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Erster Probelauf: Schlafen

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3.2.1 Regelhaft wird die Äusserung ״ ich schlafe“ als abweichend betrachtet, je nach spezieller Disziplin als ein notwendig unwahrer Satz oder als ein indirek- ter Sprechakt, der den Hörer zu gewissen Inferenzen nötigt usw. Mit dem bis- lang entwickelten Instrumentarium lässt sich der Satz in der Mehrzahl der Fälle als völlig normal interpretieren, der keinen Anlass für komplexere Operationen hörerseitig gibt.

Der zu versprachlichende Input wäre also:

(1) <[OAI] [R{ ich ) präd Í - * • schlaf- }]>

wobei die Aufgabe des Hörers wie des Linguisten darin besteht herauszufin- den,welche Belegung der linke Teil bei gleichbleibendem rechten Teil enthält.

Die hier vertretene These besteht nun darin, daß behauptet werden soll, daß ein Hörer in der Mehrzahl der Fälle die jeweilige Besetzung von OAI in genau derselben Weise und richtig identifiziert, wie er auch {ic h } und {schlafe} iden- tifiziert, der Verstehens- und Analyse-Vorgang ist grundsätzlich der gleiche.

Das bedeutet, daß in diesem Modell ein Hörer nicht zunächst die Proposition identifiziert und dann in einem speziellen Verarbeitungsmodul namens Prag- matik inferiert, daß die Proposition abweichenderweise so und so zu verstehen sei, sondern daß ein Hörer von vornherein das komplexe Ganze als solches analysiert.

Eine sehr einfache mögliche OAI-Besetzung wäre zum Beispiel:

(2) < [0 {+akt; +ich^ hier; - je tz t} A {...} I {_} ] [Ich schIafe]>TO

5 6 Dr e i Pa r a m e t e r, Sc h l a f e n u n d e i n e Fa l l s t u d i e

Meine russischen Mutterprachler haben eine analoge Analyse für ״ я сплю “ nur unter großen Vorbehalten als möglich akzeptiert. Da zunächst kein Unterschied bei R (ich / ja) und Präd (schlaf_ / spa_) besteht, kann der Akzeptabilitätsunterschied nur in der Selektion der Verbkategorien (Tempus, A spekt...) durch den OAI-Komplex herrüh- ren. Da nun aber das System der Verbkategorien einzelsprachlich ist - da nicht ausge- macht ist, daß alle universalen OAI-Elemente als Verb-Kategorien grammatikalisiert werden (vgl. den ±hier-Parameter) und da umgekehrt nicht alle Verbkategorien unbe- dingt grammatikalisierte OAI-Elemente darstellen müssen (z.B. Aspekt und Genus Verbi, die vermutlich besser als grammatikalisierte Formen der W irklichkeitsverarfoi- tung (also Rpräd) und nicht deren Wertung (OAI) beschrieben werden sollten - , muß ein Akzeptabilitätsunterschied auch nicht überraschen. Nichts anderes ergibt auch ein Versuch, die genannten OAI-Belegungen, in den englischen Versprachlichungen ״ I sleep“ vs.“ I’m sleeping“ wiederzufinden: das deutsche präsentische Verb ist im Un- terschied zum russischen wie englischen weniger festgelegt und hat daher ein weiteres Verwendungsspektrum, d.h., ist mit einer größeren Zahl von OAI-Belegungen kompa- tibel.

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Pr o b e l a u f Sc h l a f e n 5 7

In dieser Form wäre der Satz eine völlig korrekte Antwort auf die Frage ״Was machst Du heute abend?“ . Der Unterschied zu einer Interpretation ״ Der Hörer inferiert, daß hier das grammatische Präsens mit futurischer Bedeutung ver- wendet wird“ besteht darin, daß der Hörer hier gar nichts inferiert, nachdem er zunächst ״ ich“ und ״ schlafe“ identifiziert, eine Bedeutung erkannt und erkannt hat, daß diese Bedeutung in der vorliegenden Form nicht korrekt sein kann.

Vielmehr identifiziert er schlicht alle Elemente des Satzes, wobei ihm dies im Falle des Elementes [O {... -jetzt}] ganz besonders leicht fällt, da er dieses Element selbst genau so durch seine Frage gesetzt hat. Eine solche Sichtweise erscheint wesentlich einfacher gegenüber einer Sichtweise, die den Hörer erst inferieren lassen muss, daß der Sprecher von einer zukünftigen Handlung spricht, obwohl er, der Hörer doch explizit nach einer zukünftigen Handlung gefragt hat.

3.2.2 Dieser Fall mag als unproblematisch und dem Bedeutungsspektrum des Präsens entspringend angesehen werden, das ja auch für die habituelle Lesart von (״ Was machst Du üblicherweise nachts um drei?“-) ״ Ich schlafe“ verant- wörtlich zeichnet. Soll jedoch angenommen werden, daß ein Hörer etwa fragt

״Was tust Du gerade?“, setzt der Hörer also selbst die О-Relation auf {...

-•-jetzt}, so bleiben dennoch mindestens zwei sinnvolle OAI-Belegungen übrig, bevor man sich mit self-defeatings oder indirekten Sprechakten befassen müsste.

Diese wären:

Apresjan / M el’čuk / Žolkovskij: Materials bzw. (nur wenig modifiziert) M el’čuk / Žolkovskij: TKS geben in den Lexikon-Einträgen für спать nur an zwei Stellen Hin- weise auf eingeschränkte Verwendungsmöglichkeiten; so wird spat’2 (S. 428; TKS S.

794) erläutert als ״ ‘X sleeps, is sleeping with Y ’ = X and Y have sexual intercourse in normal conditions; not the moment o f speech“ (Hervorhebung von mir HD), was also für das Präsens nur die habituelle Lesart zulässt: ״ Пятую неделю я не сплю с же- н о й ...“ (Galič, nach: TKS; S. 794); ״ Неправда, что она сестра мне. Я с ней сплю .“

(G or’kij, nach BAS 14 / 482). Der andere Hinweis bezieht sich auf spat’1 im Kontext von 4/״ = not to S(leep) when S is necessary“ und besagt ״ ne smykat’ glaz [not o f the moment o f speech] *not get a wink o f sleep’“ (S. 418). Hervorhebung von mir]. Dies lässt darauf schliessen, daß aus der lexikalischen Bedeutung von спать selbst keine Beschränkungen, bezogen auf +jetzt, folgern. Wenn dennoch andere Formen entschie- den bevorzugt werden, also ״ (ІЦас) засыпаю “ zu (3), ״ Хочу / хочется спать“ zu (4) an Stelle von ״ Я сплю “, so deutet dies auf eine im Vergleich zum Deutschen stärkere Spezialisierung der Verbkategorien im Russischen auf bestimmte Wirklichkeitsverar- beitung wie -w ertung hin.

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(3) < [ 0 { _} Ajepist: -parametr.; eval: gut; volit.: beibehalten} I {notif}]

[ich schlafe]>

bzw.

(4) < [0 { ...} A{epist: - wahr; eval; gut; volit.; beibehalten} I {d ir} ] [ich schlafe]>

Im ersten Falle würde der Sprecher zum Beispiel im Einschlafen seinem Hörer gegenüber mümmeln ״ Wenn du es unbedingt wissen mußt, dann teile ich Dir mit (notif), daß ich eigentlich schon schlafe und daß ich das gut finde und daß ich diesen Zustand beibehalten möchte (aber lass Dir nicht einfallen, mich

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nach dem Wahrheitsgehalt meiner Äusserung zu fragen)“, während im zweiten Falle der Sprecher etwa zu paraphrasieren wäre: ״ Wenn ich sage, ich schliefe, dann sage ich zwar bewusst die Unwahrheit, ich fände es aber gut, wenn ich schliefe und ich würde den Zustand auch gerne beibehalten wollen, also (dir) lass mich gefälligst in Ruhe“71. Es ist natürlich eine Tücke der Explizierung, daß es so aussieht, als wären es Inferenzen, die beispielsweise der Hörer durch- führen könnte. Behauptet werden soll hier aber, daß dem nicht so ist, sondern

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daß es sich dabei um Eigenschaften der Äusserung handelt vor einer speziellen Situationseinbettung, die überhaupt erst die notwendige Informationen für eventuell notwendige Inferenzen liefern könnte. Der Hörer identifiziert dage- gen die einzelnen Parameterbelegungen genau so, wie er auch die einzelnen Lexeme richtig identifiziert72.

An diesem Beispiel zeigt sich recht deutlich eine weitere Konsequenz der Trennung von Einstellung, z.B. epistemischer einerseits und Sprechakt, z.B. Wahrheitsbehaup- tung / Assertion andererseits: ein ganz erheblicher Teil dessen, was als indirekter Sprechakt diskutiert wird, hört auf, ein indirekter Sprechakt zu sein - ein indirekter Sprechakt wäre demnach nur das, in dem das Gesamt aus OAI und Rpräd einerseits und dessen sämtliche grammatischen und grammatisch-lexikalischen Interpretationen soweit auseinanderfallen, daß der Hörer nicht mehr qua Sprachkompetenz weiß, son- dem erst qua (extra-grammatischer) pragmatischer Kompetenz erschliessen muß, was der Sprecher meint. Es bleiben dann solche Fälle übrig wie ״ Monika, es zieht44 und ge- meint ist ״ Reich mir mal bitte das Salz rüber44, die es zweifelsfrei (mindestens unter Linguisten) auch gibt, die aber vielleicht viel weniger gewichtig sind.

Und er kann sich bei der Identifizierung auch in genau der gleichen Weise irren.

Di e Fa l l s t u d i e: Da s St r ö b e l e- Br o d e r- In t e r v i e w 5 9