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Die Moskauer Semantische Schule

Stark unterschieden von Programm wie Entwicklung von der Kalininer ist die hier als ״ Moskauer Semantiker“ titulierte Gruppe. Gemeint sind damit die in Moskau gebliebenen Mitglieder des Moskauer semantischen Zirkels um Apresjan und M el’čuk44, unterscheidet sich aber von diesem personell durch das Fehlen der emigrierten Mitglieder, also vor allem M el’čuk, Iordanskaja und Žolkovskij, zum anderen durch neue Mitglieder, die entweder in den späten Sechzigern nicht zum engeren Kreis gehörten, wohl aber struktura-li- stisch orientiert arbeiteten, wie etwa Arutjunova oder Padučeva, oder aber damals noch schlicht zu jung waren, wie etwa A.D. Šmelev, Anna Zaliznjak und Marija Dmitrovskaja. Zu den (personelle) Kontinuität stiftenden Mitglie- dem zählen neben Apresjan Telija, V ol’f, Boguslavskij, Sannikov und andere mehr. Nachdem die Vertreter einer strukturellen Sprachbetrachtung in den Siebzigern zunehmend in die Defensive gedrängt worden waren, bildete sich bei Treffen in Privatwohnungen dieser neue Arbeitskreis heraus, der sich schliesslich spätestens 198645 als ״ Problemnaja gruppa «Logičeskij analiz jazy- ka»“46 unter der Leitung von N.D. Arutjunova am Institut Jazykoznanija der Akademie etablieren konnte. Seitdem erscheinen in Abständen von ungefähr einem Jahr, herausgegeben von Arutjunova Sammelbände mit Arbeiten dieser Gruppe.

literatur referierend, über den Sprachgebrauch in sowjetischen Sowjets erfährt man leider recht wenig. Allerdings ist dies ein nur logische Folge aus dem oben Referierten und mag sich - die neuesten Bände waren mir nicht zugänglich - zwischenzeitlich geändert haben.

Vgl. hierzu Weiss: Sprachmodelle, Hartenstein: Konzeptionen.

Vgl. das Vorwort zum (ersten ״ richtigen“) Sammelband Arutjunova (ed.): Znanie i mnenie, in dem von einer Konferenz gesprochen wird, ״ организованной в 1986г.

при Институте языкознания А Н С С С Р ‘; a.a.O. S.3.

Die Bezeichnung schwankt ein wenig: Offizieller Titel ist ״ Logičeskij analiz jazyka“, während in den Vorworten (und auf dem Titelblatt des Sammelbandes Arutjunova (ed.): Propozicional’nye predikaty v logičeskom i lingvističeskom aspekte) zumeist von ״ Logičeskij analiz estestvennogo jazyka“ gesprochen wird, weshalb man wohl dem beteiligten Personenkreis nicht unrecht tut, wenn man hierin eine Gleichsetzung von logischer Sprachanalyse und logischer Analyse der natürlichen Sprache sieht.

3 9 Pr a g m a t i k i n d e r So w j e t u n i o n

Während also für die ״ Kalininer“ ein potentieller Stolperstein, die ״ szien- tistische“ , strukturelle Ausrichtung, nicht gegeben war47, war die aktuelle Her- ausbildung der logischen Sprachanalyse und ihrer Anwendung auf neue, ״präg- matische“ Felder nicht etwa ein ״ Bruch“ mit der strukturellen Vergangenheit der involvierten Personen, sondern eine Weiterführung dieser Arbeit. So schreibt Arutjunova im Vorwort zum Sammelband ״ Pragmatika i problemy intensional’nosti“ :

,Д ости ж ен и е ЭТОЙ цели [Бесцчреибунг вон С працче ин комплехен Л ебенсзусаммснчянген]

потребовало выхода за пределы формалных методов, сложившихся в языкозна- нии 30-ых - 50-ых гг., и установления тесных контактов со смеж ными дисци- илинами - логикой, философ ией, психологией и социологией. Логический ана~

л и з естественного язы ка в этом новом контексте т ак ж е раздвинул свои рамки, вклю чи в в свой реперт уар категории п р а г м а т и к и(Arutjunova (ed.): Prag- matika; S.6; Hervorhebung von mir, HD)

In anderen Worten, der Aufgabenbereich wird erweitert, die früher selbständi- gere Sprachwissenschaft nähert sich anderen Wissenschaften, allen voran der Logik und Philosophie48. Die Hinwendung zu diesen Themen ist aber kein Bruch, sondern eine Weiterentwicklung im Zusammenhang mit der allgemeine Weiterentwicklung der Wissenschaften, die zunehmend den Faktor Mensch in den Mittelpunkt stelle, die logische Sprachanalyse dehnt ihren Arbeitsbereich aus, indem sie pragmatische Kategorien aufnimmt, der Charakter der Sprach- analyse bleibt dadurch jedoch im Grundsatz der gleiche.

Diese behauptete Kontinuität49 lässt sich auch unschwer im Theoretischen wie Methodischen nachweisen. So bestimmt Apresjan den Gegenstand der lin- guistischen Pragmatik 1987 in folgender Weise:

47 Wodurch potentielle Angriffe auf den anderen großen Stolperstein, die Rezeption nicht-marxistischer Philosophen und Linguisten, leichter abzuwehren wären.

48 An anderer Stelle, im Vorwort zu Arutjunova (ed.): Problemy; S.4 erscheinen dann Logik und Linguistik schon als Schwesterwissenschaften, die sich (im Westen) der (kognitiven) Psychologie nahem: .,логика и л и н г в и с т и к а с б л и з и л и с ь с психологией, в особенности со школой когнитивной психологии, концепции которой начали складываться в начале 60-х годов.“ - Wobei hier natürlich nicht vergessen werden darf, daß kognitive Psychologie hier (noch) als die Schule von Miller und, auf Sprache bezogen, Chomsky gemeint ist.

49 Wenn die Behauptung der Kontinuität in der damaligen sowjetischen Wissenschafts- landschaft nicht vielleicht sogar wichtiger war als der Umstand selbst.

Vgl. auch:

״ И структурная лингвистика, и заняты е анализом язы ка логи ко -ф и л о со ф ски е ш колы следовали одной линии развитии.“

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Kennzeichnend, nicht nur für Apresjan, bleibt die Suche nach invarianten semantischen Elementen sprachlicher Einheiten, deren Zusammenwirken

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stimmte Eigenschaften von Äusserungen hervorbringen. So bestimmt Apresjan beispielsweise den performativen Charakter bestimmter Äusserungen rein sprachimmanent: nicht-sowjetischen Linguistik und Sprachphilosophie, ״ mitgemeint“ aber zweifelsohne auch die eigene Arbeit.

Noch deutlicher äussert sich Padučeva im Vorwort zu ihrer Arbeit Vyskazyvanie i ego sootnesennost' s dejstviternost’ju (Moskva: Nauka 1985), das oben bereits angeführte Wort Bachtins vom ״ Satz“ als Hybride aus Satz und Äusserung aufnehmend (״ некии гибрид предложения и высказывания“ ), die der tatsächliche Gegenstand linguisti- scher Beschreibung sei. Sie gelangt dabei zu der Folgerung, Gegenstand der [Satz-]Se- mantik (!), sei nicht nur das ״ семантическое представление предложенийа, но и семантико-прагматическое представление предложенийа, вклйученного в рече- вой акт.“ (a.a.O.; S. 4). Über die Vorgeschichte ihrer Arbeit berichtet sie dabei

״ О на возникла в связи многолетной работы автора над построением алгоритм ов перс- вода с естественного язы ка на инф ормационно-логический.“

(ebenda), wodurch die Veränderung des Themenspektrums bei gleichbleibendem Ziel verdeutlicht wird.

Ohne eigens auf die Betitelung einzugehen befasst sich Padučeva in einem späteren Aufsatz mit Phänomenen, die ״ Meždu predloženiem i vyskazyvaniem“ liegen, insbe- sondere der Frage, wann Hauptsätze nicht ihrerseits eingebettet werden können. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, daß solche ״ main clause phenomena“ nicht durch rein strukturelle Eigenschaften des Hauptsatzes begrenzt seien, ״ не главным предложе- нием, да предложением, которому соответсвует отделный речевой а к т “ (a.a.O.;

S. 317), wie dieser durch nicht-explizite [d.h. nicht durch eigenständige Prädikation sichtbar werdende] subjektive Modalität, durch deiktische Elemente u.a. sichtbar wird.

41 Pr a g m a t i k i n d e r So w j e t u n i o n

Wenn sich der performative Charakter aus der lexikalischen Bedeutung des Verbs / Prädikats (denen im Lexikon-Eintrag das Merkmal [PERFORM] zuzu- ordnen ist; ebenda S. 220) und der grammatischen Tempus-Aspekt-Bedeu- tung50 ergibt, so bedarf es keinerlei sozial determinierten Regeln, Konventio- nen, einer handlungstheoretischen Grundlegung usw. mehr, um Performativität zu beschreiben. Pragmatisch in diesem Verständnis ist dann nur noch der Un- terschied zwischen ״ Я прошу“ und ״ Я просил бы (вас выйти)“ usw., wobei der Unterschied nicht in der Semantik der verwendeten Tempora, Modi oder Aspekte liege, sondern in der jeweiligen pragmatischen Bedeutung, die ver- schiedene Stufen der Höflichkeit unterschieden (ebenda; S. 215).

Ein letztes Beispiel, bei dem die gleiche Argumentationsweise erkennbar ist, die deduktive Grundausrichtung allerdings stärker in den Vordergrund tritt.

V ol’f beschäftigt sich in ihrem Beitrag, V ol’f: EmocionaFnye sostojanija, zum Sammelbandvon 1989 mit emotionalen Zuständen und deren Wiedergabe in der Sprache. Äusserungen, die Emotionale Zustände von Menschen beschrei- ben, können nach ihren Auffassungen in der Form eines Modells interpretiert werden, wobei dieses Modell einem Ausschnitt der inneren Welt des Men- sehen entspricht51. Das Modell umfasst dabei neben dem eigentlichen emotio- nalen Zustand den Träger der Emotion, in V ol’fs Terminologie das sub"ekt èmocii, sowie die Ursache des Zustands. Prädikate, die Emotionale Zustände ausdrücken, können daher als bivalent (dvuchvalentnyj) charakterisiert werden - vgl. etwa ״ Он обрадовался появлению Васи“ , wobei Vasjas Erscheinen der Grund für sein Erfreut-Sein ist52. Von Prädikaten, die eine emotionale Relation {em otional'noe otnošenie) ausdrücken, unterscheiden sie sich darin, daß jene dreiwertig sind, zusätzlich noch ein Objekt (Ziel) der Relation hinzu- nehmen: ״ Я рассердился на Васю за то, что он мне нагрубил“ , wobei hier Vasja als Objekt meiner emotionalen Relation ‘Verärgerung, weil er grob gegen mich war (Ursache)’ figuriert. Die Autorin vermerkt Grenzfälle, bei

Die im Falle des Präsens-Imperfektiv deutlich von dessen ״ normalen“ Tempus- Aspekt-Bedeutungen (актуално-длительное, узуалное, потенциалное, настойащее историческое usw.) abweicht (S.220) und im gegebenen Fall (vereinfacht) den Bezug der performativen Äusserung auf den Sprechzeitpunkt herstellt und mit dem Zeitpunkt des Abschlußes der Äusserung und nur diesem jene Lage der Dinge (п о л о ж е н и е в е щ е й ) herstellt, die durch die performative Äusserung hergestellt werden soll (S.222).

״ В ы сказы вания, опнсыпаю щ ис Э[моциольные] С [остояння] человека, могут интерпре- ти роваться в виде модели, соответствую щ ей ф рагм ентам внутреннего мира человека."

(V o l'f: E m ocional’пус sostojanija; S. 55)

Interessanterweise vergibt bei Vol’f nicht das Verb ״ Valenzen“ , sondern das Subjekt (oder - in anderer Terminologie - der Experiencer)!

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denen nicht ganz eindeutig ist, ob es sich um einen zweiwertigen Zustand oder eine dreiwertige Relation handelt53 und formuliert eine übergreifende Katego- rie ‘Emotionale Prädikate’, die wiederum mit übergreifenden Kategorien wie intensionale Prädikate usw. vergleichbar wird. Im Verlauf ihres Beitrages schlüsselt sie dann die einzelnen Aktanten, wie sie es nennt, näher auf und untersucht, welche Lexeme zum Ausdruck der jeweiligen Untergruppe mög- lieh sind, geht der Frage nach, wie über emotionale Zustände berichtet werden kann, der Frage der Kontrollierbarkeit und deren Folge in der Versprach- lichung usw. Die geschilderte Verfahrensweise ist, in unterschiedlich hohem Maße, in den verschiedensten Beiträgen wiederzufinden. Das verarbeitete sprachliche Material ist dabei bisweilen eher illustrativ, so bei V ol’f, bei deren Klassifikationen der Charakter des Russischen eher eine untergeordnete Rolle spielt54 oder spielen eine größere Rolle, wie bei der erwähnten Arbeit von Apresjan zu den Performativen, die Argumentations-richtung geht jedoch bevorzugt nicht vom sprachlichen Material aus, sondern deduktiv von letztlich logisch motivierten Kategorien, gewonnnen in Abstraktion und Anlehnung an andere benachbarte Wissenschaften wie Logik, Philosophie und (kognitive) Psychologie55.

Mittels der Logischen Sprachanalyse, verstanden in der oben grob skiz- zierten Art, wird heute eine Vielfalt von Themen auf der Grenze zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik untersucht. Der ״čelovečeskij faktor“ und seine ״ naivnaja kartina mira“, herausgearbeitet nicht in platt-soziologisieren- den Kategorien, sondern vergleichbar einer Konzeption von menschlichen Fähigkeiten und Wissenssystemen wie in der (westlichen) kognitiven Psycho- logie, ist dabei zu einem wesentlichen Bezugspunkt in der aktuellen Arbeit ge- worden, wie es zugleich ein zentraler Unterscheidungspunkt gegenüber älterer Theoriebildung ist, indem es dem Vorwurf, Sprache ״ в себе и для себя“ zu untersuchen, in den letzten Jahren der Sowjetunion sinnvoll entgegentreten konnte. Während die Kalininer, heute Tverer Gruppe, sicherlich im einzelnen gute Untersuchungen hervorbringt, ist sie dank ihrer primären Ausrichtung auf

4 2 Ein Se i t e n b l i c k

Zum Beispiel im Falle von ״он испугал лая собаки“ , wobei das Hundegebell sowohl als Ursache des Erschrecktseins, wie als Objekt des Erschreckens verstanden werden kann.

Die Ergebnisse würden sich nur wenig unterscheiden, wäre als Objektsprache zum Beispiel das Deutsche gewählt. Unterschiede mag man an der Ambiguität des Hunde- gebells festmachen (s. voranstehende Fußnote), wo das Deutsche über nicht-ambige (oder weniger ambige) Mittel verfügt, etwa: er erschrak wegen des Hundegebells / er erschrak vor dem Hundegebell (Zustand / Relation).

Die oben ebenfalls mit angeführte Soziologie nimmt, so mein Eindruck jedenfalls, nur eine äusserst marginale Rolle ein.

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Adaptation bestimmten semantisch-pragmatischen Denkens und der Heraus- bildung eines Forscherkreises vor allem im nationalen Maßstab von Bedeu- tung. Von internationaler Bedeutung (und zweifelsohne noch zu wenig zur Kenntnis genommen) ist die Logische Sprachanalyse, die trotz aller Verpflich- tung gegenüber westlichen Vorbildern heute eine eigenständige Denkrichtung in der Sprachwissenschaft darstellt, die keinen Anlaß hat sich ״ zu verstecken“ .

Im Rahmen des hier zu entwickelnden Rahmens sind die Ergebnisse die- ser Forschungsrichtung vor allem dort von Relevanz, wo es um lexika-lische und grammatisch-lexikalische Einheiten geht - also in erster Linie, was in der Einleitung (vg. dort Abschnitt 17) als in der С-Position und der Position des IP-Adjunkts zu stehen kommend eingeführt wurde. Aber auch die Aussagen von engerer syntaktischer Relevanz, so etwa die Apresjans oder Kodzasovs zu Performativität, sind in die untenstehende Modellbildung mit eingegangen.

Ï Ï L

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Ka p i t e l 3: d r e i Pa r a m e t e r, s c h l a f e n u n d e i n e

F A L L S T U D I E