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Wachstum und Entwicklung der palästinensischen Volkswirtschaft

Im Dokument Palästina und die Palästinenser (Seite 178-182)

Wirtschaftliche und humanitäre Folgen von Krieg und Blockade

2.1 Wachstum und Entwicklung der palästinensischen Volkswirtschaft

Vor dem Hintergrund der sich stetig abwechselnden Phasen der Abriegelung der besetzten Gebiete und der erneuten Lockerung der Restriktionen gegen den palästinensischen Güter- und Personenverkehr war das Wachstum der palästi-nensischen Ökonomie seit dem Beginn des Oslo-Prozesses in den 1990er-Jahren äußerst starken Schwankungen ausgesetzt. Dazu trug maßgeblich bei, dass sich die palästinensische Wirtschaft in den Jahrzehnten zuvor sukzessive asymmet-risch in den israelischen Markt integriert hatte. Im Rahmen des Oslo-Prozesses vertiefte sich die Abhängigkeit von der israelischen Ökonomie über die Kanäle Außenhandel und Arbeitsmigration noch weiter; ein neuer Faktor, die Abhängig-keit von internationalen Hilfen, kam in den 1990er-Jahren hinzu. Damit einher ging ein fortgesetzter systematischer Schwund der Produktionsbasis in den besetzten Gebieten und eine Deformierung der palästinensischen Wirtschafts-struktur.

Wie in der nächsten Abbildung zu sehen ist, konnte das Pro-Kopf-Einkommen in den besetzten Gebieten in den 1990er-Jahren unter dem Eindruck des Oslo-Prozesses zunächst stark zulegen, was der IWF in seinem jüngsten Bericht insbe-sondere dem wachsenden Vertrauen des privaten Sektors und dem tatkräftigen Aufbau von Institutionen der PA in diesem Zeitraum zuschreibt.9 Folgt man der Argumentation vieler anderer Autoren, wie zum Beispiel der von Sara Roy, die als erste den Begriff der «De-Entwicklung» der besetzten Gebieten prägte, stellte dieses Wachstum allenfalls eine durch den Zufluss umfangreicher finan-zieller Hilfen aus dem Ausland maskierte Entwicklung dar, von der nur wenige wirklich profitierten. Nach Einschätzung von Roy hat sich unter dem Oslo- oder

«Friedens-» Prozess in den 1990er-Jahren die wirtschaftliche Not der meisten Menschen in den besetzten Gebieten eher verstärkt als abgeschwächt; die wichtigsten Kennzeichen der De-Entwicklung in Form der Enteignung, asymme-trischen Integration und Schwächung der Institutionen haben sich in dieser Zeit nicht nur weiter beschleunigt. Die negativen Effekte der De-Entwicklung wurden

8 Ebenda S. 18. Siehe ebenso United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs – occupied Palestinian territory (UN OCHA), Protection of Civilians, 3.-9. November 2010, abrufbar unter www.ochaopt.org (18.11.2010), S. 2-3.

9 Siehe International Monetary Fund, Macroeconomic and Fiscal Framework for the West Bank and Gaza: Sixth Review of Progress – Staff Report for the Meeting of the Ad Hoc Liaison Committee, New York, 21. September 2010, abrufbar unter http://www.imf.org (30.10.2010), S. 17.

Palästina und die Palästinenser Anja Zorob trümmerfeld Gaza – Wirtschaftliche und humanitäre folgen von krieg und Blockade

zusätzlich verschärft durch die israelische Absperrungspolitik, die laut Roy das wichtigste Merkmal der Post-Oslo-Phase darstellt.10

Mit dem Ausbruch der Zweiten Intifada im September 2000 setzte eine dramatische Abwärtsentwicklung ein. Durch die vollkommene Abriegelung der besetzten Gebiete kam es zu einem massiven Einbruch der Exporte, die bereits zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich nach Israel gingen oder zumindest über den israelischen Markt abgewickelt wurden. Daneben blieben die Lohntransfers der in Israel tätigen palästinensischen Arbeitnehmer aus. Schließlich zückten die israelischen Finanzbehörden ihr mit dem Oslo-Prozess neu geschaffenes «Sankti-onsinstrument» und setzten die im Rahmen des Pariser Protokolls 1994 verein-barte Überweisung der Steuer- und Zolleinnahmen an die Finanzverwaltung der PA aus.11 Wie oben bereits erwähnt, trafen die neuen Restriktionen insbeson-dere Arbeitnehmer aus dem Gazastreifen, wo noch im Jahr 1999 13 Prozent der Beschäftigten ihren Arbeitsplatz in Israel hatten.12

abb.: entwicklung des Pro-kopf-einkommens im Westjordanland und in Gaza im Vergleich, 1994-2012

Quelle: International Monetary Fund, Macroeconomic and Fiscal Framework for the West Bank and Gaza: Sixth Review of Progress, September 2010, Figure 3, p.19.

Ab Ende 2002 wurden die Restriktionen auf den palästinensischen Güter- und Personenverkehr teilweise aufgehoben, und die israelischen Behörden nahmen die Steuertransfers wieder auf. Aufgrund der nur begrenzten Lockerung der

10 Ausführlicher siehe Sara Roy: De-development revisited: Palestinian Economy and Society since Oslo, in: Journal of Palestine Studies, Vol. 28, No. 3 (Frühjahr 1999), S. 64-82.

11 Siehe Zorob (2006), S. 3.

12 Siehe IMF (2010), S. 7.

Palästina und die Palästinenser

Restriktionen u.a. reichte das Wachstum jedoch nicht aus, um die Einbußen im Niveau des Pro-Kopf-Einkommens seit 1999 vollständig aufzuholen. Außerdem wurde das Wachstum dieser Jahre durch eine expansive Haushaltspolitik der palästinensischen Autonomiebehörde erkauft, die nur durch den Zufluss massiver externer Hilfen finanzierbar und daher aber langfristig nicht tragbar ist.13 Noch bevor der Boykott im Frühjahr 2006 begann, verlangsamte sich das Wachstum in den besetzten Gebieten wieder, da die israelischen Behörden diese während des einseitigen Abzugs aus Gaza vollständig abriegelten. Mit der Blockade gegen den Gazastreifen jedoch, die 2007 nochmals verschärft wurde, während Israel die Restriktionen gegenüber der Westbank maßgeblich lockerte, setzte eine gefähr-liche Entwicklung ein, die neben der politischen Spaltung unter den Palästi-nensern auch die wirtschaftliche Kluft zwischen dem Westjordanland und dem Gazastreifen weiter vertieft. Diese Entwicklung lässt sich an dem eklatanten Auseinanderdriften in der Entwicklung der beiden Gebiete in der vorigen Abbil-dung deutlich erkennen. Während das Pro-Kopf-Einkommen der Westbank seit 2007 kontinuierlich wächst und selbst unter «pessimistischen» Annahmen der Beibehaltung des gegenwärtigen Status quo in den nächsten Jahren um zumin-dest etwa 30 bis 40 Prozent über dem gemeinsamen Wert von 1994 liegen wird, schrumpfte es in Gaza auf gegenwärtig kaum mehr als die Hälfte dieses Wertes, womit sich das Worst-case-Szenario der Weltbank aus dem Jahr 2006 für den Gazastreifen schmerzhaft bewahrheitete.14 Unabhängig von der Frage, inwieweit das Westjordanland nach dem jahrzehntelangen Prozess der De-Entwicklung, rein auf die eigenen Kräfte gestützt, wirtschaftlich überleben könnte, scheint mit dieser wachsenden Kluft und der fortgesetzten Separation Gazas und des Westjordanlands die Idee eines zukünftigen palästinensischen Staates auf dem Territorium der beiden Gebiete in immer weitere Ferne zu rücken.

Für die Volkswirtschaft der besetzten Gebiete insgesamt hat sich die Defor-mierung der palästinensischen Wirtschaftsstruktur in den vergangenen Jahren vor dem Hintergrund von Absperrung und Blockade sowie dem Bau der Mauer zwischen Israel und dem Westjordanland und fortgesetzter Siedlungs- und Enteignungspolitik weiter vertieft. Bereits in den 1990er-Jahren führten unter-schiedliche Faktoren wie zunehmende nicht-tarifäre Beschränkungen im Zugang zum israelischen Markt, der Mangel eigener See- und Flughäfen, wachsende Probleme in der Belieferung der Nachbarländer und ein hoher Schekel-Wech-selkurs neben der schrumpfenden Produktionsbasis dazu, dass palästinensi-sche Produkte auf ausländipalästinensi-schem wie lokalem Markt an Wettbewerbsfähigkeit einbüßten. Die Blockade und der Bau der israelischen Sperranlage im Westjord-anland setzten diesem schleichenden Prozess die Krone auf und ließen die palästinensischen Exporte auf weniger als 15 Prozent des BIP in den

vergan-13 Siehe Zorob (2006), S. 4-5.

14 2006 hatte die Weltbank unter der Annahme der Aufrechterhaltung des Boykotts ein Worst-case-Szenario für die Entwicklung der gesamten palästinensischen Ökonomie aufgestellt, unter welchem das BIP pro Kopf um mehr als die Hälfte seines Wertes vor Ausbruch der Zweiten Intifada schrumpfen würde, siehe ebenda.

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genen Jahren im Vergleich zu ehemals 50 Prozent in den 1980er-Jahren absin-ken.15 Hauptdevisenbringer und finanzielle Stützen von Konsum und Investiti-onen wurden stattdessen ausländische Hilfen und die privaten Transfers der im Ausland arbeitenden Palästinenser.16

abb.: Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur der palästinensischen Volkswirtschaft, 1994-2008

Quelle: United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD), Report on UNCTAD Assistance to the Palestinian People: Developments in the Economy of the Occupied Palestinian Territory, 13. Juli 2010, Figure 3, p. 12.

Wie in der Abbildung oben zu sehen, haben Landwirtschaft und Industrie zur Mitte der 1990er-Jahre, trotz der fortschreitenden De-Entwicklungsprozesse, die vor allem Investitionen in die Landwirtschaft, aber auch die Industrie durch

15 Siehe International Monetary Fund, Macroeconomic and Fiscal Framework for the West Bank and Gaza: Fifth Review of Progress – Staff Report for the Meeting of the Ad Hoc Liaison Committee, Madrid (2010a), 13. April 2010, abrufbar unter http://www.imf.org (30.08.2010), S. 4.

16 Siehe United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD), Report on UNCTAD Assistance to the Palestinian People: Developments in the Economy of the Occupied Palestinian Territory, TD/B/57/4, 13. Juli 2010, S. 11.

Palästina und die Palästinenser

mannigfaltige Hemmnisse wie Enteignungen, Absperrungen in der Hauptern-tezeit, Konfiszierung und/oder Vernichtung von Brunnen oder übermäßige administrative Hemmnisse beim Aufbau von Unternehmen behinderten, zusammen noch zu einem Drittel zur Entstehung des BIPs beigetragen. Danach sank der Anteil der Industrie am Inlandsprodukt bis 2008 um etwa die Hälfte;

die Leistung der Landwirtschaft sackte noch stärker ab, womit der Beitrag der beiden Sektoren zum BIP letztlich auf unter ein Fünftel schrumpfte. Ausgeweitet haben sich im Gegensatz dazu vor allem die nicht-produzierenden Sektoren und hier insbesondere die öffentlichen Dienstleistungen, während die privaten Dienstleistungen, die in wesentlich geringerem Maße unter den oben genannten Restriktionen zu leiden haben, im gesamten Zeitraum fast konstant blieben.17

Dies zeigt, dass sich die Struktur der palästinensischen Ökonomie mittler-weile extrem stark auf den Dienstleistungssektor konzentriert, während die eigene Produktionsbasis und damit die Möglichkeit, sich mit landwirtschaftli-chen Erzeugnissen und Industriegütern zu versorgen und/oder diese zu expor-tieren, immer weiter schwindet. Auf der anderen Seite steigt die Abhängigkeit von vor allem israelischen Lieferanten immer weiter an, genauso wie jene von ausländischen Hilfen zur Finanzierung der Einfuhren. Einher ging diese «struk-turelle Deformation» des Weiteren mit einer massiven Verschlechterung der Produktivität in Landwirtschaft und Industrie. Im Gazastreifen aber mündete die quasi finale Stufe der De-Entwicklung durch Blockade und Krieg in den weitgehenden Zusammenbruch der formalen Ökonomie und in eine humani-täre Katastrophe.

2.2 Kennzeichen der humanitären Katastrophe und Vertiefung der

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