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Zweiter Probelauf: Das Broder-Ströbele-Interview73

Das ״ Ich schlafe“-Beispiel ist relativ einfach, wohl weil hier eine einfache, d.h.

nicht weiter zerlegbare Proposition zugrundeliegt - nicht weiter zerlegbar in dem Sinne, daß nicht einer der entstehenden Teile bei einer Zerlegung wieder eine Proposition darstellte. Etwas komplizierter wird dies aber, wenn eine komplexe Proposition vorliegt. Im folgenden soll ein solcher Fall diskutiert werden.

3.3.1 Während des Golf-Krieges erschien ein Interview zwischen dem damali- gen Sprecher der Grünen, Hans-Christian Ströbele, und Henryk M. Broder, in dem Ströbele sich in einer Weise äusserte, die ihn wenig später aufgrund des öffentlichen Drucks zum Rücktritt zwang. Die inkriminierte Passage ist die

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erste der drei Ströbele-Äusserungen.:

(Ströbele [1]): Die irakischen Raketenangriffe sind die logische, fast zwingen- de Konsequenz der Politik Israels

(Broder [2]): Also ist Israel selber schuld, wenn es jetzt mit Raketen beschos- sen wird?

-(Ströbele [3]): Das ist die Konsequenz der israelischen Politik den Palästinen- sem und den arabischen Staaten gegenüber, auch dem Irak gegen- über.

(Broder [4J): Sie finden es also richtig, daß Israel jetzt beschossen wird?

(Ströbele [5]): Nein, nicht jede Konsequenz muss von mir gebilligt werden. Ich stelle einfach fest. Israel hat eine Politik betrieben, die das zur Folge hatte, und das war vorhersehbar.74

woraufhin ein Sturm der Entrüstung durch die Presse ging, der Grünen-Spre- eher Ströbele habe Verständnis geäussert für die Kriegsführung des Irak gegenüber Israel. Die vermeintlichen oder tatsächlichen Auffassungen Ströbe- les dahingestellt ist im gegebenen Zusammenhang zunächst nur relevant, was der Sprecher gesagt hat und was ein gut- oder übelmeinender Interpret mit

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einer solchen Äusserung unternehmen kann.

Ich hätte für die ״ komplexe“ Analyse gerne ein russisch-sprachiges Beispiel gewählt, allerdings keines in meinem Material (aus der zweiten Hälfte der 80er־Jahre) gefun- den, anhand dessen so vieles gleichzeitig verdeutlicht werden kann, wie an dem hier vorgestellten deutschen Beispiel.

Zitiert nach Rothschild, Thomas: Die eigenen Fehler schmerzen. Ein unzeitgemäßer Versuch, Ströbele gegen Broder zu verteidigen, in: ״ freitag“ 2 1 / 9 1 vom 17. Mai 1991 (S.6).

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3.3.2 In Anbetracht dessen, was sich an Diskussion um diese Ströbele-Äusse- rung entspann, könnte zunächst von einer ״ Nominalisierungs-Missverständnis- Hypothese“ gesprochen werden. Dies betrifft das Verbalsubstantiv ‘Verstand- nis’, das nicht einfach nur eine Substantivierung des Verbs ‘verstehen’ sei, vielmehr unterschieden sich diese darin, daß ‘verstehen’ z.B. ein Verbum sei, mit dem eine intellektuelle Tätigkeit beschrieben werde, die in eine epistemi- sehe Einstellung münden könne, ‘Verständnis’ dagegen ein Substantiv, daß überwiegend zur Bezeichnung einer evaluativen Einstellung verwendet werde,

‘verstehen’ gehört also zu ‘begreifen’, ‘Verständnis(-haben)’ zu ‘gut-fínden’

(vgl. z.B. das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache von Klappenbach / Steinitz), womit sich der ganze Konflikt auf ein willentlich herbeigeführtes oder unwillentlich entstandenes Missverständis reduzierte. Dies mag eine Rolle gespielt haben, insbesondere je mehr sich die Diskussion ausweitete und je weniger dabei berücksichtigt wurde, was Ströbele tatsächlich gesagt hat. Aller- dings haben wir dabei nicht den Umstand bedacht, daß Ströbele nichts in der Art gesagt hat wie ״ Ich verstehe die irakischen...“ oder gar ״ Ich habe Ver- ständnis für die irakischen...“ Wenn wir uns nicht mit der Aufdeckung des Missverständisses beruhigen und ansonsten über die Macht der Presse staunen

• « im Satz enthaltene Proposition lautet: »Die irakischen Raketenangriffe sind die

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Konsequenz der israelischen Politik« - gegenüber der tatsächlichen Äusserung ist diese Proposition um die epistemisch-wertende ״ logische, fast zwingende“

AP zu ״ Konsequenz“ gekürzt. Im Prozess der Produktion versieht der Sprecher Ströbele diese Proposition mit einer epistemischen Einstellung ״ +wahr“ ; zum Ausdruck dieser Einstellung verwendet er Lexeme, die zugleich deutlich ma- chen sollen, daß er diese Einstellung nicht einfach hat, sondern daß er aufgrund einer Folgerungsprozedur zu dieser epistemischen Einstellung gelangt ist.

Eine volitionale Einstellung lässt er nicht einfliessen (diese Ebene bleibt nicht- parametrisiert) und auch die evaluative Einstellung ist, warum auch immer,

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nicht parametrisiert bei diesem Sprecher in dieser konkreten Äusserung. Dies könnte zum Beispiel darin begründet sein, daß man, streng genommen, logi- sehe Konsequenzen nicht gutheissen oder verhindern kann.

6 0 Dr e i Pa r a m e t e r, Sc h l a f e n u n d e i n e Fa l l s t u d i e

Und wenn der Linguist als Linguist an Orwell’s problem arbeiten will, so ist dies die Ausgangsfrage.

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Allerdings scheint auch eine Sichtweise durchaus plausibel, die besagt, daß, wenn einerseits die lexikalischen Kategorien mit Einstellungen versehen sein können oder müssen und andererseits komplette Äusserungen mit Einstei- lungen versehen sein müssen, dann wohl auch nicht prinzipiell auszuschliessen ist, daß die Zwischenebenen, sprich, maximale Projektionen wie ״ Die iraki- sehen Raketenangriffe [auf Israel]“ ebenfalls mit Einstellungen unter gewissen Voraussetzungen76 versehen sein können und zwar in diesem Falle gut / schlecht bzw. verhindern / zulassen, die dann in den eigentlichen Einstellungs- operator eingehen. Dies vorausgesetzt könnte man sagen, der Sprecher Ströbe- le hätte seine Proposition, die er als +wahr gekennzeichnet hat, durchaus auch evaluativ und volitional kennzeichnen können, er hat es aber nicht getan.

Warum nicht? Mir scheint aus zwei möglichen, sich nicht gegenseitig aus- schliessenden Gründen. Zum einen darf man, allgemeineren Gesetzmäßigkei- ten folgend, sicher auch bei Einstellungen von (der Möglichkeit von) Einstei- lungs-Defaults ausgehen, dessen Regel lauten könnte: wenn eine Proposition epistemisch und / oder evaluativ und / oder volitional parametrisiert sein muß, dafür aber sprecherseitig keine expliziten grammatischen oder grammatisch- lexikalischen Mittel eingesetzt werden, so gilt die jeweils positive Variante des entsprechenden Elementes.

3.3.4 Was nun bei der Ströbele-Äusserung passiert sein könnte wäre folgen- des: die Proposition ist von der Art, daß sie im genannten Sinne evaluativ zu besetzen ist. Da der Sprecher die Proposition, resp. die relevante Maximale Projektion innerhalb derselben (Die irakischen Raketenangriffe auf Israel) nicht explizit evaluativ belegt hat, gilt die default-Variante ״ Sprecher findet es gut“ . Für den Sprecher Ströbele (unterstellen wir) sieht es dagegen so aus, daß die Bombardierung von Menschen mit tödlichen Bomben prinzipiell negativ ist, weshalb es für ihn nicht nur nicht notwendig ist, dies explizit zu betonen, sondern nicht einmal wünschenswert, weil eine Betonung der negativen Be- wertung die Möglichkeit der positiven impliziert77. Bleiben wir der Einfachkeit

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Z.B. dann, wenn es sich um einen nominalisierten Satz handelt, der in nicht-nominali- sierter Form auch einen А -Operator hätte: allerdings scheint hier (wie wohl bei Nomen generell) der epistemische Parameter zu fehlen. Zu beachten ist dabei, daß mit dem Übergang des Satzes zum Nomen auch ein Wechsel vom Status Proposition zum Status Referenz verbunden ist, der üblicherweise als lexikalischer (oder konzeptueller), nicht als syntaktischer Vorgang begriffen wird, was wiederum Einfluss auf die Vererbbarkeit der А -Parameter haben mag.

W olfgang Klein hat sich 1985 in einer kleinen Arbeit mit dem Gedanken des rationa- len Diskurses und der idealen Kommunikationsgemeinschaft von Habermas und

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halber bei ״ (für Str.) prinzipiell undenkbar“ , so haben wir einen Konflikt zwi- sehen einem interpretatorischen default auf der einen Seite (nimm das jeweils positive Glied) und einer vielleicht individuellen Einstellung (eine positive Be- wertung der Bombardierung von Menschen ist prinzipiell ausgeschlossen), den Ströbele unklugerweise nicht vorausgesehen hat. Soweit erst einmal gekom- men können wir dann fragen, ob der Interviewer diesen Konflikt durch Nach- fragen vielleicht aufgelöst hat oder ob er ihn vielleicht sogar willentlich herbei- geführt hat.

3.3.5 Im Prinzip wäre dies eine durchaus befriedigende Lösung, die völlig in den Rahmen des OAI-Konzeptes passt (diese nicht unbedingt voraussetzt, aber problemlos in dieser funktioniert). Aus dem vorliegenden Beispiel lässt sich aber noch mehr Anschauungsmaterial gewinnen und zwar zu dem Verhältnis von OAI-Komplex zu dem komplexeren sprachlichen Handlungssystem78, in das die Äusserung eingebettet ist. Was der Interviewer, Henryk Broder, in dem Interview vorgegeben hat, war, eine Diskussion zu führen, die merkwürdiger- weise gerne als ״ akademisch“ bezeichnet wird: in der reinen Wahrheitsfindung haben Emotionen keinen Platz, Aussagen sind rein in Bezug auf ihre Wahrheit oder Falschheit zu bewerten, die Verknüpfung solcher Aussagen müssen streng logischen Kriterien genügen usw.- sprich, die Kommunikation läuft in einem

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Handlungssystem, das als solches ausschliesst, daß eine einzelne Äusserung innerhalb derselben z.B. evaluativ oder volitional belegt ist - das

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xy auseinandergesetzt. Als Einwand gegen den rationalen Diskurs schreibt er unter an- derem: derlichs Charakterisierung verwende ich diesen Terminus aber etwas enger; vgl. ״ Da- bei verstehe ich Handlungssysteme als Systeme von Konventionen* Erwartungen, Normen usf., die die verschiedenen verbalen Aktivitäten innerhalb spezifischer Insti- tutionen der Gesellschaft und damit auch innerhalb spezifischer Diskurstypen regulie- ren“ und nähere mich damit mehr dem bei Wunderlich relativ unspezifisch bleibenden Begriff des Diskurstyps (vgl. S. 122); Handlungssystem ist dann das innerhalb einer (recht allgemein zu verstehenden) Institution gegebene System von Konventionen, Normen, Erwartungen usw. relativ zu einem gegebenen Interaktionsziel. Dementspre- chend können innerhalb einer Institution mehrere Handlungssysteme figurieren.

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system bestimmt also die möglichen OAI-Belegungen mit, zum Teil gibt sie diese positiv vor, zum Teil schliesst sie bestimmte andere negativ aus. Wer sich den Anforderungen des Handlungssystems ״ akademischer Diskurs“ nicht unterwirft, gilt als unsachlich, fallt aus dem gesteckten Rahmen und der Ver- dammung anheim. Ströbele hat sich auf dieses Handlungssystem eingelassen, hat genau dessen Anforderungen erfüllt, hat seine Schlussfolgerung genau, wie vom Interviewer - insofern dieser das Handlungssystem vorgegeben hat - gefordert, evaluativ nicht belegt, wobei dies so weit ging, daß Ströbele selbst noch auf dem Handlungssystem ״ (pseudo-)akademischer Diskurs“ (Str.5: ״ Ich stelle einfach fest.“ ) beharrte, als Broder dieses nicht nur selbst bereits explizit verlassen hatte, sondern auch von ihm forderte, dies ebenfalls zu tun (Br 4:

״ Sie finden es also richtig, d a ß ...“)79.

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George Orwell war einem sehr ähnlichen Problem ausgesetzt - insofern befindet sich Ströbele nicht in schlechter Gesellschaft - , als er sich mit der Kriegsführung, insbe- sondere den Flächenbombardements gegen Nazideutschland auseinandersetzte und dabei jene Personen der britischen Öffentlichkeit der Heuchelei ״ of accepting force as an instrument while squealing against this or that individual weapon, or o f denouncing war while wanting to preserve the kind of society that makes war inevitable“ bezieh- tigte. Ähnlich, wie Ströbele unterstellt, argumentiert Orwell rein epistemisch: ״ I c a n ’t feel that war is *humanized* by being confined to the slaughter o f the young and be- comes 1barbarous' when the old get killed as well.“ und in diesem Sinne a-moralisch, aber nicht unmoralisch. Orwells Beiträge hierzu sind zu finden in Orwell: Collected Essays III; S. 179f; S. 213ff und 232.

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