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Der berufliche Aufstieg und die Familiengründung

Im Dokument Permanente Vaterschaft (Seite 181-200)

Nach seiner Haftentlassung arbeitet Paul weiter als Angestellter bei BMW und beginnt an der Abend-schule mit dem Abitur. Damit hat er den schulischen Ausbildungsanspruch der bürgerlichen Schicht vor Augen.

IP: „versucht mein ABITUR nachzuholen, dis hab ich aber/ da hab ich mich im ersten jahr ÜBERFORDERT. ich war da NERVLICH dazu garnicht in der LAGE. da musst ich einfach nachher nochmal - DIE KLASSE WIEDERHOLN“1048

Wie in seiner Aussage deutlich wird, kämpft er in dieser Zeit mit den Folgen der Haft. Wahrscheinlich versucht er, mit der Abendschule seine Erlebnisse zu verdrängen, was ihm in dieser Zeit nur schwer-lich gelingt. Es ist für ihn eine instabile Zeit. Ob es eine Person gibt, die ihm Orientierung gibt, geht aus dem zur Verfügung stehenden Material nicht hervor. Um, wie er es sagt, seine schlechten

1048 Interview Paul KAUFMANN, Zeile 546-549.

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Sprachkenntnisse zu verbessern, fährt er in den Ferien auf Sprachreisen. Im Sommer 1965 lernt er dort eine Liechtensteiner Arzttochter kennen; sie entstammt aus einer einflussreichen und bekann-ten Professoren- und Industriellenfamilie aus dem Alpenraum. Die Familiengeschichte der Frau lässt sich bis ins 12. Jahrhundert zurückführen. Ihre Familie ist ebenfalls bürgerlich, sie ist zwei Jähre älter als er und eine ausgebildete Zahntechnikerin. Dass sie sich auf einer Sprachreise kennenlernen, zeigt den Wert von Bildung und Sprachen in der Familie der Frau. Die meisten Frauen haben, wie ein Blick auf den Stammbaum ihrer Familie zeigt, eine Berufsausbildung. Paul KAUFMANN und die Arzttochter können sich fortan nur in größeren Abständen sehen. 1967 zieht sie zu ihm nach Berlin und arbeitet in ihrem erlernten Beruf in einer Zahnarztpraxis. Seine Mutter macht eine Zweigstelle ihres Finanzbe-ratungs- und Bilanzberatungsbüros in Bonn auf. 1969, im Alter von 26 Jahren, beendet Paul KAUFMANN sein Abitur. Das war, wie er sagt, die Erlaubnis zum Heiraten. Mit der Heirat grenzt er sich familiär von der Mutter ab; ein erster Schritt in die Selbstständigkeit. Im Sommer desselben Jahres beginnt er ein Wirtschaftsstudium in Berlin. Seine Studienentscheidung begründet er so:

IP: „GUT - in den SCHLECHTEN ZEITEN ist die FAMILIE mit der Finanzberatung GUT durchge-kommen, MACHSTE dis auch.“1049

Die Entscheidung wirkt heute noch sachlich und pragmatisch (nach dem Motto „Schuster bleib, bei deinem Leisten – geh kein Risiko ein.“1050). Diese Lebensphase des Abiturs, der Heirat und des Stu-dienbeginns fällt in die Zeit der Studentenproteste der „68ern- Generation“, mit Schwerpunkt an den West-Berliner Universitäten.1051 Um sein Handeln zu verstehen, lohnt sich ein Exkurs in diese Zeit.

Exkurs: Studentenproteste

Es waren die Jahre der Rebellion, einer neuen Linken- und der Studentenbewegung. Die antiautoritä-ren Studentenproteste waantiautoritä-ren wie kein anderes Ereignis, welches die Geschichte der Nachkriegszeit der Bundesrepublik in ihrer politischen Diskussionen, bleibend geprägt hat.1052 Seit Ende der 50er Jahre erlangen die Schriften der „Kritischen Theorie“ in intellektuellen Kreisen zunehmend an Bedeu-tung. Gegenstand ihrer Theorie ist

1049 Interview Paul KAUFMANN, Zeile 954-956.

1050 Vgl. auch Kap. 4.1.2.1 u. vgl. Kap. 4.1.2.3 (die offizielle Übersiedlung der Mutter nach Westberlin 1954).

1051 Vgl. SCHILDT 2005, S. 132.

1052 Diese unruhige Zeit wurde in der Folge als Zeit der „68er“ bezeichnet und stilisiert den Bruch von der vorhergehenden

„bleiernen“ Zeit und der nachfolgenden modernen Zeit. Andere eher konservative Stimmen beklagen die Zerstörung der geordneten Verhältnisse. Gemeinsam dieser entgegengesetzten Bewertung der Zeit der 68er ist die „mythische Überhöhung“, wie der Historiker und Professor für neuere Geschichte an der Universität Hamburg Axel SCHILDT (2005, S.

132) schreibt. Diese Überhöhung ist in dem unerwarteten Ausbruch, der Vehemenz, dem Verzahnen von politischen und kulturellen Ereignissen und dem medial vermittelten Gefühl von weltweiter Gleichzeitigkeit zu sehen, schreibt Axel SCHILDT (2005) weiter. Für die meisten Beteiligten war ihr Aufbegehren mehr ein Lebensgefühl als eine Erkenntnis einer theoretischen Auseinandersetzung. Nichts desto trotz war der Protest bei weitem nicht unpolitisch, er beinhaltete durchaus Utopien einer radikalen Gesellschaftsveränderung (vgl. ebd.).

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„[…] das bestehende (Gesellschaftlich und Bewußtsein, Kunst und Kultur) am Maßstab seiner besseren Möglichkeiten zu kritisieren und damit zur Bewußtmachung personaler und sozialer Defizite und zur Gesellschaftsveränderung beizutragen.“1053

Es ist eine Gesellschaftstheorie, welche auf Max HORKHEIMER (1895-1973) aus dem Jahre 1937 (Tradi-tionelle und Kritische Theorie) zurückgeht und von Sigmund FREUD, Georg Wilhelm Friedrich HEGEL

und Karl MARX inspiriert ist.1054 Es war die Zeit des Kalten Krieges. Es gab weltweite Proteste gegen die Grausamkeiten des Vietnamkrieges1055, Ostermärsche gegen die atomare Kriegsgefahr in West-berlin, es gab Enthüllungen von Politikern, von Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Wissenschaft zu ihrer NS-Vergangenheit. An der Hamburger Universität provozierten Studierende anlässlich einer Hochschulfeier mit dem Plakat „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“.1056 Es bildeten sich in Westberlin die politisch motivierten gemischten Wohngemeinschaften der Kommune, genannt K1 und K2 oder die Hamburger „Hasch-Kommune“. Es entstand eine Hippie-Kultur, welche auf öffentli-che Ablehnung und Unverständnis stieß und mit Drogenkonsum und hemmungsloser Sexualität in Verbindung gebracht wurde. Die Massenmedien vermittelten mit Bildern und Texten ein Lebensge-fühl nicht nur in der Öffentlichkeit sondern bei den Studierenden selbst. Dies bedeutete einen abso-luten Bruch der bis dahin gültigen bürgerlichen Wert- und Moralvorstellungen. Es fand eine heftige Ablehnung des liberalen Denkens und eine Geringschätzung des bürgerlichen Rechtsstaates1057 statt.1058 Nur ein kleiner Personenkreis der 68er-Bewegung radikalisierte sich zu Terrorzirkeln. Deren bekannteste ist die Rote Armee Fraktion (RAF). In der Folge der Aufsplitterung kam es in breiten Tei-len der Bevölkerung zu einer Diskussion u.a. um Kindererziehung, die Gleichstellung der Frau bis hin zur Toleranz von Andersgeschlechtlichkeit.1059

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Mit seiner Studienbegründung und -entscheidung legt er den Grundstein für das Fortführen der Be-rufs- und Einkommenstradition seiner Familie. Gerade vor diesem Hintergrund ist es eine pragmati-sche Entpragmati-scheidung hin zur und nicht weg von der Herkunftsfamilie und ihren Werten sowie Normen.

Sie bietet in seinen Augen eine sichere Basis für seine Zukunft. Er kann auf die Erfahrung in der Fami-lie bauen. Er entscheidet damit nicht in Opposition zur HerkunftsfamiFami-lie, er bricht nicht aus, sondern passt sich der Linie an – trotz der „68er“- Bewegung, welche ja in Opposition dazu steht. Er geht kein Risiko ein. Vielleicht auch vor dem Hintergrund seiner Haftzeit.1060 Die Orientierung an den Werten

1053 SCHÄFERS 2001b, S. 351.

1054 Vgl. ebd.

1055 In der jugendlichen Protestbewegung galt der Vietnamkrieg als ein Beweis für den Verrat der westlichen Kriegsparteien an allen humanistischen Idealen. Die grausame Kriegsführung konnte im Fernsehen mitverfolgt werden. Er gilt als Fern-seherkrieg der Geschichte (vgl. SCHILDT 2005, S. 134).

1056 Vgl. SCHILDT 2005, S. 132 u. S. 135.

1057 Bei der formalen Betrachtung dieses Phänomens der Geringschätzung des bürgerlichen Rechtsstaates trug es zwar antiwestliche Züge, war jedoch in allen westlichen Ländern anzutreffen (vgl. SCHILDT 2005, S. 138).

1058 Vgl. SCHILDT 2005, S. 138.

1059 Vgl. ebd., S. 89, S. 139 u. S. 142.

1060 Vgl. Kap. 4.1.2.3.

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der (seiner) Elterngeneration wird ebenfalls an der Tatsache deutlich, dass er standesgemäß eine Frau aus einer etablierten Familie des Bürgertums heiratet. An der „Erlaubnis“ zur Hochzeit werden der Einfluss, die Erwartung und damit auch die Dynamik in der Familie erkennbar. Unklar bleibt, wel-che Rolle die Familie hinsichtlich der Finanzierung seines Abiturs und Studiums hat, und ihn dadurch womöglich beeinflusst - nach dem Motto „Wenn du in die DDR kommst (BWL studierst), bekommst du ein Pferd (Unterstützung)?“ – dem Prinzip „Fördern und Fordern“.

Anfang Dezember 1970 kommt der erste Sohn Karl zur Welt. Sein Zweitname ist Ludwig, der Rufna-me seines Großvaters mütterlicherseits. Familie Paul KAUFMANN erwirbt käuflich 1971 das Nachbar-haus, ebenfalls ein Mietshaus. Herr KAUFMANN kümmert sich während des Studiums um das Kind und seine Frau arbeitet in ihrem Beruf weiter. Damit erhalten sie ihre finanzielle Unabhängigkeit von ih-ren Eltern. Mit dem „Rollentausch waih-ren wir fortschrittlich“ sagt er.1061 Zum Vergleich: Seine Mutter hat ebenfalls im Nachkriegsdeutschland einen Rollentausch vollzogen, wurde zum Ernährer der Fami-lie. Gleichzeitig muss er sich in der gut-bürgerlichen Öffentlichkeit seiner Wohngegend verteidigen.

Er bietet z.B. ein ungewöhnliches Bild, wenn er mit dem Kind einkaufen geht, muss sich so manchmal rechtfertigen und sagt im Nachgespräch: „Ich wurde auf dem Wochenmarkt, wenn ich mit dem Kind unterwegs war, angeschaut und angesprochen, ob ich nichts zu tun hätte oder meine Frau schi-cke“.1062 Beim Betrachten der Rahmenbedingungen (Studium, Frau arbeitet beim Arzt) ist es jedoch gleichzeitig eine abgewogene und pragmatische finanzielle Entscheidung. Mit dem Hauskauf geht er einen weiteren Schritt in Richtung familientraditioneller Absicherung und Aufbau seiner Familie. Als Paul KAUFMANNS Kind geboren wird, studiert er noch, eine ähnliche Situation wie die, als er Kind war und seine Mutter ihre Ausbildung begonnen hatte. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass sein Kind Mutter und Vater hat. Für ihn als Vater ist es Neuland, da er selbst kein direktes Vatervorbild hatte.

Inwiefern seine Mutter diese Hinwendung zur Familie honoriert und die junge Familie finanziell un-terstützt (z.B. beim Hauskauf), ist nicht bekannt. Er geht mit seinem Hauskauf zwar räumlich auf Dis-tanz, im Gegensatz zu seiner Mutter bleibt er jedoch in ihrer Nähe. Aus seiner Erfahrung bilden die Mieteinnahmen für seine Familie ein sicheres und bekanntes Standbein. Sein Handeln zeigt, dass er sich an den Erfahrungen der Familie zwar stark orientiert, sich jedoch den aktuellen Gegebenheiten moderat anpasst. Trotz der Fortführung familiärer Handlungsstrukturen geht er auf Distanz zu seiner Mutter und grenzt sich ab.

Zwei Jahre später, Ende 1972, kommt sein zweites Kind, Paula-Katharina, zur Welt. Gerufen wird sie Paula; Paula ist auch der Zweitname ihrer Großmutter mütterlicherseits. Im Krankenhaus wird bei ihr die Diagnose „Down-Syndrom“ gestellt. Das kam für ihn wie aus „heiterem Himmel“1063 – damit stirbt

1061 Vgl. Interview Paul KAUFMANN, Zeile 768.

1062 Memo Interview Paul KAUFMANN, S. 2f.

1063 Vgl. Interview Paul KAUFMANN, Zeile 1095.

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Abbildung 3: Genogramm der Familie KAUFMANN zur Geburt von Tochter Paula

o o o o

o o o o o 1969 o

o ? o o o Kaufmann Ber.1:Elektroinstalateur Ber.2:Studium der Betriebswirtschaft in Berlin

Paul * 1943

* ? B4:Mietshäuser in Berlin -Karlshorst B5:Finanzberater B6:Haus mit Garten und Orangerie am Mügelsee

* ? Kaufmann Ber.1:Finanzberaterin Ber.2:staatl. geprüpfte Bilanzbuchhalterin

* ?* ?

Kaufmann B4:Soldat

* 1918 1944

Kaufmann geb. ? B4:wohnte in Bonn

* ?

Kaufmann B4:Mietswohnungen in Königsberg B5:wohnten Ostseebad Cranz B6:Vermögen verloren

* ? um 1923 Kaufmann Ber.1:Kapitän

* ? geb. Kaufmann

* ?

? * ?* ? Kaufmann B4:aus Liechtenstein B5:Zahntechnickerin

AnnaMadlenn * 1941 LudwigKarl * 1970Katharina Paula * 1972

Anna-Paula * 1908 Ber.1:Arzt B4:Liechtenstein

LudwigHans * 1897 * ? getrennt durch die Insellage Westberlins

Familie Kaufmann 1972 getrennt durch die innerdeutsche Grenze 1961

- - - innerdeutsche Grenze 1961

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eine Hoffnung und Erwartung in ihm. Im Genogramm (siehe zuvor Abbildung 3) wird die damalige Familiensituation zusammengefasst dargestellt. Wie aus dem Genogramm ersichtlich wird, stehen zur innerfamiliären praktischen Unterstützung der jungen Familie KAUFMANN ausschließlich seine Mutter und sein Stiefvater räumlich zur Verfügung. Die junge Familie befindet sich, wie zuvor ausge-führt, zu diesem Zeitpunkt gerade in der Familienaufbauphase und braucht alle Ressourcen zum Vo-rankommen, um sich ihren Platz in den angestrebten bürgerlichen Kreisen zu erhalten und zu si-chern. Die Eltern der Frau sind bedingt durch deren Wohnsitz in Liechtenstein und die Insellage Westberlins weit entfernt und können maximal informelle Hilfe sein. Die gesamte Familie der Mutter Paul KAUFMANNS ist durch den Bau der Mauer von der Familie abgetrennt. In der Folge werden vor-dergründige Paradigmen in der Behindertenhilfe der Bundesrepublik Deutschland zum Zeitpunkt der Geburt von Tochter Paula vorgestellt.

Exkurs: Behindertenhilfe um 1970 in Westdeutschland

In einem Artikel von 1966 in der Vierteljahresschrift der Lebenshilfe in Heft 1 gibt Wolfgang GÜNTHER

auf die Frage nach „Erziehung des geistig behinderten Kindes im Elternhaus oder Heim?“ wie folgt Empfehlungen:

„Gegebenheiten, die für eine Erziehung im Elternhaus sprechen

Ein geistig behindertes Kind sollte im Elternhaus erzogen werden und dort so lange blei-ben, wie es möglich ist, dem Kind gerecht zu werden, besonders hinsichtlich seiner schwach entwickelten geistigen Kräfte. Die Zuwendung der liebevollen Mutter und die Geborgenheit in der harmonischen Familie kann durch nichts ersetzt werden. Besonders in der frühen Kindheit sollte alles versucht werden, auch schwierige häusliche Verhält-nisse so zu gestalten, daß dem behinderten Kind die Nestwärme der Familie erhalten bleibt. […] Bei der Frage, ob das behinderte Kind im Elternhaus erzogen werden kann, sind viele Gesichtspunkte zu berücksichtigen. […] Zusammenfassend kann gesagt wer-den, daß die Erziehung im Elternhaus für die Kinder zu empfehlen ist, die keine ärztliche oder orthopädische Spezialbehandlung brauchen, die liebevoll in den Familienkreis ein-gebettet sind, keine schwerwiegenden Verhaltensstörungen aufweisen und vom Eltern-haus aus stundenweise eine Fördereinrichtung für geistig behinderte Kinder besuchen können, wenn sie das entsprechende Alter erreicht haben. Auch eine ausreichend große und geeignete Familienwohnung ist Voraussetzung sowie Eignung, Wille, Kraft und Ge-sundheit der Mutter, sich der Pflege und Erziehung des behinderten Kindes zu widmen, ohne dabei ihre Ehe und ihre gesunden Kinder zu vernachlässigen. So ist es oft möglich, das Kind verhältnismäßig lange in der Familie zu behalten. Schwierigkeiten tauchen auf, wenn die Kinder heranwachsen. […] Heranwachsende geistig Behinderte werden auf die Dauer nur dann im Elternhaus bleiben können, wenn eine Anlernwerkstatt oder eine Be-schützte Werkstatt ihnen Beschäftigung und Arbeit gibt und ihnen auch Anregung für die Freizeit vermittelt. Andernfalls wird es sich kaum vermeiden lassen, daß sie in der Isolierung des Elternhauses verkümmern und in ihrer geistigen und körperlichen Fähig-keit zurückgehen.

Für welche Kinder ist Erziehung und Pflege im Heim oder in der Anstalt zu empfehlen?

Da ist zunächst die nicht unerhebliche Zahl der Kinder zu nennen, deren Eltern oder un-ehelichen Mütter nicht bereit sind, die Mühe der Pflege und Erziehung eines solchen

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Sorgenkindes auf sich zu nehmen. Wenn dazu auch noch die äußeren Voraussetzungen fehlen, einem solchen Kind einen ihm gemäßen Lebensraum zu schaffen, so verwahrlo-sen und verkommen diese Kinder, wenn sie nicht in einem Heim aufgenommen werden.

Oft stellt sich dann heraus, daß sie gar nicht so erheblich behindert sind, wie es erst schien. Sie können nicht selten in einer Anstaltsgemeinschaft soweit gefördert werden, daß sie später als berufsfähig entlassen werden. Auch Eltern, die sich weder innerlich noch äußerlich damit abfinden können, ein behindertes Kind zu haben, wünschen nicht selten eine Anstaltsunterbringung, damit durch die Trennung von dem Kind wieder Ruhe und Frieden in Familie und Ehe einkehrt. Auch in der Person des Kindes selbst kann der Hauptgrund liegen, daß eine zeitweise oder dauerhafte Lösung von der Familie angera-ten werden muss.“1064

Soweit die Ausführung von Wolfgang GÜNTHER1065 zu einer Sichtweise aus dieser Zeit. Der Däne BANK -MIKKELSEN, welcher Gedankengeber des Normalisierungsprinzipes ist, spricht sich ebenfalls für ein Aufwachsen eines Kindes mit Behinderung in der Familie aus. Die Familie soll durch Entlastungs- und Beratungsstrukturen unterstützt werden. Wenn doch Kinder mit Behinderung im Heim unterge-bracht werden müssten, sollten sie nach seiner Auffassung möglichst in kleinen Heimen (bis 20 Plätze in Wohnungen) wohnen. Die Heime sollten möglichst familienähnlich strukturiert und getrennt von Erwachsenbildungseinrichtungen gestaltet sein. Das Anstaltskonzept hat für ihn jedoch ebenfalls eine wichtige Bedeutung und seinen Platz: Zum einen für eine kurzzeitige Unterbringung während einer Krisensituation in der Familie, zum anderen seien Anstalten u.a. für Menschen mit schweren und schwersten Behinderungen nötig.1066

Paula wird in eine Zeit hineingeboren, die teilweise vom Bild der Entwicklungsunfähigkeit eines Kin-des mit geistiger Behinderung gezeichnet ist. Dieses Bild beginnt sich in dieser Zeit zu wandeln.1067 In der Arbeit für Menschen mit Behinderung in der entstehenden BRD gibt es zwei Strömungen: zum einen das Anstaltswesen1068, meist in konventioneller Trägerschaft1069, und dem gegenüber vornehm-lich von der 1958 gegründeten „Bundesvereinigung Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“1070 vorangetriebene dezentrale Konzept der „gemeindeintegrierten Unterstützung“.1071 Dieses Konzept war familienorientiert sowie teilstationär und sollte von Anfang an ganz bewusst eine Alternative zur

1064 GÜNTHER 1966, S. 47ff.

1065 Dr. med. Wolfgang GÜNTHER arbeitete zu dieser Zeit in den Anstalten der Inneren Mission in Rothenburg/Hann (vgl.

GÜNTHER 1966, S. 49).

1066 Vgl. BANK-NIKKELSEN 1974, 76f. u. vgl. SCHÄDLER 2002, S. 60f.

1067 Vgl. LEBENSHILFE FÜR MENSCHEN MIT GEISTIGER BEHINDERUNG E.V.,LANDESVERBAND BERLIN 2010, S. 19.

1068 Nach dem Krieg war das Anstaltswesen geprägt von der Beseitigung der Kriegsschäden. Die Betten füllten sich wieder und nach einer politischen und finanziellen Festigung wurde versucht, zum Anstaltsalltag zurückzukehren. Das heißt, in eine Tradition des Bildungs- und Vorsorgesystems wie vor 1930 zurückzufinden. In den Rothenburger Werken bestand z.B. das Personal in der Zeit zur Geburt von Paula überwiegend aus „Diakonen“ oder „Brüdern“ bzw. „Diakonissen“ oder

„Schwestern“; hinzu kamen noch ausgebildete Pfleger oder verkürzt ausgebildete, sog. staatlich anerkannte „Irrenpfle-ger“ bzw. „Irrenpflegerinnen“ (vgl. SCHÄDLER 2002, S. 55; vgl. HOLLMANN 2011, S. 18 u. vgl. FORNEFELD 2004, S. 40). Ausführ-liche Beschreibungen zu der Zeit vor 1930 finden sich u.a. in der Dissertation von Johannes SCHÄDLER (2002) mit dem Ti-tel: „Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe unter Bedingungen institutioneller Beharrlichkeit: Strukturelle Voraussetzungen der Implementation Offener Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung“.

1069 Vgl. HOLLMANN 2011, S. 18.

1070 Vgl. ELLGER-RÜTTGARDT 2008, S. 304.

1071 Vgl. SCHÄDLER 2002, S. 57.

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zentralen Anstaltsunterbringung sein.1072 Zur damaligen Zeit verbanden viele Eltern Anstalten mit dem Euthanasieprogramm der NS-Zeit1073 bzw. schlicht mit Pflege und Verwahrung, nicht jedoch mit liebevoller, individueller Zuwendung. Im ersten Werbetext der Bundesvereinigung Lebenshilfe hieß es: „‚Wollt Ihr, daß Eure Kinder in Anstalten verkümmern?‘ - Antwort: ‚Nein!!‘” 1074 Mit Unterstützung u.a. durch Mittel der 1964 gegründeten „Aktion Sorgenkind“ konnten Sonderkindergärten, Schulen und Tageseinrichtungen, aber auch Werkstätten und Wohnheime in der Bundesrepublik eröffnet werden. Es erfolgte eine gezielte Förderung und Rehabilitation von speziell ausgebildeten Pädago-gen_innen und Therapeuten_innen. Gerade das Wohnheimkonzept führte zu Kritik von Seiten des Anstaltsbereichs, dessen Argument war: Menschen mit Behinderung würden ihren Schonraum ver-lieren und so mit den „Grausamkeiten“ der Umwelt konfrontiert werden.1075 In den Anstalten vollzog sich ab Mitte der 70er Jahre der Übergang von der Versorgung hin zur Betreuung, weg von der insti-tutionellen hin zur personenzentrierten Perspektive. In dieser Zeit begann durch die gesellschaftliche und sozialkritische Auseinandersetzung eine kritische Hinterfragung1076 des heilpädagogischen Grundverständnisses.1077 Zu nennen sind hier z.B. der „Symbolische Interaktionismus“1078 nach Geor-ge Herbert MEAD (1976) oder die „Stigma-Theorie“ nach Erving GOFFMAN (1974) und „Behinderung als soziale Kategorie“. Sie wurden zum Kennzeichen für den Paradigmenwandel.1079 1975 stellte HAASER

bei einer Untersuchung von der Ruhr-Universität fest, dass die 400 frei- und gemeinnützigen Anstal-ten und Heime im Wesentlichen dem Bild eines psychiatrischen Großkrankenhauses entsprachen.1080 In fast allen Einrichtungen wurde eine strikte Geschlechtertrennung vollzogen; ebenfalls wurden die konkreten Wohnbedingungen der 40.000 Menschen mit Behinderung als nicht vertretbar eingestuft.

1072 Mit der Gründung der „Bundesvereinigung Lebenshilfe“ begann eine Selbstorganisation von betroffenen Eltern. Sie war eine Interessenvertretung der Eltern. Es war ein Bruch mit den bis dahin bestehenden Betreuungs- und Versorgungssys-tem von Menschen mit Behinderung und Kritik daran. Das Ziel der Eltern war es, dass ihre Kinder familiennah versorgt werden und nicht in einer weit entfernten „Anstalt“ abgeben werden müssen. 1968 erfolgte dann die Umbenennung in

„Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V.“ (vgl. SCHÄDLER 2002, S. 55ff. u. vgl. FORNEFELD 2004, S. 41).

1073 Bis Ende der 70er Jahre leugnete man die Verstrickungen des Anstaltswesens und des Euthanasieprogramms in der Zeit des Nationalsozialismus, es legte sich ein Mantel des Schweigens über dieses Thema. Erst danach begann eine Aufarbei-tung (vgl. SCHÄDLER 2002, S. 55).

1074 BUNDESVEREINIGUNG LEBENSHILFE 1983 zit. in SCHÄDLER 2002, S. 57.

1075 Vgl. SCHÄDLER 2002, S. 57.

1076 Zusammengefasst und gleichzeitig kritisiert wurden folgende fünf Kennzeichen des medizinischen Paradigmas (bzw. der individualtheoretischen Sichtweise) der Heilpädagogik: a) Im Mittelpunkt steht die Betrachtung der biologisch-organischen oder funktionalen Beeinträchtigungen und die daraus entstehenden Folgen. b) Eine an der Medizin orien-tierte Behandlung. Dem pädagogischen Aspekt kommt eher die Aufgabe der Kompensation, der Korrektur, der Nutzung

1076 Zusammengefasst und gleichzeitig kritisiert wurden folgende fünf Kennzeichen des medizinischen Paradigmas (bzw. der individualtheoretischen Sichtweise) der Heilpädagogik: a) Im Mittelpunkt steht die Betrachtung der biologisch-organischen oder funktionalen Beeinträchtigungen und die daraus entstehenden Folgen. b) Eine an der Medizin orien-tierte Behandlung. Dem pädagogischen Aspekt kommt eher die Aufgabe der Kompensation, der Korrektur, der Nutzung

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