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Zur Familiengeschichte

Im Dokument Permanente Vaterschaft (Seite 139-148)

Paul KAUFMANN wird im Oktober 1943 in Berlin-Karlshorst in eine bürgerliche Familie geboren, wie aus den Eckpunkten der Familie ersichtlich wird. Im Folgenden werden diese herausgearbeitet und beleuchtet. Für Paul KAUFMANNS Entwicklung und Erziehung sind in den ersten, beinahe 11 Jahren insbesondere die Großeltern mütterlicherseits prägend. Wie am Genogramm (Abbildung 2)817 abzu-lesen ist, gibt es zu beiden Familienzweigen (dem der Mutter als auch des Vaters) nur knappe Infor-mationen. Seine Großeltern wurden am Ende des 19. Jahrhunderts geboren, sein Vater 1918. Ge-burtsdaten zur Familie der Mutter gibt es nicht. Deshalb gehe ich einen Schritt zurück und beginne mit einer kurzen Darstellung der bürgerlichen Familie selbst mit ihren Werten und Vorstellungen in der Zeit des deutschen Kaiserreiches, denn in dieser Zeit verlebten Paul KAUFMANNS Großeltern ihre Kindheit und Jugend. Um einen Eindruck zu bekommen, unter welchen gesellschaftlichen Gegeben-heiten Paul KAUFMANN aufwuchs, werde ich „die bürgerliche Familie“ vor der Zeit von Paul KAUFMANNS

Geburt in Bezug auf seine Familie und bekannte Rahmendaten näher betrachten und u.a. folgenden Fragen nachgehen: Welche prägenden Werte gab es in den Familien ihrer Gesellschaftsschicht? Wel-che Rollenbilder? WelWel-che Wohnsituation? Wie haben diese sein Leben beeinflusst? Anschließend

815 Vgl. SCHUHMACHER 21.05.2015, S. 14ff.

816 Vgl. ROSENBAUM 1982, S. 316f.

817 Die Zeichenerklärung für das Genogramm befindet sich in Anlage 3.

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Abbildung 2: Genogramm zur Geburt von Paul KAUFMANN

Fam ilie K auf m ann

1943/1944 o o o o

o o Kaufmann Paul * 1943

Ber.1:HausfrauB4:Mietshäuser in Berlin -Karlshorst B5:Finanzberater B6:Haus mit Garten und Orangerie am Müggelsee Kaufmann Ber.1:Hausfrau

Kaufmann B4:Soldat

* 1918 † 1944

Kaufmann Ber.1:Hausfrau B4:Oma aus Cranz

* ?

Kaufmann B4:Mietswohnungen in Königsberg B5:wohnten in Cranz

* ? † um 1923 Kaufmann Ber.1:Kapitän geb. Kaufmann

?

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werde ich die Geschichte der beiden Familien im gesellschaftlichen Kontext nachzeichnen. Beginnen werde ich dabei mit dem Familienzweig des Vaters und anschließend auf den Familienzweig der Mut-ter von Paul KAUFMANN als die ihn prägende Familie eingehen.

Exkurs: Die bürgerliche Familie

Bei der Betrachtung der Entwicklung des Bürgertums, welches seine Wurzeln im frühen 18. Jahrhun-dert hat, ist zu beachten, dass das Leben in der Gesellschaft dieser Zeit weitgehend von Ständen ge-prägt war. Das Bürgertum gehörte weder zu den Berufsständen (wie Bauer und Handwerker) noch zu den Geburtsständen (wie der Adel). So wurde es häufig als „persönlicher Stand“ bezeichnet; die ge-sellschaftliche Position wurde durch eigene intellektuelle oder wirtschaftliche Leistungen erarbeitet.

U.a. gehörten Beamte, Künstler, Unternehmer, selbstständige Akademiker, Ärzte, Rechtsanwälte dazu.818 Das Bewusstsein und Vertrauen auf die eigene Leistungsfähigkeit war somit Basis für das bürgerliche Selbstverständnis.819 Als soziale Klasse durchgesetzt und ausgebildet hat sich das deut-sche Bürgertum erst im deutdeut-schen Kaiserreich. Damit verbunden war für die meisten seiner Mitglie-der eine erhebliche Verbesserung Mitglie-der materiellen Situation.820

In den bürgerlichen Gesellschaftskreisen gab es eine klare Trennung von Öffentlichkeits- und Privat-leben, was mit einer Trennung von Arbeits- und Lebensbereich einherging. So kam es zu einer Polari-sierung der Geschlechterrollen.821 In den Vorstellungen sollte der Mann „das Haupt“ und die Frau die

„Seele der Familie“ sein; somit hatten beide unterschiedliche Pflichten zu erfüllen.822 Der Mann war der Ernährer und repräsentiert die Familie öffentlich. Er verbrachte den größten Teil des Tages au-ßerhalb der Wohnung im Geschäft oder Büro.823 Durch ein relativ hohes und ständiges Einkommen des Mannes aus der Erwerbstätigkeit oder aus erworbenem Vermögen entstand der Wohlstand und es gab keine Sorge um den Lebensunterhalt – es gab Sicherheit. Die Frau war für den Haushalt und die Erziehung der Kinder zuständig.824 Die Kinder und Ehefrauen waren von der Sicherung des Le-bensunterhalts freigestellt. Die Partnerbeziehung bestand aus keiner reinen Arbeitsbeziehung, son-dern war eher eine menschliche Beziehung untereinander.825 Die ökonomischen Bedingungen mach-ten es möglich, die privamach-ten Beziehungen pflegen zu können. Somit bildete sich ein weiteres charakteristisches Kennzeichen für die bürgerliche Schicht aus: Die Beziehungen zwischen den Fami-lienmitgliedern waren zentral und bekamen einen emotionalen und intimen Aspekt; dies galt sowohl für die Ehe- als auch die Eltern-Kind-Beziehung.826 Die Familie wurde auf den ersten Blick zu einer

818 Vgl. ROSENBAUM 1982, S. 316f.

819 Vgl. ebd., S. 258.

820 Vgl. ebd., S. 252.

821 Vgl. ebd., S. 260 u. 343.

822 Vgl. NAVE-HERZ 2004, S. 52.

823 Vgl.ROSENBAUM 1982, S. 343.

824 Vgl. ebd., S. 278.

825 Vgl. ebd., S. 379.

826 Vgl. ebd., S. 272.

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geschlossenen Gemeinschaft mit Exklusivcharakter.827 In den Familien war der Markt- und Konkur-renzgedanke gegenüber der „Außenwelt“ weniger vordergründig. Diese Werte waren außerhalb der Familie nicht gefragt.828 Die Familie wurde zu einem Schutz- und Schonraum, zu dem nur ausgewähl-te Personen Zugang hatausgewähl-ten.829 Dem Moment der Liebe wurde eine höhere Bedeutung zugemessen.

Gleichzeitig sollte diese Liebe bei der Partnerwahl „standesgemäß“ sein. Kennengelernt wurde sich auf Bällen oder z.B. beim Tennis, es sollte dann ebenso geheiratet werden.830 Es bestand kein Hei-ratszwang mehr, jedoch wurde von einer stürmischen, leidenschaftlichen und blinden Liebe gewarnt.

Die Ehe war die einzige akzeptable Versorgung der Frau, denn eine Frau in bürgerlichen Kreisen hatte normalerweise keine Berufsausbildung – so bestand für die Frau in der Ehe ein Versorgungszweck.

Weitere charakteristische Kennzeichen für die bürgerliche Schicht waren die Aufstiegsorientierung und Individualisierung, welche eng mit ihrer sozialen Situation zusammenhing. Wie bereits angedeu-tet, spielten dabei die individuelle Leistung, Studienerfolge und Tüchtigkeit eine entscheidende Rolle und waren die Voraussetzungen für das Innehaben eines Amtes, den Aufstieg oder den Erfolg in Be-ruf und Gesellschaft. Wenig dagegen zählten Privilegien oder eine edle Geburt. Die Tugenden waren

„Arbeit“ und „Leistung“.831 Die bewusste Erziehung und Ausbildung der Kinder war ein weiteres Merkmal dieser Schicht. Literatur, Theater und klassische gymnasiale Bildung in der griechischen und lateinischen Sprache waren wichtige Inhalte; danach eine Lehre oder Fachschulausbildung, gegebe-nenfalls verbunden mit einem Auslandsaufenthalt. Ein Universitätsabschluss war die Voraussetzung für angestrebte berufliche Tätigkeiten oder Positionen im Staatsdienst – Bildung wurde zum Status-symbol.832 Die Söhne wurden in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt. Sie sollten über die Banalitäten des alltäglichen Lebens hinausschauen können. Die Ausbildung war zielgerichtet auf ihre zukünftige Tätigkeit. Auf die Bildung der Töchter wurde ebenso Wert gelegt. Sie sollten nicht nur Kinder erzie-hen, sondern auf Augenhöhe mit ihrem Partner Gespräche führen können.833 Die Karriere einer Frau im Kaiserreich bestand in einer „guten Partie“.834 In Familien, in denen die Finanzlage angespannt war, konzentrierte sich die Familie jedoch auf die Söhne und die Töchter mussten zurückstecken.835 Durch die immer besser werdende Pflege und Hygiene sowie bessere medizinische Versorgung redu-zierte sich die Kindersterblichkeit. Die Geburten wurden bewusst geplant. Somit hatten die Kinder bessere Chancen zu überleben, denn nun wurden sie nicht bloß als unvermeidliches „Nebenprodukt“

einer sexuellen Beziehung gesehen, sondern in ihrer Individualität, Einzigartigkeit und Fähigkeiten wertgeschätzt und gefördert. Dies galt ebenso für die Anzahl der Kinder, die kein reiner Zufall waren,

827 Vgl. NAVE-HERZ 2004, S. 49.

828 Vgl. ROSENBAUM 1982, S. 377.

829 Vgl. ebd., S. 371ff. u. S. 472.

830 Vgl. ebd., S. 338f.

831 Vgl. ebd., S. 272f.

832 Vgl. ebd., S. 256 u. 361f.

833 Vgl. ebd., S. 278.

834 Vgl. ebd., S. 362ff.

835 Vgl. ebd., S. 360f.

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sondern aktiv geplant wurden.836 Aufgrund der räumlichen Trennung von Beruf und Familie war der Vater in den Erziehungsprozess wenig einbezogen. Gleichzeitig war in den wichtigen Erziehungsfra-gen meist die Mutter die entscheidende Instanz.837 Dies wurde noch verstärkt durch die Verlegung des Wohnsitzes an den Stadtrand oder aufs Land. Somit stand der Mann und damit der Vater nur an den Abenden und am Wochenende zur Verfügung. Selbst wenn die Männer im Haus arbeiteten, wa-ren die Arbeitsräume gegen Störungen abgeschirmt. Die Kindererziehung wurde somit von der Frau und Mutter verantwortet. In wohlhabenden Familien wurde neben Ammen auch Erziehungspersonal engagiert.838 Das Verhältnis der Väter zu den Kindern war distanziert und wenig liebevoll. Es war ge-prägt von Respekt, gelegentlich von Furcht. Die Väter waren durch den Beruf eher abwesend. Viele Männer sahen die Beschäftigung mit den Kindern als unmännlich und ihrer Autorität abträglich an.

Die Söhne lernten schon früh, Gefühle, Empfindungen, Betrachtungen, Regungen zu verstecken und zu unterdrücken, um nicht als unmännlich oder als weiblich zu gelten. Die Beziehung zur Mutter war hingegen meist von Liebe und Verehrung geprägt. Das distanzierte Verhältnis zum Vater und die in-nige Beziehung zur Mutter taucht in vielen (männlichen) Biographien auf - eine klassische ödipale Situation. Die Lösung für den ödipalen Konflikt und die Verinnerlichung des väterlichen Vorbildes als Ich-Ideal führten bei den Söhnen zu besonderen Anstrengungen, um sich dem Beispiel des mächti-gen, starken und sozial angesehenen Vorbildes des Vaters anzunähern. Dieser Druck durch das väter-liche Vorbild konnte dazu führen, dass sich die Söhne erst sehr spät eigenständig entwickelten.839 Die Wohnungen und Häuser boten einen möglichen Rückzug, Ruhe und Privatsphäre für die Bewoh-ner gegenüber der Außenwelt840, und waren somit eine Voraussetzung für den Intimisierungs- und Emotionalisierungsprozess.841 Die Wohnungen und Häuser waren großzügig bemessen; die beschei-densten Wohnungen umfassten 5-8 Zimmer, womit ein junges Ehepaar anfing. In Familien, in denen es zu einer Diskrepanz zwischen standesgemäßem Wohnen und Einkommen kam, führte dies zu Sparmaßnahmen: Öffentliche Räume, wie Esszimmer oder Salon, waren geräumig und glänzend, die Schlafzimmer der Eltern und Kinder dagegen dunkel und eng. Günstiger war die Wohnsituation im eigenen Haus.842 Gerade ab dem 18. Jahrhundert zogen wohlhabende Bürger „vor die Tore der Stadt“, d.h. die Betriebe, die Lagerhäuser und Büros blieben im Stadtzentrum, die Familien zogen in die vom Stadtzentrum etwas entfernten und neugebauten Villen/Häuser.843

Dieses erstarkende und wohlhabende Bürgertum erkannte die zunehmende städtische und industri-elle Prägung seines Lebensrhythmus. Aus dieser Tatsache wuchs eine „Natursehnsucht“ und

836 Vgl.ebd., S. 266 u. S. 353.

837 Vgl. NAVE-HERZ 2004, S. 52.

838 Vgl. ROSENBAUM 1982, S. 357.

839 Vgl. ebd., S. 359.

840 Vgl. ebd., S. 371.

841 Vgl. NAVE-HERZ 2004, S. 49.

842 Vgl. ROSENBAUM 1982, S. 369f.

843 Vgl. NAVE-HERZ 2004, S. 49.

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flucht.844 Die Tendenz zur Separierung der Generationen und der Verwandten schloss eine enge Bin-dung untereinander nicht aus; es gab häufige gegenseitige Besuche, zumindest die Kinder hatten zu den Großeltern viel Kontakt.845 Die Beziehung zu den näheren Verwandten kann mit dem Begriff

„Nähe auf der Basis von Distanz“ beschrieben werden.846 Die Geselligkeit in den meisten Familien, wenn sie über die Familien- und Verwandschaftskreise hinausgingen, war durch die Erfüllung von Repräsentationspflichten geprägt. Man lud sich demonstrativ gegenseitig ein, war eher ungesellig.

Die Kreise blieben meist unter sich und grenzten sich von den anderen gesellschaftlichen Schichten ab. Die soziale Kontrolle und die bestimmte Art der Geselligkeit wirkten sich ebenso auf den Freizeit-bereich aus (z. B. in Form der Sommerreise: Kurorte und ein Urlaub im Hotel oder kleines Privatzim-mer – je nach Geldbeutel).

Zurück zu Paul KAUFMANN

Aus diesem beschriebenen Gesellschaftskreis stammt Paul KAUFMANNS Herkunftsfamilie sowohl müt-terlicher- als auch väterlicherseits und bildet somit das prägende Fundament für sein Leben. Was geht aus den Interviewdaten neben der gesellschaftlichen Prägung über den familiären Rahmen wei-teres hervor?

Zum Familienzweig des Vaters

Zu den Großeltern väterlicherseits ist bekannt, dass die Familie aus dem Ostseebad Cranz, einem Kurort nahe Königsberg, kommt. In den zwanziger und dreißiger Jahren war der Kurort berühmt für die Reichen und Mächtigen, für seine Casinos, die Pferderennbahn oder sein ruhigeres Leben in den zahlreichen Jugendstilvillen und herrschaftlichen Wohnsitzen in Cranz. 1918 wird Paul KAUFMANNS

Vater geboren. In der Einteilung von Gabriele Rosenthal gehört sein Geburtsjahrgang zur „Weimarer Jugendgeneration“847 Zu seinem Geburtszeitpunkt geht gerade der I. Weltkrieg zu Ende. Er ist damit ein Kriegskind aus dem I. Weltkrieg.848 In Deutschland kommt es zur Oktoberrevolution und zur Aus-rufung der Republik.849 Durch die Abdankung der Hohenzollern entsteht in Ostpreußen ein politi-sches Vakuum. Es bricht in Europa eine Zeit der großen gesellschaftlichen Umbrüche und Unsicher-heiten an. Die gesellschaftlichen Strukturen ändern sich dramatisch. In der Bevölkerung herrscht Hunger.850

Ob sein Großvater eine weitere Berufstätigkeit neben der Verwaltung seiner Mietswohnungen aus-übt oder was er gelernt hat, bleibt ungeklärt. Pauls Vater verliert mit ca. 5 Jahren seinen Vater und

844 Vgl. SCHUHMACHER 21.05.2015.

845 Vgl. ROSENBAUM 1982, S. 367.

846 Vgl. ebd.

847 Vgl. ROSENTHAL 1990b, S. 18.

848 Vgl. auch RADEBOLD/BOHLEBER/ZINNECKER 2008, S. 7.

849 Vgl. EBERT 2000, S. 242ff.

850 Vgl. ROSENTHAL 1990b, S. 18.

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wird Halbwaise. Zu diesem Zeitpunkt hat sein Vater mindestens zwei weitere Geschwister, eine Schwester und einen Bruder. Die Gründe für seinen Tod bleiben aus den vorliegenden Daten unge-klärt und lassen die Meinung innerhalb der Familie diesbezüglich auseinandergehen.

IP: „[…] über die die die die – FAMILIE weiß man nur JERÜCHTEWEISE. <<I: mhm>>also KONKRET - äh weiß man NICHTS. mein GROßVATER war war mal SEHR VERMÖGEND,

<<I: mhm>> und hatte für sein ÄLTESTEN SOHN ein RITTERGUT kaufen wolln in OSTPREUßEN. <<I: mhm>> und hat da ETLICHE IMMOBILIEN in KÖNIGSBERG VERSCHERBELT dafür, und dis war denn zu der ZEIT der INFLATION, <<I: mhm>> und äh na ja dann hat sich dieses GESCHÄFT ja nicht realisieren lassen, denn saß er OFFENSICHTLICH vor so nem großen PAPIERBERG und äh IST VERSCHIEDEN - FAMILIE al-so VERWANDTSCHAFT meint ja, das er sich das LEBEN genommen hat. was ja ja ja auch nicht GANZ auszuSCHLIEßEN ist, aber er kann auch einfach HERZSCHLACH oder sowas jehabt haben. also dis WEIß man nich.“851

In seiner Sprache („über die die die die - FAMILIE weiß man nur JERÜCHTEWEISE“) wird eine Distanz und Abgrenzung seinerseits zur Familie des Vaters deutlich („die“ Familie – nicht „meine“ Familie oder ein anderes Possessivpronomen). In dieser Erzählung Paul KAUFMANNS über seinen Großvater väterlicherseits erwähnt er, dass dieser Immobilien in Königsberg besaß und einen Teil verkaufte, um für seinen ältesten Sohn ein Rittergut zu kaufen.852 Das hätte einen gesellschaftlichen Aufstieg und eine breitere geschäftliche Basis für die Familie zur Folge gehabt. Ein weiterer möglicher Grund: Der Wert des Geldes sank durch die Inflation immer mehr, weshalb Nahrungsmittel immer teurer wur-den. Der Großvater wollte mit in die Landwirtschaft einsteigen, womit die Familie ein weiteres siche-res Standbein gehabt hätte – Essen braucht jeder. Es wurde plötzlich auch finanziell lukrativ. In der Zeit der Hyperinflation (ab Juni 1923) wechselte man vom Zahlungsmittel zum Naturalientausch.853

851 Interview PaulKAUFMANN, Zeile 1016-1025.

852 Fast jedes zweite Rittergut, das im Besitz einer bürgerlichen Familie war, war kein Familienerbe, sondern wurde gekauft.

Nur jeder zweite bürgerliche Mann bekam sein Gut vom Vater, ganz selten über Bruder oder Ehefrau, vererbt. In Ost-preußen bildeten Rittergüter meist einen eigenen kommunalrechtlichen Gutsbezirk mit einer Landgemeinde. Dabei be-saßen meist adlige Familien die Großgrundbesitzgüter. Nicht mehr die rechtliche Stellung war entscheidend für den Ti-tel Rittergut, sondern die Größe. In Preußen waren das zwischen 200 und 300 ha. Der Kauf von Rittergütern (besonders das des finanzstarken Bürgertums) bedeutete neben den wirtschaftlichen Aspekt auch eine verbesserte Lebensqualität und einem Prestigewert der Güter. Das Eindringen des bürgerlichen Standes in den Bereich des Rittergutbestandes (was jahrhundertelang dem Adel vorbehalten war) bedeutete eine fundamentale Veränderung. Die bürgerlichen Rittergutbe-sitzer haben von dem symbolischen Kapital des Adelsstandes (mit) gezehrt. Der Besitztitel "RittergutbeRittergutbe-sitzer" war zu-nehmend bedeutender als der wirkliche Landbesitz. Zudem ist zu beachten, dass die Industriellen und Bankiers auf-grund ihrer anderen Kapitalverteilung in vielen Bereichen eine teilweise höhere, dem Adel ebenbürtige Stellung im sozialen Raum einnehmen konnten. Rittergutbesitzer, die im Hauptberuf Industrieller oder Bankier waren, wurden nicht über den Hauptberuf besteuert, sondern über das Rittergut, was wesentlich günstiger war. Ab 1893 verzichtete der Staat auf die Grundsteuer und führte die Ergänzungssteuer ein, die eine nominelle Vermögensteuer war. Es unterlag al-les Bewegliche und Unbewegliche, mit Abzug der Schulden und periodisch zu erbringenden Aufwendungen (Steuern und Versicherung). Die Höhe erfolgte über die Selbstangabe des Vermögens im Zusammenhang mit einer Einkommens-steuerversteuerung. Dem Gutsherrn blieb als letztes Privileg die Ausübung der Ortsobrigkeit im Gutsbezirk bis 1928.

Während die Ortsvorsteher in den Landgemeinden gewählt wurden, stand den Gutsherren das Recht über seinen Bezirk automatisch zu. Die Polizeigewalt ging auf die Amtsbezirke über, welche mehrere Landgemeinden und Güter verwalte-ten. Dabei sind Rittergut und Gutsbezirk nicht deckungsgleich. Der Gutsbezirk war ein räumlich abgegrenzter Bereich des platten Landes, dessen Gebiet und deren Bewohner den Gutsherren unterstanden. Somit gingen auch beim Kauf die Rechte und Privilegien über. Bürgerliche kauften meist kleinere Güter, welche dem Adel nicht ausreichend waren.

Zur Jahrhundertwende hatte das Bürgertum numerisch den Rittergutbesitz über. Durch den I. Weltkrieg waren jedoch viele Besitzer verschuldet, weil die Absatzmärkte wegbrachen (vgl. SCHILLER 2003, S. 51ff., S. 146, S. 266ff., S. 424 u. S.

483).

853 Vgl. STURM 2003, S. 28.

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Dieses Geschäft misslang, laut Familienüberlieferung, aufgrund der Inflation. Für das Scheitern dieses Ansinnens macht die Familie Pauls Großvater verantwortlich und entschuldigt es gleichzeitig mit ei-nem gesellschaftsökonomischen Grund (der Weltwirtschaftskrise). Ob es sich tatsächlich um einen Suizid handelt, welcher mit einen Makel verbunden sein kann, oder wie (er) vermutet, eine gesund-heitliche Ursache der Grund war, kann nicht geklärt werden – es wirkt legendenhaft. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist der älteste Sohn nicht Pauls Vater, denn der Vater von Paul war, wie erwähnt, zum Tod seines Vaters erst fünf Jahre alt – sondern ein Bruder vom Vater. Anzunehmen ist, dass der Tod von Pauls Großvater sowie der finanzielle Verlust die Familie schwer getroffen hat: Der Ernährer fiel weg.

Diese Geschichte um den Tod vom Großvater ist die einzige erwähnte Geschichte, die weit vor die Geburt Paul KAUFMANNS reicht. Es könnte angenommen werden, dass diese Geschichte für den Grundsatz steht: „Schuster bleib bei deinem Leisten – geh kein Risiko ein, auch nicht in der Krise.“

Wie die Familie mit Verlusten umgegangen ist, kann aus den Erzählungen von Paul KAUFMANN nicht rekonstruiert werden. Ob es Familienmitglieder gab, welche die Witwe mit ihren mindestens drei Kindern aufgenommen haben, oder ob sie wieder geheiratet hat, ist nicht bekannt. Auch, welchen Berufsweg Pauls Vater eingeschlagen hat (z.B. eine Offizierskariere854), wissen wir nicht. Über die Familie des Vaters erfahren wir nur, dass die Großmutter in Bonn bis zu ihrem Tod gewohnt und Paul KAUFMANN sie in den 1980er besucht hat, der Bruder des Vaters Kapitän war und verheiratet ist und sie bis zu dessen Tod einen sehr guten Kontakt hatten. Die Schwester seines Vaters lebt heute noch.

Die personenbezogenen Daten der Familie, die Berufe und Berufswege erzählt er nicht. Obwohl Paul KAUFMANN die Großmutter, den Bruder des Vaters sowie seine Schwester als erwachsene Personen kennt, kann oder will er nichts über die väterliche Seite der Familie berichten. Gleichzeitig wird deut-lich, dass der Kontakt zur Familie des Vaters durch dessen Tod nicht verlorengegangen ist und von Pauls Familie und/oder Pauls Mutter weiter gepflegt wurde. Aus dem Genogramm der Familie des Vaters zur Geburt wird ersichtlich, dass die Väter in der Familie früh verstorben sind und sowohl der Vater von Paul als auch Paul KAUFMANN selbst ohne leiblichen Vater aufgewachsen sind.

Zum Familienzweig der Mutter

Zur Familiengeschichte der mütterlichen Seite vor seiner Geburt erzählt Paul KAUFMANN nichts. Sein Großvater mütterlicherseits hatte zum Zeitpunkt seiner Geburt eine eigene Kanzlei als Finanzberater und Bilanzbuchhalter sowie mehrere Immobilien in Berlin-Karlshorst, die er vermietete. Die

Zur Familiengeschichte der mütterlichen Seite vor seiner Geburt erzählt Paul KAUFMANN nichts. Sein Großvater mütterlicherseits hatte zum Zeitpunkt seiner Geburt eine eigene Kanzlei als Finanzberater und Bilanzbuchhalter sowie mehrere Immobilien in Berlin-Karlshorst, die er vermietete. Die

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