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Die Kalininer / Tverer Gruppe

Einstellungen (propositional attitude) wie auch Illokutionen oder Deiktika im Sinne Bühlers werden, so sie nicht im engeren sprachphilosophischen Sinne Untersuchungsgegenstand sind, zumeist als Gegenstand der Pragmatik oder einer weiter gefassten Semantik verstanden. Aus der ehemaligen Sowjetunion sind in dieser Richtung vor allem Arbeiten von besonderem Interesse, deren Verfasser zunächst für Verweiszwecke mit den Etiketten ״ Kalinin“, ״ Kiev“

und ״ Moskauer Semantiker“ versehen werden sollen, wobei Kiev eher eine lokale oder familiäre Variante zu Kalinin zu sein scheint. Unter Kiev verstehe ich hier G.G. Počepcov, G.G. Počepcov (ml.) und O.G. Počepcov, die an der Kiever Universität bzw. Pädagogischen Institut tätig sind (waren) und seit etwa Ende der siebziger Jahre im Prinzip westliche Forschungsansätze - allen voran die Spechakttheörie - in ihren Arbeiten anwenden. Charakteristisch ist dabei der Versuch, eine Verbindung herzustellen zwischen diesen ״ importierten“ und sowjetischen Ansätzen - etwa durch Berufung auf die Kommunikationslingui- stik von Kol’sanskij oder, weiter zurückreichend, auf Bachtin und Volosinov40.

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Die theoretischen Bemühungen sind dabei insbesondere auf ein Überschreiten der Grenze des isolierten Sprechaktes gerichtet, so etwa die Annahme eines kommunikativen Aktes bei O.G. Počepcov, der den Sprecher-Sprechakt über- schreitet und die Rezeption durch den Hörer mit einbezieht41, allerdings schei- nen solche Revisionsbemühungen nicht grundlegenderer Natur zu sein, als sie bei der Lektüre z.B. deutschsprachiger pragmatischer Literatur immer wieder zu finden sind. Somit lassen sich die Pocepcovy durchaus in den pragmati- sehen, vor allem sprechakttheoretischen ״ Main Stream“ einordnen.

Gleiches lässt sich im Prinzip auch für das als Kalinin etikettierte sagen.

Hierbei handelt es sich um die ״ Kalininskaja gruppa lingvističeskoj semantiki i pragmatiķi“ an der Kalininer (heute Tverer) Universität, die seit 1978 jährlich einen Sammelband mit eigenen und Arbeiten von Wissenschaftlern anderer Hochschulen herausgeben. Organisator der Treffen und Herausgeber der Sam­

So bestimmt O.G. Počepcov: Osnovy den Terminus ״ predloženie“ unter ausdrückli- eher Berufung auf Bachtin als ״ гибрид предложения и высказывания“ . (a.a.O.; S.4).

Das Hybrid-Postulat taucht im übrigen auch bei Padučeva wieder auf.

Vgl: ״ В общем виде коммуникативный акт м ож ет быть определен как акт взаи- модействия отправителя и получателя, в основе которого л е ж и т сообщение."

(O.G.Počepcov: Osnovy; S. 5)

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melbände ist I.P.Susov, zu den bekannteren Personen, die Arbeiten beisteuern,

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gehören die Leningrader G.N. Ejchbaum und V.V. Bogdanov, die Moskauer N.A.Sljusareva, V.G. Gak und A.M. Šachnarovič, wie auch der schon erwähn- te G.G. Počepcov. Insgesamt, vielleicht auch wegen der Kürze der meisten Beiträge, scheint ״ Kalinin“ noch stärker auf Nutzbarmachung westlicher An- sätze gerichtet zu sein - auch hier wiederum mit der Sprechakttheorie im Vordergrund aber auch Goffman, Hymes und andere kommen von Fall zu Fall zu Ehren, während die eigene Tradition mehr im Hintergrund bleibt. Es ergibt sich hierbei der Eindruck, die einzelnen Beiträge besitzen über ihren ״ Eigen- wert“ hinaus vor allem eine katalytische Funktion in der Aneignung und (ver- suchsweisen) Anwendung nicht-sowjetischer Ansätze, sowie der Herstellung einer Forschergemeinschaft, die in diesem Spektrum zu arbeiten und sich auszutauschen vermag42. Strukturelle Beschreibungen sind dabei nicht inten- diert, vielmehr wird eine Zweiteilung der Spachwissenschaft behauptet, wobei die eine Sprachwissenschaft den inneren Bau der Sprache untersucht - ״ Язык как имманентная сущность являестся предметом структурно-системного языкознания“ - , die andere Herangehensweise hingegen betrachtet Sprache in ihrem Funktionieren, im Kontext - “Язык, погруженный в общественную практику людей, выступает предметом коммуникативно-прагматического я зы к о зн а н и я .“ (Susov: Vvedenie; S. 3). Etwas konkreter wird Susov in seinem eigenen Beitrag zum gleichen Sammelband, in dem er die Sprachwis- senschaft als sich zwischen zwei Ufern bewegend charakterisiert. Das eine Ufer sei das szientistische, naturwissenschaftlicher Methodik zuneigende, in Form des системно -структурного язы кознания gegebene ״ Ufer“, für den der häufig sehr kurzen Beiträge in den Sammelbänden bei weitem zu übersteigen.

Vgl. hierzu die von Ejchbaum: Vmesto Posleslovija vorgetragene (Selbst־) Einschät- zung: die in den Sammelbänden publizierten Arbeiten

״ приобрели в отечественном языковедении ш ирокую известность и больш ое влияние,

37 Pr a g m a t i k i n d e r So w j e t u n i o n

Dieser szientistischen Sprachwissenschaft stellt er eine ״ гуманитарной, чело- вековедческой или, цчтобы подчеркнуть творческий аспект, культуро- ведческой“ Sprachwissenschaft gegenüber, die natürlich die Pragmatik um- fasst, daneben aber auch: ״стилистика, лингвистика текста, теория пере- вода, этнолингвистика, социолингвистика, анализ дискурса, конверзаци- онный анализ“ usw.:

״ Таким образом, естествоведение и гуманитаристика в известной мере полярны.

У них разные идеалы истины. В языкознании эта полярность обнаруж ивает себя в различиях между системно-структурной и коммуникативно-прагматиче- ской парадигмами.“ (ebenda: S. 11)

Die formale Sprachbeschreibung, die auf der Ebene des Satzes noch durchaus möglich sei, gerate zunehmen in Schwierigkeiten, werde über die Textsyntax hinaus zu einer Textsemantik fortgeschritten, die die Thema-Rhema-Gliede-rung usw. zum Gegenstand habe:

״ Здесь, естественно, соотношение между двумя позициями изменилось в пользу гуманитарной, особенно при рассмотрении того, как в тексте оказывается рас- пределена информация. ( . . . ) Ф ормальные элементы отодвинулись на задний план, хотя не перестали и не могут перестать быть релевантными.“ (S. 13)

Im Ergebnis kommt Susov zu dem Schluß, die Sprachwissenschaft benötige beide ״ Ufer“ , das szientitische wie das geisteswissenschaftliche, sie könne weder auf das eine noch das andere verzichten, für die neueste Zeit sei aller- dings ein größeres Interesse am geisteswissenschaftlichen Ufer gegeben, be- dingt durch den Umstand, daß dieses ״ недостаточно учитивалось в период господства сциентических методов“ (S. 14).

Susov scheint nicht immer klar zwischen ״ Gegenstand“ und ״Zugriff auf den Gegenstand“ zu unterscheiden. Kennzeichnend für diese Forschungsrich- tung neben der starken Westorientierung und dem moderaten - deswegen den- noch eine gewisse Selbstblockade - Anti-Szientismus ist jedenfalls der Ver- such, den ״ menschlichen Faktor“ stärker einzubeziehen, wenngleich dies mehr in der Theoriebildung als in den einzelnen Arbeiten erkennbar ist. Die einzel- nen Arbeiten verbleiben weitgehend innerhalb des ״ westlichen“ Themenspek- trums mit Themen wie Schweigen als Sprechakt, Performativkonstruktionen, Äusserungen vom Typ ״ Порядок есть порядок“ , Bestimmung einzelner Sprechakttypen, die Frage sozialer Normen und Regeln, der Analyse von Par- lamentsdebatten oder Sportberichterstattung, Fälle semantisch irregulärer Sätze (״ я рад и не рад“), ״ illocutionary suicides“ usw43. Die Argumentations-weise

Zu den genannten Themen finden sich durchweg ein. bisweilen mehrere Arbeiten in den Sammelbänden von 1986 und 1987. Leider sind die interessantesten Themen - etwa Makarov zu Parlamentsdebatte (in beiden Bänden) - fast ausschliesslich

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ist, soweit sie nicht einfach mehr oder weniger kritisch referiert, induktiv, auf z.B. die Ableitung (intemalisierter) Regeln von Searle’schem Typ oder G rice’scher Maximen gerichtet.