zwischen 1880 und 1922 war sie um das Vierfache gewachsen und zum wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum des arabischen Palästina geworden. In den 1930er-Jahren setzte eine massive Landflucht ein – Spiegel der zunehmenden Arbeitsmöglichkeiten in den Städten sowie der steigenden Zahl überflüssig gewordener Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Es entstand eine neue Dichotomie zwischen den wichtigsten Küstenstädten – den Zentren des Handels, der Presse und der Literaturmagazine sowie der jüdischen Einwande-rung – und den Städten im Bergland (Nablus, Safad und Hebron), den Zentren des Konservativismus und der traditionellen Führung. Anders als die Großgrund-besitzer trat die palästinensische Bourgeoisie in dieser Zeit nicht als eigene Klasse auf. Das lag an der Zusammensetzung der Kaufmanns- und Industriellenfami-lien in Palästina. Wie in den umliegenden arabischen Staaten hatte die paläs-tinensische Bourgeoisie enge verwandtschaftliche und soziale Verbindungen zum Land. Industrielle, die keine Grundbesitzer waren, hatten entweder Protek-tionsverbindungen mit letzteren oder waren durch Heirat mit ihnen verbunden.

Außerdem investierten die meisten Grundbesitzer ihre Gewinne entweder in Immobiliengeschäfte, Bauvorhaben oder in «gekaufte» Ämter für ihre Söhne (z.B. durch Heirat) – sämtlich keine produktiven Zweige.

So brachte dieser Differenzierungsprozess keine nennenswerte produzie-rende Klasse hervor. Die urbanen Eliten, die Großgrundbesitzer und die städti-schen Honoratioren hatten keinerlei Kontrolle über den kolonialen Staatsap-parat. Wegen der starken Konkurrenz des autonomen jüdischen Sektors (der, mit Ausnahme der Boykottzeit, ungehinderten Zugang zu den arabischen Verbrau-chern hatte) waren die äußeren Bedingungen für ein Wachstum der arabischen Bourgeoisie nicht gegeben. Nur ein sehr geringer Teil des landwirtschaftlichen Überschusses wurde in die produzierende Industrie investiert. Nur wenige Geschäftsleute mit Grundbesitz investierten in die Produktion (wie die Seifenfa-brikantenfamilie al-Masri in Nablus). Sie waren in ihrer Gesamtheit nicht in der Lage, ausreichend Arbeitsplätze für die Massen der enteigneten Bauern, Landar-beiter und städtischen ArLandar-beiter zu schaffen. Darüber hinaus waren diese Unter-nehmer zu eng mit den Grundbesitzern verbunden, um ein eigenes Bewusstsein und eine eigene Ideologie zu entwickeln. Trotzdem zeigen jüngere Untersu-chungen über palästinensische Firmeninvestitionen an der Küste die Entste-hung einer lebendigen städtischen Unternehmerklasse in den 1940er-Jahren, mit engen Verbindungen zu libanesischen, syrischen, ägyptischen und europä-ischen Firmen.

Palästina und die Palästinenser

flucht und zersplitterung

Als es schließlich 1948 zum direkten Zusammenstoß zwischen zionistischen und arabischen Streitkräften kam, wurden die Folgen der internen Streitigkeiten deutlich. Die vertikale Teilung der palästinensischen Gesellschaft, auf der die in den 1930er- und 1940er-Jahren vorherrschende, politische Struktur basierte, wurde von außen zerschlagen, was zur Vertreibung sowohl der ländlichen als auch der urbanen Gemeinden führte. (So sank z.B. die Zahl der arabischen Einwohner von Haifa innerhalb einer einzigen Woche aufgrund der Flucht von 80.000 auf wenige Tausend).

Während der ersten regionalen Zusammenstöße zwischen Juden und Arabern Ende 1947 und Anfang 1948 war ein Großteil der palästinensischen Elite (Grundbesitzer, Geschäftsleute und Fachkräfte) unter den Zehntausenden von Arabern, die das Land verließen. Da in der palästinensischen Gesellschaft eine außerparlamentarische Institution (wie etwa die Jewish Agency) fehlte, die den Widerstand koordinieren und die von ihren Eliten verlassene Gesellschaft stützen konnte, war das Scheitern ihrer politischen Ziele unvermeidlich. Neben der flächendeckenden Bombardierung von Städten wie Jaffa, Lydda und Ramlah war dieser Exodus ein entscheidender Faktor für den Zusammenbruch der paläs-tinensischen Gesellschaft und die Massenflucht aus den Städten und Dörfern.

Angesichts der umfangreichen Vertreibungen, denen die palästinensische Gesellschaft seit 1948 ausgesetzt war, und des Verschwindens der Protektions-strukturen, auf denen die Clanpolitik basierte, brauchen wir zum Verständnis dieser Veränderungen neue Kategorien. Obwohl die meisten der in Palästina verbliebenen Palästinenser auf dem Lande wohnten (in Galiläa, im Arabischen Dreieck und in der Westbank – nicht jedoch in Gaza), konnte diese Gemeinschaft nicht länger als bäuerliche Gesellschaft bezeichnet werden, d.h. als eine Gesell-schaft, die ihren Lebensunterhalt vor allem in der Landwirtschaft verdient und in der der familiäre Hof die wichtigste Einheit gesellschaftlicher Organisation bildet. Dies gilt besonders für den ländlichen arabischen Sektor in Israel, der rasch in die jüdische Wirtschaft eingebunden wurde und dessen einstige Bauern meist als Lohnarbeiter tätig waren. Die Clanpolitik hielt sich in den arabischen Dörfern lediglich aufgrund der externen Manipulationen durch die israelischen politischen Parteien. In den 1990er-Jahren jedoch lässt sich die Wiederbelebung von Clanstrukturen (in Israel) in vorgeblich nationalistischen und sozialistischen Parteien beobachten wie der Arabisch-Demokratischen Partei und der Demokra-tischen Front.

Eine Folge des Krieges war, dass die Bauern Palästinas auseinandergerissen wurden und sich in drei unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen wieder-fanden: Diejenigen, die im Staat Israel blieben und zu einer verborgenen Klasse von Landarbeitern wurden (etwa 25 Prozent); diejenigen, die in die benach-barten arabischen Staaten und die restlichen Regionen Palästinas flüchteten und dort ein Reservoir an Arbeitern im Umfeld der großen städtischen Zentren bildeten (Amman, Nablus, Beirut, Damaskus, Jericho und Ramallah), insgesamt

Palästina und die Palästinenser Salim Tamari konfliktreiche moderne – soziale transformationsprozesse in Palästina

40 Prozent; und schließlich diejenigen, die in ihren Dörfern in den Teilen Paläs-tinas blieben, die 1948 von Jordanien und Ägypten übernommen wurden – der Westbank und dem Gazastreifen – und deren Sozialstrukturen sich veränderten, da sie, wenn auch anders als die Flüchtlinge, in neue gesellschaftliche Strukturen eingebettet wurden – letztere bilden etwa 30 Prozent der Bauern.

Die städtischen Flüchtlinge, die sich hauptsächlich aus Handwerkern, Fachkräften, Grundbesitzern und der traditionellen Arbeiterklasse des

Die städtischen Flüchtlinge, die sich hauptsächlich aus Handwerkern, Fachkräften, Grundbesitzern und der traditionellen Arbeiterklasse des

Im Dokument Palästina und die Palästinenser (Seite 88-107)