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Zur Selbstpräsentation und Interviewsituation

Im Dokument Permanente Vaterschaft (Seite 135-139)

Seine Lebensgeschichte stellt Paul KAUFMANN mit wenig Emotionalität dar. Er ist sehr sachlich und gibt einen vorwiegend von Argumentation/Evaluation (mit Belegerzählung) unterlegten chronologi-schen Bericht ab. In seiner ca. 23-minutige Selbstpräsentation (Phase 2)799 in der Eingangserzählung präsentiert er die Lebenslinie seiner Tochter Paula in Verbindung mit ihm. Zum Ende seine sentation spricht er eher „stammtischartig“ – seine Erzählungen sind in dieser Phase der Selbstprä-sentation ohne eindeutige Zeitlinie.800 Er sagt: „da GIBTS allerhand EPISODEN“801. Sie sind in das thematische Feld des Interviews eingebettet und können wie folgt zusammengefasst werden: „die Karriere meiner Tochter, welche zum Leben operiert werden musste und zu Beginn nicht in der Familie leben sollte und mich heute am Leben erhält.“ Sprachlich spannt er den Bogen von „Tochter“ über

„Paula“ bis hin zu seinem heutigen „PAULINCHEN“. Er überschreibt dies zum Ende der

797 Vgl. Danksagung.

798 Memo Interview Paul KAUFMANN, S. 1.

799 Siehe Kap. 3.2.1.

800 Vgl. FUCHS-HEINRITZ 2009, S. 56f.

801 Interview Paul KAUFMANN, Zeile 67-68.

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zählung zutreffend mit dem Bild: Paula ist „[…] meine IRONIE DES SCHICKSALS, jetzt mein SONNENSCHEIN.“ Mit dem kleinen Wörtchen „jetzt“ deutet er an, dass es in der Vergangenheit nicht immer so war. Er betont besonders die letzten gemeinsamen Jahre zusammen mit seiner Tochter und hebt ihre Leistungen hervor – eben das Positive, die heutige Bedeutung seiner Tochter für ihn.

Dies wirkt wie ein Gegengewicht zum Einstieg in das Interview mit der Zeit um die Geburt von Paula.

Schwierige Situationen glättet, verharmlost er und versucht, sie positiv zu überformen. Herr KAUFMANN präsentiert seine damaligen Entscheidungen aus heutiger Sicht als für ihn richtig. Die Zeit um die Geburt seiner Tochter präsentiert er als schicksalhaft. Er wirkt als passiver „Mitspieler“ ohne die Möglichkeit einer Einflussnahme auf die Geschehnisse. Gleichzeitig empfindet er sich als Kämpfer zwischen der inneren und äußeren Welt – dem Ich und der Gesellschaft. Das wird unter anderem gleich zu Beginn des Interviews thematisiert.

IP802: „eltern die ihr kind ablehnen natürlich kein tolles ANSEHEN haben und äh da kamen so etliche (-) LEUTE, die uns äh erklären wollten wie toll des is wenn man behindertes KIND HAT, <<I:803 mhm>> (--) äh das war natürlich äh war überhaupt nich/[…] also ich meine wenn äh meine situation KENN ich ja und MUSS mich ja da nich äh von annern leuten BELEHRN lassen.“804

Dieses greift er zum Ende des Interviews noch einmal auf, als es um eine Frage zum Thema des For-schungsprojektes ElFamBe geht: „Welche Themen sind für Eltern interessant?“ Er sagt:

IP: „ebend zumindes jetzt grade mit mit dieser BILDUNG find ich ich GANZ äh ENTSCHEIDEND, und auch äh ganz ENTSCHEIDEND die die BETREUUNG, <<I: mhm>> weil ja doch IMMERNOCH VIELE eltern äh UNS als RABENELTERN ansehen, son KIND also NICHT nach HAUSE zu NEHMEN. (6)“805

Dieses Thema ist zum Teil als seine Hauptmotivation für das Interview zu sehen. Herrn KAUFMANNS

Botschaft ist anonym: „Ich möchte meine wahren Gefühle äußern können und dafür wider ausge-grenzt noch verurteilt, sondern in schicksalhaften Momenten bestärkt werden.“ Und er möchte sa-gen: „Es ist nicht leicht und gut, ein Kind mit Behinderung zu haben“. Er fühlt sich heute noch teilwei-se stigmatisiert, dass er teilwei-seine Tochter in eine stationäre Einrichtung gegeben hat. In der Eingangserzählung führt er von seiner Familie, neben seiner Tochter, noch seinen älteren Sohn mit Namen ein und deutet auf eine Verbindung zwischen ihm, seiner Tochter und seinem großen Sohn hin. Hinzu kommt, dass Herr KAUFMANN in der ersten Phase des Interviews nur Daten und Themen nennt, die in Verbindung mit seiner Tochter und ihm stehen. Das heißt, dass alle anderen Daten und Themen aus dem Nachfrageteil bzw. aus zusätzlichen, eigenen Recherchen stammen.

Nach seiner Selbstpräsentation (Phase 2) folgt der erzählinterne Nachfrageteil (Phase 3). Herr KAUFMANN steht auf und fragt mich, ob ich einen Pfefferminztee möchte. Er geht ins Haus und holt

802 IP = Interviewpartner/Biograph.

803 Interviewer

804 Interview Paul KAUFMANN, Zeile 27-32.

805 Interview Paul KAUFMANN, Zeile 1340-1343.

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ihn. Er betont die frische Pfefferminze und dass er sie immer gerne trinke. Er legt fest, was getrunken wird. Wie ist das vor dem Hintergrund zu sehen, dass er sich auf unser Interview zumindest nach außen nicht sichtbar vorbereitet hat? Eine Lesart ist, dass die Auswahl einer ihm bekannten Teesorte Sicherheit vermittelt in einer ihm ungewissen Situation. Mein Dialekt (sächsisch) beeinflusste das Interview. Herr KAUFMANN knüpft darüber an und führt so in seine Kindheit in der DDR ein. Er ver-sucht eine Verbindung, eine Gemeinsamkeit zwischen uns beiden herzustellen.

Im Nachfrageteil (Phase 4) wird er (von mir) wiederholt zu seinen Eltern und seiner Familiengeschich-te befragt. Herr KAUFMANN erwähnt kaum etwas über die Eltern und seine Familiengeschichte vor seiner Geburt, bis auf die Geschichte des fehlgeschlagenen Rittergutskaufs. Er antwortet knapp und ausweichend. Deutlich wird es unter anderem an der Antwort auf meine Frage, ob er noch etwas vom Vater erzählen kann und möchte:

IP: „nö GAR nicht dis - […] war ich äh ke/ke/806keine anderthalbe jahre alt. <<807I: mhm>> ja ja (--) war dit - WAR och noch JUNG - ich meine is äh WAR SECHSUNDZWANZIG JAHRE alt. <<I: mhm>> da gibs - noch nicht VIEL <<I: mhm>> zu BERICHTEN von nem MENSCHEN.“808

Seine Mutter präsentiert und setzt er meist in Verbindung mit seinen „Schicksalsschlägen“. Unter-stützung von ihr deutet er latent an oder verschweigt sie. Ich hatte das Gefühl einer zähen Preisgabe von Informationen zur Familie von Seiten Herrn KAUFMANNS. Die Familie wirkt verschlossen und wie eine Festung; er kontrolliert, wer Einblick bekommt und wann.809 Es wirkt, als wolle er ein bestimm-tes Bild von sich vermitteln: „Mein Leben ist durch Schicksale geprägt“. Aufgrund dieser Erzählstruk-tur bin ich bei der Rekonstruktion besonders auf die geschichtlichen Rahmendaten zu der jeweiligen Zeit sowie die Erkenntnisse der Familiensoziologie angewiesen. Auch weiterführende Recherchen zu seinen Familienmitgliedern waren für die Gewinnung von Rahmendaten (Herkunft und Bedeutung der Familie seiner Frau, aktuelle Tätigkeiten seiner beiden Söhne) von großem Wert. Personen (auch Familienmitglieder) führt er in das Interview ein, wenn sie „Nutzen“ für ihn haben, ihn bestärken und anerkennen (auch durch Leistung) oder wenn sie sein Leben „schicksalhaft“ beeinflussen. Zu politi-schen Gesinnungen der Familienmitglieder hielt er sich bedeckt. Dies gilt ebenso für biographische Fakten zu seinen Familienangehörigen wie Geburts- und Todesdaten seiner unmittelbaren Verwand-ten. Es könnte auf ein unsicheres und distanziertes Bindungsverhalten oder einen Bruch hindeuVerwand-ten.

So „verschwinden“ z.B. seine Großeltern und seine Mutter seit seiner Hochzeit in einem biographisch schwarzen Loch. Er spricht vom Tod seiner Frau und der Freundin der Tochter und erwähnt, dass sein Vater im Krieg gefallen sei. Lediglich beim Sprechen über den Tod seiner Frau und der Freundin der Tochter sind Emotionen erkennbar, sonst gestaltet Herr KAUFMANN seine Präsentation sachlich.

806 Mit Schrägstrich gekennzeichnet sind Selbstkorrekturen und Wortabbrüche.

807 Mit <<…>> werden Nicht-sprachliche Äußerungen/ Hintergrundgeräusche/ Unterbrechungen etc. angegeben.

808 Interview Paul KAUFMANN, Zeile 1000-1004.

809 Die Abschottung des Privatlebens gegenüber der Außenwelt ist u.a. ein Merkmal „bürgerlicher Familien“ (vgl. ROSENBAUM

1982, S. 251). Siehe dazu die Rekonstruktion der Fallgeschichte Paul KAUFMANN (Kap. 4.1.2.1).

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Zum Interviewzeitpunkt stellt er die gemeinsame Zeit mit seiner Frau neben seiner Kindheit bei den Großeltern in Ostberlin als positiven Lebensabschnitt dar. Nach der Präsentation um seine politische Haft in der DDR zeigt sich an meinem Frageverhalten, dass ich Fragen ungewollt geschlossener ge-stellt hatte. Nachdem ich bei der Analyse in der Interpretationsgruppe dieses Verhalten reflektiert hatte, wurde mir klar, dass ich Herrn KAUFMANN unbewusst schützen wollte (und mich), um eine Situ-ation zu vermeiden, in der Emotionen aufbrechen, die im Verlauf des Interviews schwer wieder ein-zufangen sind. In dieser Situation haben ich mich einem, wie Ulrike LOCH (2008) schreibt, „[…] domi-nanten gesellschaftlichen Verleugnungsprozess […]“810 unterworfen und damit verbunden der Gefahr der Überhöhung von Andeutungen und Hinweisen.811 Wie bereits erwähnt, war Herr KAUFMANN mein zweites biographisches Interview. Aus heutiger Perspektive und Interviewerfahrung hätte durch wei-teres behutsames Nachfragen eine Begleitung von Herrn KAUFMANN stattfinden können.812

Im gesamten Interview präsentiert er, wie er es nennt, „markante Punkte“– es sind Schicksalsschläge, die er unterstreicht. Förderliche Momente seines Lebens (z.B. in seiner Kinder- und Jugendzeit) deu-tet er zwischen den Zeilen an. Seine Kanten im Leben glätdeu-tet er, um sie als Normalität zu präsentie-ren. Er präsentiert im Interview eine problemorientierte Individualbiographie. Das Präsentieren einer Individualbiographie scheint, wie in der Studie „Männer leben“ angedeutet wird, eine nicht untypi-sche Präsentationsart von Personen (hier Männern), die in der vormaligen Bundesrepublik lebten, zu sein.813 Es kann mit dem gesamthematischen Feld des Interviews umschrieben werden „Mein Leben ist durch Schicksale geprägt – ohne die Schicksalsschläge hätte ich heute einen anderen Platz im Le-ben.“ Auf den ersten Blick ist das Leben von Herrn KAUFMANN von einer Kette von Schicksalsschlägen geprägt und negativ beeinflusst. Es ist über ihn „hereingebrochen“, er war machtlos. Häufig präsen-tiert er, das Beste aus „diesen schwierigen Bedingungen“ gemacht zu haben. Zu dieser Darstellung passt, dass er förderliche Faktoren und gute Zeiten weitestgehend auslässt, fast ausschließlich zwi-schen den Zeilen präsentiert. Sprachlich wirkt er sachlich, pragmatisch und gefühlsdistanziert. Er präsentiert sich als gutinformiert, versucht sich als abwägend und stark zu zeigen. Die Analyse zeigt, dass sich hinter dieser Darstellungsart Brüche (mit Kontrollverlust) verstecken. Die Überformung mit dem Begriff „Schicksalsschläge“ lässt sein Verhalten und seine Handlungen und Erlebnisse gesell-schaftlich akzeptiert (Aufwachsen ohne Vater)814 erscheinen; sie rechtfertigen, entschuldigen und erklären ihn und seine Lebensführung im Heute. Zudem ermöglicht die Präsentationsform ihm, die Frage nach Eigenverantwortung nicht stellen zu müssen bzw. sie auf die Schicksalsschlägen zu über-tragen. Das Erzählen von „Schicksalsschlägen“ hat für ihn vier Funktionen:

810 Vgl. LOCH 2008.

811 Vgl. ebd.

812 Vgl. ebd. Sie gibt in diesem Aufsatz Hinweise, wie eine Begleitung in der Interviewsituation aussehen kann.

813 Vgl. HELFFERICH/KLINDWORTH/KRUSE 2005, S. 56 u. S. 70f.

814 Siehe Kap. 4.1.2.2.

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• das Bedürfnis nach Trost

• die Anerkennung durch positive Unterstreichung seines Tuns im Leben für sich und andere

• das Überbrücken von Unsicherheit

• der Schutz vor zu viel Nähe und Gefühlen.

Aus dem Interviewmaterial erfährt man wenig über die Rahmenbedingungen und über Personen wie z.B.: seine Großeltern, seinen Vater, seine Frau, seinen beiden Söhnen. Gleichzeitig betont Herr KAUFMANN die berufliche Tradition der Familie. Des Weiteren betont er, dass ihn die Familie, aber auch „Vitamin B“, also Beziehungen und Freunde, in der Vergangenheit immer wieder unterstützt und bestärkt hätten.

Eng miteinander verbundene Themen sind immer wieder der Kampf um Anerkennung und Leistung.

Das stellt die Hypothese auf, dass die Personen und ihr Einfluss (positiv wie negativ) auf ihn von Be-deutung sind. Dabei setzt und ordnet er sie kaum bis nicht in einen jeweiligen (gesellschaftlichen) Kontext. Es wird deutlich, dass er ein weitgehend personalisiertes Weltbild hat.815 Durch das gesamte Interview ziehen sich die Themen „Natursehnsucht“, das Rudern und das Tanzen. Seine Art der Prä-sentation, das Hervorheben der Individualität und damit seiner Leistung bzw. Faktoren, die dies ver-hindern, entspricht dem Bild des bürgerlichen – „dem persönlichen – Stand“816. Überformt wird dies von seiner Art der Bewältigung, der Versachlichung.

4.1.2 REKONSTRUKTION DER FALLGESCHICHTE VON PAUL KAUFMANN

Im Dokument Permanente Vaterschaft (Seite 135-139)