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M ETHODOLOGISCHE V ERORTUNG UND M ETHODISCHES V ORGEHEN - F ORSCHUNGSDESIGN Es stellt sich nun die Frage: Mit welchem Forschungsdesign kann das beschriebene

Im Dokument Permanente Vaterschaft (Seite 96-113)

Forschungsinte-resse552 untersucht werden? Gelingen soll dies mit Hilfe von exemplarisch rekonstruierten Lebensge-schichten (mit Familiengeschichte) von Vätern, welche zusammen mit ihrem erwachsenen Kind mit geistiger Behinderung leben. Damit wird die gesamte Lebensspanne (offenbarte und recherchierte) in ihrer Entwicklung und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beachtet. Das Neue, Innovative und Gewinnbringende an diesem Vorgehen ist, dass nicht nur die aktuelle Lebenssituation oder ein ausgewählter Ausschnitt der Lebensgeschichte der Väter oder der Söhne und Töchter im Bezug zum Vater, wie z.B. der Kindheit, betrachtet wird.

Für das Forschungsinteresse in Verbindung mit dem beobachteten Phänomen bietet sich ein offen–

narrativer Zugang an.553 Dieser gibt den Vätern die Möglichkeit, ihre Themen zu präsentieren, ohne sie durch eine Frage von meiner Seite aus einzuengen. In dieser Fallstudie geht es um eine Beschrei-bung bzw. eine Rekonstruktion der Lebensgeschichten von Vätern und damit um eine BeschreiBeschrei-bung von permanenten Vaterschaften. Durch die Betrachtung der Biographien hat diese Einzelfallstudie einen retrospektiven Charakter.554 Die soziologische Perspektive ist dahingehend interessant, dass sie u.a. nach den Formen des Zusammenlebens, den Strukturen des „sozialen Handelns“ eines Einzelnen und dem „sozialen Gebilde“ fragt.555 d.h. auch das Handeln der Väter im Gebilde der „Familie“ und in der Interaktion mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betrachtet, beschreibt und erklärt.

Nach Max WEBER (1972) kann Soziologie definiert werden als:

„[…] eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in sei-nem Ablauf und seinen Wirkungen ursachlich erklären will. ‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjekti-ven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ 556

Aus diesem Interesse heraus sind mein methodisches Vorgehen und damit das Forschungsdesign nach der „Interpretativen Sozialforschung“, ein Ansatz aus der soziologischen Biographieforschung nach Gabriele ROSENTHAL, zielführend. Nach Gabriele ROSENTHAL (2008) selbst bildet das von ihr ent-wickelte methodische Vorgehen u.a. folgende Chancen: eine Erforschung eines unbekannten Phä-nomens, die Rekonstruktion von komplexen Handlungsstrukturen am Einzelfall, die Deskription sozia-len Handelns sowie die Rekonstruktion von Sinnkonstruktionen.557 Meine Fragestellung wurde

552 Siehe Kap. 2.

553 Vgl. LAMNEK 2010, S. 349.

554 Vgl. FLICK 2011, S. 177, S. 180 u. S. 185 sowie vgl. ROSENTHAL 1995, S. 215f.

555 Vgl. SCHÄFERS 2001a, S. 333.

556 WEBER zit. in ROSENTHAL 2008, S. 30.

557 Vgl. ROSENTHAL 2008, S. 26 u. Kap. „Einführung“.

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geleitet von der Haltung des „verstehenden Nachvollzugs“558. Die Methode ist in dieser Arbeit das

„Erhebungs- und Auswertungsmittel“, um eine Datenbasis zu schaffen, welche Grundlage für weitere Überlegungen und Forschungen zu einer heilpädagogischen Begleitung und Unterstützung der Väter sein soll.559 Zum Einstieg in dieses Kapitel kläre ich die methodologische Verortung und das methodi-sche Vorgehen im Forschungsprozess dieser Arbeit, um mit der Beschreibung des Samples und der Auswertung abzuschließen.

3.1 THEORETISCHE UND METHODOLOGISCHE VERORTUNG SOZIOLOGISCHE, BIOGRAPHISCHE UND REKONSTRUKTIVE SOZIALFORSCHUNG

Das beobachtete Phänomen und damit das Erkenntnisinteresse, das Wirken von Vätern eines er-wachsenen Kindes mit geistiger Behinderung ohne theoretisches Vorwissen und ohne Hypothesen auch in ihrer Genese anzusprechen und zu beschreiben sowie zu erklären ist thematisch, im Bereich der Heilpädagogik angesiedelt. Als Zugang zum Erkenntnisinteresse fiel die Wahl, wie zuvor beschrie-ben, bei der Durchführung der Erhebung als auch bei der Aufbereitung und Auswertung der Daten auf den soziologisch-biographisch-theoretischen Untersuchungsansatz, der „Interpretativen Sozial-forschung“ nach Gabriele ROSENTHAL (1995, 2008).560 Dieser Untersuchungsansatz wird der verste-henden oder interpretativen Soziologie und einer mikrosoziologischen Perspektive zugeordnet.561 Diese Herangehensweise ermöglicht es, die Lebensgeschichte der Väter sowohl in ihrer Entwicklung als auch in der gegenwärtigen rückblickenden Deutung zugleich wahrnehmen und nachvollziehen zu können und als „[...] ein individuelles und ein soziales Produkt“562 zu erkennen.

Es stellt sich nun die Frage: Welche grundlagentheoretischen und methodologischen Annahmen lie-gen der „Interpretativen Sozialforschung“ nach Gabriele Rosenthal zugrunde? Wie gestaltet sich das methodische Vorgehen? Diese Ausführungen sollen dazu dienen, die gewonnenen Daten in ihrer Reichweite und ihren Grenzen einordnen zu können. Zuvor erfolgt eine skizzenhafte Darstellung der Wurzeln der biographischen Ansätze im Allgemeinen und damit auch der „Interpretativen Sozialfor-schung“. Ausführliche Ausführungen des im Folgenden Zusammengefassten befinden sich bei Wer-ner FUCHS-HEINRITZ (2009) und Gabriele ROSENTHAL (1995, 2008). Eine Sammlung der Grundlagentexte zur Methodologie der Interpretativen Sozialforschung haben Jörg STRÜBING und Bernt SCHNETTLER

(2004) zusammengetragen.

3.1.1 ZU DEN WURZELN DER INTERPRETATIVEN SOZIALFORSCHUNG

Der Begriff „Biographieforschung“ lässt an einen Methodenansatz in der Forschung denken, mit ge-meinsamen Grundlagen, die einen Ansatz gemeinhin ausmachen. Dieses einheitliche Bild trifft jedoch

558 KÖTTIG 2004, S. 61.

559 Siehe Kap. 6.

560 Vgl. ROSENTHAL 2008, S. 162f.

561 Vgl. ROSENTHAL 2008, S. 29 u. vgl.KÖTTIG 2004, S. 61.

562 Vgl. ROSENTHAL 2008, S. 137.

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auf die momentane Situation der biographisch orientierten Forschungslandschaft nicht zu. So schla-gen u.a. Gisela JAKOB (2010) undWernerFUCHS-HEINRITZ (2009)vor, die Begrifflichkeit „biographische Forschungsansätze“ für die Gesamtheit der biographisch orientierten Forschungsmethoden zu ver-wenden. Die Biographieforschung gehört weder der Psychologie noch der Soziologie, weder den Geschichtswissenschaften, der Volkskunde, der Ethnologie, noch den Erziehungswissenschaften al-leine an.563 Jeder der Wissenschaftszweige hat verschiedene Erkenntnisinteressen und Fokusse. So zielt z.B. der Ansatz in der Psychologie, insbesondere der der analytischen Perspektive, auf die Entde-ckung von Persönlichkeitsstrukturen auf Grundlage lebensgeschichtlicher Stegreiferzählung564 ab. In der erziehungswissenschaftlichen Perspektive steht die Lern- und Bildungsgeschichte eines Biogra-phen565 im Zentrum. Die Soziologie hingegen lenkt ihren Blick sowohl auf die Gesellschaft566 und de-ren Systeme, als auch auf das Erleben der Biographen sowie dede-ren Verhalten und Handlungen.567 Dabei gehe ich im Rahmen dieser Arbeit nicht auf die Bandbreite von theoretischen Ansätzen zur Biographie ein. Ich verweise an dieser Stelle lediglich stellvertretend auf die theoretischen Grundla-gen u.a. von Wolfram FISCHER und Martin KOHLI (1987), Wolfram FISCHER-ROSENTHAL und Peter ALHEIT

(1995); Gabriele ROSENTHAL (1995, 2008); Bettina DAUSIN (1996); Peter ALHEIT und Bettina DAUSIEN

(2000); Bettina VÖLTER, Bettina DAUSIN, Helma LUTZ und Gabriele ROSENTHAL (2005). Neben der zuvor genannten Grundlagenliteratur ist in den letzten Jahren eine Reihe von Forschungsvorhaben mit Hilfe der Interpretativen Sozialforschung durchgeführt worden.568

Die Geschichte der biographischen Forschung im universitären Kontext begann in den 1920er Jahren und verlief in der Psychologie und Soziologie annähernd parallel. Für die universitäre psychologische Forschung ist in dieser Zeit vor allem die Psychoanalyse kennzeichnend. Psychoanalytische Gesprä-che sind nicht nur ein biographisGesprä-ches Forschungsverfahren, sondern darüber hinaus hat Sigmund FREUD historische und biographische Quellen von Personen der Geschichte interpretiert (z.B. Leonar-do da Vinci oder Mose). Seine Arbeiten nehmen jeLeonar-doch nicht das gesamte Leben der Person in den Blick, sondern untersuchen vor allem prägende Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend und geben ihr

563 Vgl. JAKOB 2010, S. 219 u. vgl. FUCHS-HEINRITZ 2009, S. 9ff.

564 Fritz SCHÜTZE (1984)verwendet hierfür den Begriff „kognitive Figur des autobiographischen Stegreiferzählens“.

565 Mit der Verwendung des Wortes „Biograph“ lehne ich mich an Gabriele ROSENTHAL an, welche auch von „BiographInnen“

spricht (vgl. u.a. ROSENTHAL 2008, S.172). In dieser Arbeit nutze ich der Einfachheit halber das Wort die männlichen Wort-formen „Biograph“/“Erzähler“, da mir Väter ihre Biographie erzählt haben. Das Dargestellte kann jedoch auch auf jede Person angewandt werden.

566 Zur „Gesellschaft“ wird in dieser Arbeit folgendes Verständnis zugrunde gelegt:„[…]dass sie da existiert, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten. Irgendeine Anzahl von Menschen wird nicht dadurch zur Gesellschaft, dass in je-dem für sich irgendein sachlich bestimmter oder ihn individuell bewegender Lebensinhalt besteht; sondern erst, wenn die Lebendigkeit dieser Inhalte die Form der gegenseitigen Beeinflussung gewinnt, wenn eine Wirkung von einem auf das andere – unmittelbar oder durch ein Drittes vermittelt – stattfindet, ist aus dem bloß räumlichen Nebeneinander oder auch zeitlichen Nacheinander der Menschen eine Gesellschaft geworden“ (SIMMEL 1992 zit. in ROSENTHAL 2008, S. 29). In dieser Konzeption wird Gesellschaft „[…] als ein durch den Prozess der Interaktion stets neu hervorgebrachtes Produkt verstanden und nicht als ein vorgegebenes statisches Gebilde“ (ebd.). SIMMELS Verständnis liefert somit bedeutende ba-sistheoretische Vorarbeiten für ein sequenziell rekonstruktives und mikrosoziologisches Vorgehen der interpretativen Sozialforschung (vgl. ebd.).

567 Vgl. KRÜGER 2006, S. 14 u. vgl. ROSENTHAL/FISCHER-ROSENTHAL 2012, S. 456f.

568 Zu nennen sind hier u.a. die die Untersuchungen von Carla WESSELMANN (2009), Michaela KÖTTIG (2004), IngridMIETHE, ClaudiaKAJATIN und JanaPOHL (2004), Ingrid MIETHE (1999) und Gaby STRASSBURGER (2003).

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besondere Bedeutung. In den 1920er bis 1930er Jahren erlebte die biographische Forschung am psy-chologischen Institut der Universität Wien im Umkreis von Karl und Charlotte BLÜHER eine Blüte. Auf-grund ihrer Studien zu Kindheit und Jugend forderten sie in ihrem Werk „Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem“ (1933), einzelne Handlungen vor dem Hintergrund der gesamten Le-bensspanne zu sehen.569

Als Beginn des soziologischen biographischen Forschungsansatzes wird die Arbeit von William Isaac THOMAS und Florian ZNANIECKI (1918-1920) mit der Migrationsstudie „The Polish peasant in Europe und Amercia“570 von der Universität in Chicago gesehen. Diese Studie hat gleich in mehrerer Hinsicht Neuland betreten: mit der Orientierung am Einzelfall, der biographischen Sozialwissenschaft, der Auswertung von „personal documents“ und der Arbeit mit Menschen mit Migrationshintergrund.571 In dieser Studie stellten sie neben Dokumentenanalysen des Migrationsprozesses die Biographie eines polnischen Migranten dar. Sie schreiben, sie waren „sicher, dass persönliche Lebensberichte – so vollständig wie möglich – den perfekten Typ von soziologischem Material darstellen“572. Sie sind der Auffassung, dass autobiographische Daten den Zugang zu subjektiven Einstellungen und Erfah-rungen ermöglichen. Aus dieser Studie entwickelte sich am dortigen soziologischen Institut durch die Aktivitäten von Ernst W. BURGESS und Robert E. PARK die biographische Methode. Bei ihren Arbeiten erkannten sie die Bedeutung der Erfassung der subjektiven Sicht, des sozialen Handelns vor dem Hintergrund der Handlungsgeschichte und deren unterschiedliche Milieus. Hinzu kommt das Erken-nen des Gewinns aus der Rekonstruktion der sozialen Lebenswelt und deren Nutzen für Anregungen in der sozialen Praxis.573

Ab den 1970er Jahren besinnt sich die Soziologie zurück auf die Arbeiten der Forscher der Chicago School und es kommt zu einer regelrechten Blüte der Interpretativen Sozialforschung gerade im deutschsprachigen Raum. „Soziologie des Lebenslaufs“, herausgegeben von Martin KOHLI 1978, war der erste Sammelband zur soziologischen Biographieforschung. In diese Zeit fällt ebenfalls die Ent-wicklung der Erhebungsmethode des narrativen Interviews nach Fritz SCHÜTZE (1983), welches sich in der „biographischen Forschung“ etabliert und sie gefördert hat.574 Es folgten u.a. 1984 neben Günter ROBERT der von Martin KOHLI herausgegebene Band „Biographie und Soziale Wirklichkeit“. Im gleichen Jahr veröffentlichte Werner FUCHS seine Einführung in die Biographieforschung. Mit seinen pragmati-schen und empiripragmati-schen Schriften hat Martin KOHLI maßgeblich zu der Etablierung und Verbreitung der Biographieforschung in Deutschland beigetragen. Bis heute haben sich die biographischen For-schungsansätze auch in anderen sozialen und humanwissenschaftlichen Fachdisziplinen etabliert

569 Vgl. ROSENTHAL 2008, S. 161f.

570 Eine gekürzte Form der methodologischen Vorbemerkung zu dieser Studie von den beiden Autoren findet sich bei STRÜBING/SCHNETTLER 2004, S. 247-266.

571 Vgl. STRÜBING/SCHNETTLER 2004, S. 247.

572THOMAS/ZNANIEKI (1958) zit. in ROSENTHAL 2008, S. 162.

573 Vgl. ROSENTHAL 2008, S. 162.

574 Siehe Kap. 3.2.1 (Erhebungsmethode) u. vgl. ROSENTHAL 1995, S. 12.

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(siehe oben). Die Disziplin der Psychologie entdeckte in den vergangenen Jahren dieses Konzept wie-der neu.575

3.1.2 ZU DEN METHODOLOGISCHEN UND THEORETISCHEN VORANNAHMEN

Die Hintergrundtheorien der Interpretativen Sozialforschung nach Gabriele ROSENTHAL beruhen auf zwei methodologischen Fundamenten: dem Fundament der Theorie des „Symbolischen Interaktio-nismus“, welcher auf der Identitätstheorie von Georg Herbert MEAD (1863-1931) und seinem Schüler Herbert BLUMER formuliert wurde, sowie auf dem Fundament der Methodologie der „verstehenden Soziologie“576 (1913; 1921) nach Max WEBER (1864-1920), welche von Alfred SCHÜTZ (1899-1959) wei-terentwickelt wurde.577

Zum Symbolischen Interaktionismus

SiegfriedLAMNEK (2010) schreibt:

„Unter symbolischer Interaktion versteht man […] ein wechselseitiges, aufeinander be-zogenes Verhalten von Personen und Gruppen unter Verwendung gemeinsamer Symbo-le, wobei eine Ausrichtung an den Erwartungen der Handlungspartner aneinander er-folgt. Daneben gibt es auch nicht-symbolische Interaktionen, d.h. reflexartiges aufeinander bezogenes Verhalten […]“578

Die Sprache ist dabei ein besonders wichtiges Symbol.579 Drei methodologische Aussagen können konkretisiert werden: 1.) Menschen handeln auf der Grundlage der Bedeutung der Objekte (auch Personen), die sie für sie haben. 2.) Das Zusammenleben wird als ein Prozess der Entwicklung von Handlungsstrukturen verstanden. 3.) Eine Person steht einer aktuellen Situation gegenüber und ar-beitet eine Handlungslinie heraus. Dies gilt sowohl für kollektive als auch individuelle Aktivitäten des Handelnden. Das Handlungskonzept wird aufgrund von Beobachtungen von Interaktionsprozessen und den sich daraus ergebenen Kategorien zusammengesetzt. Die Bedeutung ist dabei nicht statisch, sondern wird in einer interaktiven Aushandlung immer wieder ermittelt. Diese Überlegungen können sowohl auf Organisationen, Instruktionen oder Schichtstrukturen übertragen werden.580 Herbert BLUMER (1973) schreibt als Handlungsmaxime für Forschende:

„Berücksichtigen Sie die Beschaffenheit der empirischen Welt und bilden Sie eine me-thodologische Position aus, um diese Berücksichtigung zu reflektieren. Dies ist das, was meines Erachtens der symbolische Interaktionismus zu tun bemüht ist.“581

575 Vgl. ROSENTHAL 2008, S. 162f.

576 Obgleich diese zu ihrer Zeit stärker auf theoretische und makrosoziologische Fragestellungen ausgerichtet waren, liefern sie Grundlagen für die Methodologie der interpretativen Methoden (vgl. ROSENTHAL 2008, S. 29).

577 Vgl. ROSENTHAL 2008, S. 29ff. u. vgl. WESSELMANN 2009, S. 64.

578 LAMNEK 2010, S. 35.

579 Vgl. ebd.

580 Vgl. LAMNEK 2010, S. 77 u. vgl. DENZIN 2012, S. 138f.

581 BLUMER 1973 zit. in LAMNEK 2010, S. 77.

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Der symbolische Interaktionismus ist den „Verhaltens- und Handlungstheorien“ in der Soziologie zuzuordnen.582

Zur „verstehenden Soziologie“

Das zweite methodologische Fundament bildet die „verstehende Soziologie“, welche in erster Linie mit den Überlegungen von Max WEBER in Verbindung gebracht wird und von Alfred SCHÜTZ weiter entwickelt wurde.583 Auf die „verstehende Soziologie“ gehe ich in der Folge näher ein.

Das Erkenntnisinteresse von Max WEBER bezieht sich auf die empirische Wirklichkeit, die er wie folgt versteht:

„Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen - den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres ge-schichtlichen so-und-nicht-anders Gewordenseins andererseits.“584

Anders formuliert – Ziel ist, den subjektiven Sinn des sozialen Handelns prozesshaft zu verstehen.

Warum haben sich z.B. die Väter entschieden, mit ihrem erwachsenen Kind mit Behinderung zusam-men zu wohnen? Dabei geht Max WEBER von der Existenz eines Sinnes aus. In der Folge erweitert Alfred SCHÜTZ die Sinnsuche mit den Fragen: Wie konstruiert sich der subjektive Sinn, und wie wird er objektiv von anderen verstanden?585 Somit liegt die grundsätzliche Annahme der interpretativen Sozialforschung darin, dass Personen auf Grundlage ihrer Deutungen der sozialen Wirklichkeit han-deln. Weiterführend soll es in dieser Untersuchung darum gehen, wie Professionelle in der Behinder-tenhilfe diesen subjektiven Sinn verstehen können.

Im Gegensatz zu Max WEBER geht Alfred SCHÜTZ einen Schritt zurück und fragt nicht ausschließlich nach Handlungsmotiven, sondern setzt diese in Bezug zur umgebenden Sozialwelt. Dadurch ver-knüpft er die Phänomenologie,586 das Konzept der Lebenswelt von Edmund HUSSERL (1859-1938), mit dem verstehenden Ansatz von Max WEBER.587 Die Auffassung von Edmund HUSSERL von der „Welt der natürlichen Einstellung“588 ist die Welt unseres alltäglichen Lebens. Diese Welt ist uns vertraut, wir nehmen sie als selbstverständlich hin und sie ist uns allen gemeinsam, das heißt, es ist eine

582 Vgl. PEUCKERT 2001b, S. 353ff.

583 Vgl. WESSELMANN 2009, S. 64; vgl. ROSENTHAL 2008, S. 26ff. u. S. 165; vgl. ROSENTHAL/FISCHER-ROSENTHAL 2012, S. 458 sowie das Buch „Methodologie interpretativer Sozialforschung, Klassische Grundlagentexte“ von STRÜBING/SCHNETTLER 2004.

584 WEBER 2004, S. 65.

585 Vgl. WESSELMANN 2009, S. 64f.

586 Phänomenologie bei Edmund HUSSERL hat seine Grundlage darin, dass sie sich für die Erfassung des Wesens einer Er-scheinung interessiert, und sich nicht ausschließlich auf Beobachtungen von Vorgängen im Sinn von naturwissenschaft-lichen Erkenntnissen bezieht. Aus diesem Ansatz heraus werden auch Bewusstseinsgegebenheiten zum Untersuchungs-gegenstand und nicht nur konkrete, sinnliche Dinge oder Vorgänge. Sie ist vorurteilsfrei und lässt das theoretische Wissen außen vor. Das heißt, es wird sich fremdgemacht, der Gegenstand wird ohne Vorwissen betrachtet bis die Struk-tur und das Wesen von selbst sichtbar wird (vgl. LAMNEK 2010, S. 45).

587 Vgl. PEUCKERT 2001b, S. 357 u. vgl. WESSELMANN 2009, S. 65.

588 HUSSERL zit. in PEUCKERT 2001b, S. 357.

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jektive Welt.589 Ausgehend von den beiden Ansätzen von Max WEBER und Edmund HUSSERL entwickelt Alfred SCHÜTZ die soziologische Theorie der „Lebenswelt“.590 Alfred SCHÜTZ ist damit der bedeutends-te Vertrebedeutends-ter der phänomenologischen Soziologie. Sie lässt sich methodologisch zu den mikro-soziologischen Theorieansätzen sowie inhaltlich in die Systematik der Verhaltens- und Handlungs-theorien einordnen.591 Der phänomenologische Ansatz in der Soziologie nimmt die Beschaffenheit der alltäglichen Lebenswelt als seinen Untersuchungsgegenstand. Es geht um die Identifizierung des Alltagslebens in seinen Grundstrukturen. Im Zentrum steht die Art und Weise, wie soziale Akteure ihr Handeln typisieren und auf welches vorhandene Wissen sie zugreifen, um ihrem Handeln Sinn zu verleihen.592 Alfred SCHÜTZ sieht als Aufgabe der Soziologie

„[…] den durch das wechselseitige Handeln der Menschen entstehenden sinnhaften Aufbau der sozialen Wirklichkeit zur rekonstruieren.“593

Sein Augenmerk liegt dabei auf dem „Alltag“. In seinem Verständnis von „Lebenswelt“ sieht Alfred SCHÜTZ die gegebene Wirklichkeit, welche intersubjektiv strukturiert ist. Eine Person wird hineingebo-ren in die intersubjektive Wirklichkeit. In dieser Welt bekommt sie Zugang zum gesellschaftlich „ver-fügbaren Wissensvorrat“594, wie es Alfred SCHÜTZ nennt. Dieser Wissensvorrat ist an die biographi-sche Situation gebunden. Das bedeutet auch, dass diese Welt immer schon eine interpretierte Welt ist.595 Diese ist weitgehend sozial vermittelt und hat Sinn sowie Ordnung.596 Die Verknüpfung der intersubjektiven Sozialwelt und den Sinn des sozialen Handelns einer Person herzustellen, stellt einen hohen Anspruch dar. Um die alltägliche Sozialwelt und das Handeln einer Person auslegen zu kön-nen, beschreibt Alfred SCHÜTZ die Mechanismen, die ein Verstehen (Fremdverstehen) eines Gegen-übers ermöglichen. Aus der Perspektive der hier vorliegenden Arbeit seien hier vor allem drei Me-chanismen genannt: erstens ein Verstehen aus den gemachten Erfahrungen der Vergangenheit;

zweitens die Annahme, dass angenommen wird, dass die Erfahrung im Gestern ihre Gültigkeit für ähnlich empfundene Situationen im Heute behält und drittens, das Handeln des Gegenübers zu typi-sieren.597 Hinzu kommt, dass diese Mechanismen sich gegenseitig bedingen. Zudem entwickelte er die These, dass ein Wechsel der Perspektive („Reziprozität der Perspektiven“)598 möglich ist, dessen Fundament auf den gedanklichen Konstruktionen eines jeden Einzelnen ruht. Das

589 Vgl. PEUCKERT 2001b, S. 357.

590 Vgl. ENDREß 2006, S. 338.

591 Die Zielperspektive der mikrosoziologischen Theorieansätze ist auf die Handlungsebene von Kleingruppen und Individu-en bezogIndividu-en (vgl. GUKENBIEHL/SCHÄFERS 2001, S. 342).

592 Vgl. PEUCKERT 2001b, S. 356f.

593 ENDREß 2006, S. 338.

594 SCHÜTZ zit. in PEUCKERT 2001b, S. 357.

595 Vgl. PEUCKERT 2001b, S. 357.

596 Alfred SCHÜTZ weist darauf hin, dass das Wissen einer Person nur zu einem geringen Teil auf eigenen Erfahrungen auf-baut. Der weitaus größere Teil ist von dem sozialen Umfeld (z.B. Familie, Freunde, Lehrer, Trainer) abgeleitet (vgl.

SCHÜTZ 2004, S. 166 u. vgl. PEUCKERT 2001b, S. 357).

597 Vgl. SCHÜTZ 2004, S. 168-171 u. vgl. WESSELMANN 2009, S. 65.

598 Vgl. SCHÜTZ 2004, S. 164f. u. vgl. PEUCKERT 2001b, S. 357.

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Wissen“599 wird also nicht nur zwischen zwei Personen geteilt, die in einer Beziehung zueinander stehen, sondern es wird gezeigt, dass die umgebende Sozialwelt ebenfalls intersubjektiv konstruiert ist. Aus dieser Tatsache heraus leitet Alfred SCHÜTZ ab, dass in dieser Welt lebende Personen theore-tischen Zugang zum Wissensvorrat haben.600

Gabriele ROSENTHAL nennt drei grundlagentheoretische Vorannahmen, um Zugang zu diesem Wis-sensvorrat einer Person zu bekommen:

„1. Um soziale oder psychische Phänomene verstehen und erklären zu können, müssen wir ihre Genese – den Prozess ihrer Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung – re-konstruieren.

2. Um das Handeln von Menschen verstehen und erklären zu können, ist es notwendig, so-wohl die Perspektiven des Handelnden als auch die Handlungsabläufe selbst kennen zu lernen. Wir wollen erfahren, was sie konkret erlebt haben, welche Bedeutung sie ihren Handlungen damals gaben und heute zuweisen und in welchen biographisch konstituier-ten Sinnzusammenhang sie ihre Erlebnisse und Handlungen stellen.

3. Um die Aussagen eines Interviewten/Biographen über bestimmte Themenbereiche und Erlebnisse seiner Vergangenheit verstehen und erklären zu können, ist es notwendig, sie eingebettet in den Gesamtzusammenhang seines gegenwärtigen Lebens und in seine daraus resultierenden Gegenwarts- und Zukunftsperspektive zu interpretieren.“601

Die Begriffe „Verstehen“ und „Erklären“ verwendet sie in diesem Zusammen ebenfalls im Sinne von

Die Begriffe „Verstehen“ und „Erklären“ verwendet sie in diesem Zusammen ebenfalls im Sinne von

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