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Zur Biologie des Sprachorgans

Im Dokument Über den Ort der Einstellungen im Satz (Seite 114-119)

4.4 These 3: Die Unfehlbarkeit des Sprachorgans und die Mittel natürli- chen Sprechens

4.4.1 Die Unfehlbarkeit des Sprachorgans: Überlegungen zur Stellung der Sprachkompetenz in der Sprachverwendung

4.4.1.1 Zur Biologie des Sprachorgans

4.4.1 Die Unfehlbarkeit des Sprachorgans: Überlegungen zur Stellung der Sprachkompetenz in der Sprachverwendung

4.4.1.1 Zur Biologie des Sprachorgans

4.4.1.1.1 In seinem 1980 wiederabgedruckten Aufsatz ״ On the Biological Basis o f Language Capacities“ 109 zitiert Chomsky zustimmend Lennebergs Aufgabenstellung, die Sprache zu untersuchen als ״an aspect of [man’s] bioio- gical nature, to be studied in the same manner as, for instance, his anatomy“

(Lenneberg: Biological Foundations; S. 393f; zitiert nach Chomsky: Biological Basis; S. 185). Daraus folgt, laut Chomsky, ״ we may regard the language capa- city virtually as we would a physical organ of the body and can investigate the principles of its organization, functioning and development in the individual and the species“ (ebenda). An anderer Stelle entwickelt er Fragestellungen,

״ we may ask about an organ of the body - say the eye, or more broadly, the

109 Chomsky: Biological Basis, zuerst 1976 in einem Sammelband zur Neuropsychologie der Sprache, sowie 1978 als Beitrag in einer E. Lenneberg gewidmeten Festschrift.

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visual system regarded as an organ“, die die Fragen umfassten nach 1) ״ ) (a) function, (b) structure, (c) physical basis, (d) development in the individual, (e) evolutionary development“ (Chomsky: Unconscious Knowledge; S. 227). Die- se Fragestellungen sind, analog der Lenneberg’sehen Aufgabenstellung, über- tragbar auf die Untersuchung der Sprache: ״ Suppose that we attempt to study language on the model of a bodily organ, raising the questions (la )-(le )“ (S.

229). Chomsky kehrt immer wieder zu diesem Problem zurück, so führt er z.B.

1988 aus:

״ ln what sense is language a physical structure? We do not know for certain, but we believe that there are physical structures o f the brain which are the basis for the com- putations and the representations that we describe in an abstract way. This relation between unknown physical mechanisms and abstract properties is very common in the history o f science.“ (Managua Lectures; S. 185)

Diese Stellen sollen genügen zu illustrieren, daß in der Linguistik Chomsky’

scher Provenienz von einem Sprachorgan ausgegangen wird, daß sich in we- sentlicher Hinsicht nicht anders verhält als andere biologisch vorfindliche Organe wie z.B. der visuelle Apparat, auf den bevorzugt verwiesen wird. Zwar sei nicht klar, in welcher Relation die abstrakten Beschreibungen der For- schung mit den postulierten physikalischen Strukturen stehen (somit auch nicht

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der Grad der Übereinstimmung mit diesen), aber dies ist letztlich ein Problem, dem in der Geschichte der Wissenschaften auch schon andere Disziplinen ge- genüberstanden und Schritt für Schritt lösten, so daß das Fehlen bzw. die Un- möglichkeit einer genauen Zuordnung keinen Grund bietet, diese Form der Forschung selbst abzulehnen oder für unrealistisch zu halten.

Nehmen wir also an, es gebe ein Sprachorgan, so lässt sich eine zunächst absurd anmutende Frage stellen: kann dieses Organ irren? Hierzu ist zunächst zu bestimmen, was unter ״ sich irren“ verstanden werden soll. Nicht darunter zu verstehen ist, daß ein Organ sich für ein anderes hält, so daß plötzlich die Leber anfängt zu atmen, das Him zu verdauen und der Dickdarm zu denken.

Der (denkbare) Irrtum eines Organs besteht vielmehr darin, daß es seine Funk- tion nicht oder nicht korrekt ausübt. Landläufig spricht man in diesem Falle davon, daß, sofern dieses nicht korrekte Ausüben eine, je nach Organ unter- schiedlich weite, bestimmte Grenze überschreitet, dieses Organ bzw. dessen menschlicher Besitzer krank sei. Und in neueren Forschungen wird - wie oben erwähnt - versucht, Agrammatismus zu beschreiben als (pathologische) Beein- trächtigung einer bestimmten Gruppe von UG-Elementen, den Funktionalen

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Kategorien110. Sehen wir jedoch von solchen extremen Fehlfunktionen wie Agrammatismus und Aphasie ab, so bleibt noch immer die Frage nach den kleineren ״ Funktionsstörungen“, den alltäglichen kleinen Fehlem, die jeder normale Sprecher ständig hervorbringt: Sind wir alle (ein klein wenig)

״ sprachkrank“?

Für Organe wie Leber oder Lunge usw. ist der ״ Maßstab“ , mit dem das richtige Funktionieren gemessen wird, skalar: Lunge und Leber stehen nicht vor der Alternative zu funktionieren oder nicht zu funktionieren, sie funktio- nieren gut oder nur besser oder gar schlechter oder schlimmstenfalls überhaupt nicht - dieser Skala entsprechend gibt es einen in der Medizin zu bestimmen- den Punkt, an dem das Organ noch nicht oder eben schon krank ist. Wie sollte man sich ähnliches für das Sprachorgan vorstellen? Sollte man annehmen, daß das Empty Category Principle mal ein bißchen weniger oder das Theta-Krite- rium mal nicht so ganz erfüllt wird? Oder sollte angenommen werden, daß manchmal nicht alle UG-Parameter korrekt in die Produktion eines Satzes ein- gehen, sondern mal mehr und mal weniger?

Ein Blick auf die in der Literatur vorgeschlagenen UG-Komponenten legt nahe davon auszugehen, daß diese nicht skalar erfüllbar sind: Entweder dem jeweiligen Prinzip / Modul wird Genüge getan oder nicht. Und zumindest einige scheinen darüberhinaus von einer Natur zu sein, die es unmöglich macht, überhaupt dagegen zu verstoßen: jedenfalls scheint es zwar leicht mög- lieh zu sein, einer NP einen falschen Kasus zu geben. Wie allerdings eine NP keinen Kasus - und nur diese Situation soll der Kasusfilter ausschließen - be- sitzen kann, ist kaum vorstellbar111. Mit einigem Recht Hesse sich also sagen, eine ״ gesunde“ UG - oder doch relevante Teile derselben - ist unfehlbar.

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110 Vgl. Ouhalla: Functional Categories. Die Funktionalen Kategorien ״ form a small and finite lexicon which is a component o f UG, in the sense that it is part o f the genetic blueprint which constrains human languages“ , das Ouhalla als ״ UG-Lexicon“ be- zeichnet (S.9). Über Agrammatismus wird nunmehr ausgeführt: ״ The impairment underlying agrammatism affects the ability to access the categories o f the UG-Lexi- con“ (S.33). Es kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden, ob die Beobachtungen Ouhallas und anderer auch dahingehend analysiert werden könnten, daß Agrammatis- mus als eine Unfähigkeit zu beschreiben ist, bestimmte pragmatische Faktoren zu grammatikalisieren (syntaktisieren), vereinfacht ausgedrückt: die beiden Teilbäume des revidierten Standardsatzes zusammen- bzw. die OAI-Teilstruktur hervorzu- bringen.

111 Die Überlegung, dies könne z.B. in agglutinierenden Sprachen der Fall sein, in denen der Kasus durch ein eigenes, fehlerhafterweise unterlassenes Kasusmorphem ausge- drückt wird, greift insofern nicht, als der Kasusfilter sich nicht notwendig auf den morphologischen Case, sondern auf den abstrakten CASE bezieht.

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Zu r Bi o l o g i e d e s Sp r a c h o r g a n s

4.4.1.1.2 Einige Einschränkungen scheinen angebracht. Durch die Einschrän- kung auf nicht-pathologische Fehlleistungen sind zunächst Aphasie und Agrammatismus ausgeschlossen. Auszuschliessen sind desweiteren verschie- dene Sorten an Versprechern und was der beabsichtigten und unbeabsichtigten Fehlleistungen mehr es geben mag: solche Fehlleistungen sind nicht nur Per- formanz-Erscheinungen112 (vgl. Stechow / Stemefeld; S. 27), sie stehen auch in keinem Zusammenhang mit den hier nur interessierenden UG-Modulen.

Zwei weitere Unterscheidungen sind anzuführen. Die behauptete Unfehl- barkeit der (״ gesunden“) UG-Module bezieht sich nur auf die ״ final-state“־UG:

daß es im Zuge des Spracherwerbs (hier: Parametrisierung) zu Fehlem kommt ist ein eigenständig zu lösendes Problem. Die zweite Unterscheidung betrifft die Produktion gegenüber der Rezeption einer sprachlichen Struktur: Der Um- stand, daß in der Rezeption etwas falsch identifiziert wird, tangiert noch nicht die ״ Unfehlbarkeit“ des entsprechenden Moduls selbst, sondern die Fehlbarkeit des kognitiven Apparats, der an einem bestimmten Punkt in der Verarbeitung nicht ״ in die richtige Ecke“ gegriffen hat.

112 Die Unterscheidung Kompetenz-Performanz ist methodologisch sinnvoll, jedoch nicht als Aussage über unser Sprachvermögen: ״A uf der einen Seite gibt es die grammati- sehen Kompetenz und auf der anderen die sprachliche Performanz und das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.14 Daß auch Chomsky einen solchen Standpunkt nicht teilt, erhellt sich z.B aus folgenden Ausführungen:

״ Actual investigation of language necessarily deals with performance, with what someone does under specific circumstances. We often attempt to devise modes o f inquiry that will re•

duce to a minimum factors that appear irrelevant to intrinsic competence, so that the data of performance will bear directly to competence. as the object o f our inquiry.״ (Chomsky: Un- conscious Knowledge: S. 225; Hervorhebungen von mir, HD).

Zur Diskussion steht also nicht, ob (theoretisch) überhaupt, sondern nur in welcher Form und in welchem Umfang die UG-Module in der Performanz präsent sind. Vgl.:

״ If we accept - as I do - Lcnncbcrg’s contention that the rules o f grammar enter into the pro- cessing mechanisms, then evidence concerning production, récognition, recall, and language use in general can be expected (in principle) to nave bearing on the investigation o f rules o f grammar, on what is sometimes called ״ grammatical compétence“ or ..knowledge o f Ian- guagc“ .(...) Evidence is not subdivided into two categories: cvidcncc that bears on reality and evidence that just confirms or refutes theories (...). Some evidence may bear on proccss mo- dels that incorporate a characterization o f grammatical competence, while other evidence seems to bear on competence more directly, in abstraction from conditions o f language u s e /‘

(Chomsky: Biological Basis; S.200f),

Was ebenfalls die Unterscheidung competence-perforrnance als primär methodolo- gisch kennzeichnet.

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102 DREI THESEN: THESE 3 - DIE UNFEHLBARKEIT DES SPRACHORGANS

Zunächst mag es, wie oben behauptet wurde, UG-Module geben, gegen die (nicht-pathologisch) gar nicht verstoßen werden kann, als Beispiel wurde oben der Kasus-Filter genannt, ähnliches dürfte für das Theta-Kriterium, den Kopf- Parameter und das ECP gelten. Andere scheinen dagegen auf den ersten Blick durchaus verletzbar zu sein: so sind Verstöße gegen die Bindungs- oder die Kontrolltheorie113 relativ leicht konstruierbar. Potentiell fehlerhaft scheint auch die - vollständige - Realisierung der X ’-Komponente zu sein: Satzabbrüche, falsche Dislozierungen von Phrasen und ähnliches sind in der Alltagskommu- nikation eher schon der Normalfall, denn nur Ausnahmen.

113 Kritisch zu den Daten der Bindungstheorie verhält sich z.B. Kuno: Functional Syntax;

vor allem S. 31 - 101; zur Kontrolltheorie vgl. Panther / Kopeke: Obligatory Control Phenomena. In beiden Arbeiten werden die jeweiligen Phänomene nicht als syntak- tisch (somit (potentiell) UG-determiniert), sondern als unter semantisch-pragmati- sehen Rahmenbedingungen sich vollziehend beschrieben.

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