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Geburt und Kindheit

Im Dokument Permanente Vaterschaft (Seite 148-181)

Wie bereits erwähnt, wird Paul KAUFMANN im Oktober 1943 in Berlin geboren. Es ist die Zeit des Nati-onalsozialismus und Deutschland befindet sich mitten im Krieg. Eine Zeit des zunehmenden Chaos und der Angst. Um verdeutlichen zu können, was dies für den jungen Paul bedeuten kann, möchte ich zuerst die gesellschaftliche Situation in Berlin und die Rahmenbedingungen, in der die Familie KAUFMANN lebte, nachzeichnen.

Kriegszeit in Berlin – Paul KAUFMANNS Geburt und seine ersten Lebensjahre

Ab Herbst 1940 gab es eine erste Welle von alliierten Luftangriffen auf Berlin. Danach beruhigten sich die Angriffe von Anfang Oktober 1941 bis Mitte Januar 1943 in Berlin. Ende August 1943 begannen wieder Luftangriffe, die sich dann von Mitte November bis Ende März 1944 massiv verstärkten. Ins-gesamt gab es in dieser Zeit 370 Nacht- und Tagesangriffe. Die Folge waren 1,5 Millionen Obdachlose und über 6.000861 Tote in Berlin. Berlin wurde als Schutz vor Luftangriffen verdunkelt.862 Es begannen Evakuierungen von Frauen, Kindern und alten Menschen aus Berlin. Bis Ende 1943 waren etwa eine Million Berliner betroffen. Zunehmend wurden die Betriebe aus Berlin verlagert. Schulen konnten geschlossen in das Programm der „Kinderlandverschickung“863 kommen. Zudem gab es schon seit dieser Zeit einschneidende Kürzungen der Nahrungsmittelrationen für die Berliner Bevölkerung.864 Viele Familien wollten nur eins: überleben. Es konnte beobachtet werden, dass gerade die

860 Vgl. SCHUHMACHER 21.05.2015.

861 Trotz der massiven Luftangriffe auf Berlin starben im November 1943 „nur“ 4.000 Berliner, im Vergleich zu den Opfern der Luftanagriffe in Hamburg „lediglich“ 10%. Dies lag vor allem an der städtebaulichen Struktur von Berlin mit seinen vielen Parks, breiten Straßen und Wasserstraßen. Zudem hatte Berlin keinen engen Stadtkern mit eng zusammenste-henden Fachwerkhäusern; die Häuser waren indes überwiegend solide gemauert und verfügten über Brandschutzmau-ern (vgl. KELLERHOFF 2006, S. 66f.).

862 Vgl. DEUTSCHES HISTORISCHES MUSEUM 22.05.2015.

863 Vgl. vertiefend Kap. 4.3.2.2.

864 Vgl. KELLERHOFF 2005, S. 144 u. S. 151; vgl. KELLERHOFF 2006, S. 58ff.; vgl. MATERNA/RIBBE 2003, S. 185f. u. vgl. DEUTSCHES

HISTORISCHES MUSEUM 22.05.2015.

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jahrgänge von 1942-1945 besonders von den Spätfolgen des Krieges betroffen sind, obwohl sie kaum bis keine bewusste Erinnerung an die Zeit des Krieges und die Zeit danach haben.865 Die Eltern von Paul Kaufmann hatten zum Zeitpunkt der Geburt eine Wohnung in Berlin-Karlshorst. Sein Vater ist Soldat und seine Mutter Hausfrau. Sie hat keine Ausbildung was, wie bereits in Kap. 4.1.2.1 erwähnt, nicht ungewöhnlich ist. Die junge Familie lebt räumlich gesehen weitgehend autonom von ihrer Her-kunftsfamilie. Welche emotionalen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten bestehen, bleibt im Dun-keln. Auch nach Ende März 1944 gehen die Luftangriffe in Berlin weiter, nur verfolgen die Alliierten eine andere Strategie: Fortan wurden ständig kleinere Angriffen geflogen, ergänzt von einzelnen geballten Tagesangriffen. In der Advents- und Weihnachtzeit 1944 stirbt Paul KAUFMANNS Vater im Kriegseinsatz. Paul KAUFMANN hat da gerade sein erstes Lebensjahr vollendet und wird Halbwaise – eine Wiederholung zur Biographie seines Vaters. Er lernt seinen Vater - zumindest bewusst – nie persönlich kennen. Er ist für ihn ein endgültig abwesender Vater. Er ist auf Erzählungen angewiesen.

Hartmut RADEBOLD (2008) schreibt, dass viele dieser Kinder kein sicheres Vaterbild hätten. Sie seien, eher unbewusst, auf einer lebenslangen Suche nach akzeptierten und brauchbaren sowie anerkann-ten männlichen Vorbildern.866 Paul ist somit einer von 2,5 Mio. Halb- und Vollwaisen in Deutschland zu dieser Zeit und eines von ca. 25% der Kinder, die auf Dauer ohne Vater aufwachsen. Seine Mutter wird eine von 1,7 Mio. Kriegswitwen.867 Der Ernährer der Familie ist nicht mehr da. Eine existenzielle Krise für die Familie. Wo sein Vater stationiert war und welche Position (z.B. Offizier) er innehatte, ob er bei der Wehrmacht oder bei einer SS-Einheit diente, auch unter welchen Umständen er zu Tode kam, ist aus dem Interviewangaben nicht nachzuzeichnen. Trotz Nachfrage erzählt Paul KAUFMANN

nichts weiter aus dieser Zeit zu seinem Vater.

IP: „war dit - WAR och noch JUNG - ich meine is äh WAR SECHSUNDZWANZIG JAHRE alt.

<<I: mhm>> da gibs - noch nicht VIEL zu BERICHTEN von nem MENSCHEN.“868

Es stellt sich die Frage, ob dieses Thema für ihn (heute) ein Tabu ist, oder ob Herr KAUFMANN unwis-send ist. Hinzu kommt, dass er seinen Vater nur von Erzählungen, nicht persönlich, kennt. Gleichzei-tig stellt sich bei diesem Interviewausschnitt die Frage: Was braucht es, welche Leistung ist notwen-dig, damit ein Mitglied in seiner Familie erwähnenswert ist?869

1944, in Paul Kaufmanns erstem Lebensjahr, heulten durchschnittlich alle drei Tage die Luftschutzsi-renen, Anfang 1945 jeden Tag, teilweise mehrfach. Die Berliner Bevölkerung sollte so immer weiter zermürbt werden. Es verbreitete sich ein immer größeres Chaos. Die Notunterkünfte konnten den Bedarf, der durch die Zerstörungen entstanden war, bei weitem nicht ausgleichen. Nahrungsmittel

865 Vgl. RADEBOLD 2008a, S. 49 u. vgl. USTORF 2010, S. 27.

866 Vgl. RADEBOLD 2008b, S. 176 u. S. 181.

867 Vgl. RADEBOLD/BOHLEBER/ZINNECKER 2008, S. 46.

868 Interview Paul KAUFMANN, Zeile 1002-1004.

869 Als ein wesentliches Merkmal von Bürgerlichkeit wird auf kulturgeschichtlicher Ebene vor allem die besondere Wert-schätzung der individuellen Leistung begriffen. Damit eng verbunden sind regelmäßige Arbeit sowie rationale und me-thodische Lebensführung (vgl. SCHILLER 2003, S. 23f.).

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konnten trotz Lebensmittelkarten nicht verteilt werden. Gas, Wasser und Strom fielen immer häufi-ger aus.870 Für die Berliner war es bei jedem Angriff ein Kampf um einen Platz in einem der über 1.000 öffentlichen Bunker. Diese konnten nur einem Teil der Bevölkerung Schutz bieten. Berlin wur-de mit Erreichen wur-der sowjetischen Front an wur-der Owur-der am 1. Februar 1945 in drei Verteidigungsringe aufgeteilt. Der Bereich innerhalb des Berliner S-Bahnringes wurde zum innersten Verteidigungsbe-reich.871 Am 3. Februar 1945 erfolgte dann der bislang größte Luftangriff des II. Weltkrieges mit weit über 1.000 Flugzeugen. Ziel war das Regierungsviertel. An diesem Tag starben 3.000 Berliner. Trotz der Evakuierung vor allem der Kinder ins Umland, lebten dennoch zwischen zwei und zweieinhalb Millionen Menschen in Berlin – sie wurden gebraucht, da Berlin ein wichtiges Verwaltungs- und In-dustriezentrum war.872

Aus dem Interview geht hervor, dass die Mutter Paul KAUFMANNS in dieser unsicheren und nicht bere-chenbaren Zeit auf die Ressource ihrer Familie zurückgreift und zu ihren Eltern an den Müggelsee zieht. Unklar ist das ausschlaggebende Moment und der Zeitpunkt für den Umzug seiner Mutter (ob schon während der Luftangriffe oder erst nach dem Tod ihres Mannes, Paul KAUFMANNS Vater). Dieser Rückzug an den Stadtrand bringt pragmatisch zwei Vorteile: Zum einen sind die Lebensbedingungen und damit auch die Lebensmittelversorgung besser, weil auf eigenes Angebautes zurückgegriffen werden kann und zum anderen sind die Zerstörungen und die Angriffe geringer, was einen höheren Schutz bietet. Zudem kann spekuliert werden, dass Pauls Großvater oder die Mutter ihre Wohnung vermietet haben, falls sie nicht schon zerstört war. Zu dieser Zeit gibt es durch die Zerstörungen Wohnungsmangel, zumal Berlin-Karlshorst im Innenstadtbereich liegt. Wie Pauls Mutter psychisch mit dem Tod ihres Mannes, der plötzlichen alleinigen Verantwortung, der finanziellen Unsicherheit, den ständigen Bombenangriffen, dem Chaos, dem Nahrungsmittelmangel und den damit verbunde-nen Zukunfts- und Überlebensängsten innerlich umging, bleibt unbekannt. Ihre Bewältigung und der Umgang mit den Lebensbedingungen können sich aber auf Paul KAUFMANNS spätere Lebens- und Be-wältigungsstrategien ausgewirkt haben.873

Es lässt sich vermuten, dass das Verhältnis von Herrn KAUFMANNS Mutter zu ihren Eltern stabil war und es zumindest Unterstützung gab. Ein Auszug von Zuhause war, wie schon erwähnt, nicht unüb-lich und ist nicht automatisch gleichzusetzen mit einem angespannten Verhältnis. Die Beziehung in der bürgerlichen Familie konnte mit „Nähe auf der Basis von Distanz“874 beschrieben werden.875 Der Rückzug bedeutet auf der einen Seite gleichzeitig wieder einen Schritt zurück in die Abhängigkeit, bringt jedoch auf der anderen Seite Sicherheit und verbessert die Überlebenschancen, mit großen

870 Vgl. KELLERHOFF 2006, S. 66 u. S. 69f.

871 Vgl. COBBERS 2007, S. 206f.

872 Vgl. KELLERHOFF 2006, S. 69.

873 Vgl. RADEBOLD 2008a, S. 49 u. vgl. USTORF 2010, S. 27ff.

874 ROSENBAUM 1982, S. 367.

875 Vgl. auch Kap. 4.1.2.1.

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Garten und Haus außerhalb von Berlin. Um diese Entscheidung einzuordnen ist ein Blick in die Nach-kriegszeit von Berlin hilfreich.

Exkurs: Berlin in der Nachkriegszeit

Die Einwohnerzahl von Berlin hat sich während der Kriegszeit von 4,3 Mio. auf 2,6 Mio. nach dem Krieg reduziert, d.h. zwei von fünf Berliner Einwohnern haben den Krieg nicht überlebt. Es kam durch die Kriegszerstörungen in Deutschland zu einer Ernährungs- und Kohlekrise.876 Es herrschte Woh-nungsmangel, weil 39% der Wohnungen zerstört wurden, über 600.000 Wohnungen sind ganz zer-stört und zusätzliche 100.000 beschädigt. Besonders betroffen war die Berliner Innenstadt. Zusätzlich kommen die Vertriebenen aus den Ostgebieten hinzu. Allein im harten Winter 1946/47 starben in Berlin in einer über Wochen andauernden Kältewelle über 1.100 Menschen. In den im Krieg zer-bombten Häusern fanden die Berliner kaum mehr Schutz. Das Heizmaterial war knapp, die Menschen suchten Brennholz. Der Berliner Tiergarten wurde fast vollständig abgeholzt, insgesamt reduzierte sich der Baumbestand in Berlin um 50%.877 Viele Menschen, gerade in den Städten, waren auf Le-bensmittelkarten und damit auf die Lebensmittelrationen angewiesen. Es gab in der Sowjetischen Besatzungszone fünf Klassen von Lebensmittelkarten, wobei nur die 1. Klasse (für Schwerstarbeiter,

„verdiente Gelehrte“ und Künstler) eine annähernd ausreichende Ernährungsgrundlage bot. Somit wurde die zusätzliche Versorgung durch den eigenen Garten ein entscheidender Faktor für die besse-re Versorgung mit Grundgütern wie Nahrungsmitteln und Heizmaterial. Zudem konnte man über den Schwarzmarkt und den Tauschhandel Waren anbieten und erwerben.878 Deutschland war nach dem II. Weltkrieg in den archaischen Zustand der Naturalwirtschaft zurückgeworfen worden. Löhne wur-den teilweise in Naturalien ausgezahlt. Es wurde in Lebensmittel oder andere Güter des täglichen Bedarfs getauscht. Geld spielte eine unbedeutende Rolle in dieser Zeit.879 Der größte Teil des Tauschhandles bestand jedoch aus gebrauchten Waren, über kostbare Pelze bis hin zu Kochtöpfen.

Es konnte meist nur Ware gegen Ware getauscht werden.880 Die Berliner Randgebiete waren weniger von Krieg und Zerstörung betroffen. Zudem boten familiäre Rahmenbedingungen (z.B. der Garten, die Stadtrandlage, Familienbesitz als Tauschobjekte) der Familie in den letzten Kriegswochen und den ersten Nachkriegsjahren bessere Lebensbedingungen als Familien in der Innenstadt von Berlin.881

876 Vgl. BENZ 2005, S. 17 u. vgl. MATERNA/RIBBE 2003, S. 189.

877 Vgl. MATERNA/RIBBE 2003, S. 201f.

878 Vgl. BENZ 2005, S. 17ff. u. vgl. MATERNA/RIBBE 2003, S. 193.

879 Nach dem Krieg gab es in Deutschland drei Währungen: Die staatlichen Gehälter und Steuern wurden in Reichsmarkt gezählt. Seit August 1946 gab es zwischen den deutschen und alliierten Stellen der Siegermächte ein gedrucktes Sat-zungsgeld; diese konnte jedoch nicht in Reichsmark gewechselt werden. Das wichtigste Zahlungsmittel waren Zigaret-ten. Damit konnte man auf den Schwarzmarkt fast alles kaufen (vgl. BENZ 2005, S. 20).

880 Vgl. BENZ 2005, S. 20. In dieser Zeit arbeiteten auch bürgerliche Frauen mit einem Studium z.B. in Großküchen und ver-kauften das Erbe, um die Familie zu ernähren, wenn z.B. der Mann tot war (vgl. THIMM 2011, S. 28 u. S. 110f.).

881 Vgl. SCHOFFIT 2010, S. 202; vgl. BENZ 2005, S. 17ff.; vgl. ESCHENHAGEN/JUDT 2008, S. 17; vgl. BEYER 07.02.2014 u. vgl. COBBERS

2007, S. 204ff.

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Zurück zu Paul KAUFMANN

Ob Pauls Mutter eine von 60.000 Berliner „Trümmerfrauen“ war, bleibt unbekannt.882 In dieser Zeit leben sie weiter bei seinen Großeltern. Aufgrund der fehlenden Berufsausbildung beginnt die Mutter nach dem Krieg in Westberlin eine Ausbildung zur Finanz- und Bilanzbuchhalterin mit anschließen-dem Arbeitsverhältnis. Sie wird so eine von etwa 72.000 Grenzgängern883 zwischen den Sektoren-grenzen, zwischen ihrer Ausbildung und Arbeit, zwischen Ost und West, zwischen der Weltanschau-ung des Kommunismus mit Planwirtschaft und der des Kapitalismus mit freier Marktwirtschaft. Die Berufsentscheidung seiner Mutter in dieser Zeit orientiert sich an den familiären Erfahrungen, und zwar unabhängig vom Geschlecht. Denn Pauls Mutter ergreift den gleichen Beruf wie ihr Vater. Es kann angenommen werden, dass die Finanzberaterbranche als Grundbaustein für die Sicherung in der Familie gesehen wird und sie nicht zur Absicherung irgendeinen „Ernährer“ heiratet.884 Sie über-nimmt damit die Ernährerrolle in der Familie und gibt die „Hausfrauen- und Mutterrolle“ an ihre Mutter ab. Gleichzeitig zeigt sich, dass sie eine Lehre aufnehmen und so nur bedingt zu dem Unter-halt der Familie zu dieser Zeit beitragen kann. Dies wird noch deutlicher vor dem Hintergrund, dass sie eine alleinerziehende Mutter ist. In der damaligen Zeit können Berufe wie Gärtnerinnen, Köchin, Bäckerei- oder Metzgereiverkäuferin hilfreich für die Familie sein.885 So kam man leichter an Nah-rungsmittel heran, auch über die Lebensmittelkarten hinaus, und konnte das Überleben und die Grundbedürfnisse der Familien mit absichern. Der eingeschlagene Weg von Paul KAUFMANNS Mutter macht deutlich, dass die Familie die Grundbedürfnisse (z.B. Selbstversorgung durch den Garten) of-fensichtlich weitgehend decken kann und eine starke Unterstützung von Seiten ihrer Eltern besteht, die ihre Entscheidung für die Lehre nicht nur materiell sondern auch zeitlich in einem erheblichen Maße unterstützten. Mit dem Wissen, dass seine Großmutter Hausfrau war, wird die starke und be-deutende Stellung der Mutter in der Familie deutlich. Gleichzeitig bedeutet dies, dass seine Mutter wenig für Paul KAUFMANN da sein konnte. In der Folge wächst Paul bei seinen Großeltern mütterli-cherseits am Müggelsee auf. Seine Großeltern sind in dieser Zeit für ihn prägend. Er sagt:

IP: „mei Müggesee bin ich aufgewachsen. da h a b e n meine GROßELTERN großes GRUNDSTÜCK gehabt mit ner RIESEN ORANGERIE mein GROßVATER war großer TIERLIEBHABER und da bin ich als NATURFORSCHER BUDDELMANN auf gewachsen.“886

An diesem Zitat zeigt sich, dass er mit seinen Großeltern emotional sehr verbunden war und sie die zentralen Bezugspersonen darstellten. Sie springen in die entstandene Lücke, welche durch den Tod des Vaters und die damit in Verbindung stehende Entscheidung der Mutter, in Westberlin zu

882 Vgl. MATERNA/RIBBE 2003, S. 200.

883 1953 arbeiten nach einem Bericht des West Berliner Senates rund 45.000 Ost-Berliner im Westteil der Stadt sowie 27.000 Westberliner in der SBZ von Berlin (vgl. MATERNA/RIBBE 2003, S. 214).

884 Infolge der Kriegsverluste gab es in dieser Zeit erheblich mehr Frauen als Männer. So kamen 1950 auf 100 Frauen im Alter zwischen 25 bis 45 Jahren nur 77 Männer desselben Alters. Daraus ergab sich auch für Pauls Mutter eine geringere Heiratschance (vgl. SCHILDT 2003, S. 6).

885 Vgl. WEIß 2013; vgl. THIMM 2011, S. 108ff. u. Zeitzeugenberichte aus der Familie.

886 Interview Paul KAUFMANN, Zeile 342-345.

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ten, entsteht. Der Müggelsee wird sein Zuhause und Abenteuerspielplatz seiner Kindheit. Es ist für ihn eine sehr behütete Zeit. Die Großeltern übernehmen sowohl die Vater- als auch die Mutterrolle, vor allem emotional. Er wächst zusammen mit den Kindern seines Onkels (Bruder seiner Mutter) auf – es könnte sich ein Art Geschwisterverhältnis entwickelt haben. Sein Großvater ist sehr naturver-bunden. Er zeigt und erklärt ihm die Natur. Es scheint, dass er bei seinen Großeltern eine sehr idylli-sche Zeit hatte. Diese Naturverbundenheit hat ihn bis heute geprägt.

Paul KAUFMANNS Mutter erlebt durch das Pendeln zwischen den Sektoren, ihrer Ausbildungsstelle in Westberlin und ihren Eltern in Ostberlin die unterschiedlichen Entwicklungen in den Besatzungszo-nen, später den beiden deutschen, Staaten hautnah mit.887 Sie erlebt die Währungsreform (1948) mit der Einführung der DM (West) und der DM (Ost)888 und die Verstaatlichung des Bankwesens in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ)889, die Blockade Westberlins (von Juni 1948 bis Mai 1949)890, die Gründung der beiden deutschen Staaten (1949) mit ihren unterschiedlichen Ideologien, Bildern und den Interpretationen aus eigenem Erleben. Paul KAUFMANNS Mutter kann ihre Eindrücke in die Fami-lie transportieren. Gleichzeitig kann sie so die sich bildende auseinandergehende Schere der wirt-schaftlichen Entwicklungen zwischen der SBZ mit der Reparationspolitik und Westberlin mit der Ent-wicklung durch den Marshallplan erfahren.891 Die Mutter kann so die wirtschaftliche Entwicklung kompensieren, indem sie Produkte aus Westberlin mitbringt.892 Sie hält sich die Entscheidung offen, in welchem der beiden Staaten sie mit Paul wohnen und arbeiten möchte und wo sich die besten Zukunftsperspektiven bilden.

1950 wird Paul in die Grundschule in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) eingeschult. Ob er in der Grundschulzeit den „Jungen Ponieren“893 beigetreten war, ist unbekannt. Im selben Jahr

887 Vgl. BENZ 2005, S. 24.

888 Die Sowjets dehnten die DM (Ost) auf ganz Berlin aus. Daraufhin führten die Westalliierten in ihren Besatzungszonen die DM (Westen) ein, auf den Geldscheinen ist jedoch bis 1953 ein Gedrucktes „B“ für Berlin. Im Gegenzug reagieren die Sowjets mit der Berlinblockade (vgl. MATERNA/RIBBE 2003, S. 204 u. vgl. COBBERS 2007, S. 220f.).

889 Alle Befehle der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) in der SBZ hatten das Ziel der Gestaltung der Gesellschaft durch Transformation. Als erster Befehl vom 23.07.1945 wurde die Schließung der Banken und Beschlag-nahmung ihrer Aktiva gegeben, gleichzeitig ging von Privatpersonen und Unternehmen der Besitz von Gold- und Sil-bermützen, sowie ausländliche Banknoten an die SMAD. Es wurde verfügt, dass Landes- und Provinzbanken gegründet wurden. 1947 erfolgte die Zentralisierung des Geld- und Kreditwesen, die Kontrolle und Planung dieser wurde an die

„Deutsche Finanzverwaltung“ übergeben (vgl. SCHROEDER 2009, S. 48).

890 Vgl. KOOP 2008, S. 255f.

891 Vgl. KOOP 2008, S. 77f. u. vgl. ESCHENHAGEN/JUDT 2008, S. 23ff.

892 Vgl. MATERNA/RIBBE 2003, S. 204ff.; vgl. ESCHENHAGEN/JUDT 2008, S. 19ff. u. vgl. COBBERS 2007, S. 220f.

893 Der Pionierverband agierte vor allem in der Schule, Zu ihr gehörten die „Jungepioniere“ (1-3 Klasse) und Thälmannpio-niere (4 - 8 Klasse) gehörten. Der Pionierverband war der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ) angegliedert und entstand 1948 aus der FDJ (vgl. KAUSCH 2009, S. 79ff.). Am 7. März 1946 wurde in der SBZ die „Freie Deutsche Jugend“ gegründet.

Die FDJ gehörte zu den DDR-Massenorganisationen. Deren Aufgaben bestanden laut Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) darin, deren Mitglieder zu „bewussten und aktiven Mitarbeit an der Erfüllung staatlicher und gesell-schaftlicher Aufgaben“ (SCHROEDER 2009, S. 416) zu erziehen sowie „das sozialistische Bewusstsein der Werktätigen zu formen“ (ebd.). Besondern Schwerpunkt der SED war die Beeinflussung und Organisation sowie die Kontrolle der Ju-gend und die Heranführung an die Parteilinie. Diese Aufgaben oblagen der FDJ. Dabei sollten die Kinder und JuJu-gendli- Jugendli-chen in ein kollektives Organisationsgefüge eingebunden werden. Es sollten alle Lebensbereiche durch die Aktivitäten erfasst werden. Sie sollten den Einzelnen in das Kollektiv einbinden und für zünftige Aufgaben in Partei und Staat vorbe-reiten. Ein wichtiges Motiv für die Mitgliedschaft lag auf der Hand: Wer keine Nachteile in Schule, bei Beruf oder Studi-um bekommen wollte, wurde Mitglied. Hinzu kommt ein Druck von Elternhaus, Freundeskreis und Schule. Auch die

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wird Westberlin durch den Deutschen Bundestag zum Notstandsgebiet erklärt aufgrund der schlech-ten wirtschaftlichen Situation. Ab Mai 1952 schließen als Reaktion auf die Unterzeichnung des Deutschlandvertrages894 in Bonn die meisten Straßen zwischen Westberlin und dem Umland. Sämtli-che Telefonleitungen zwisSämtli-chen Ost- und Westberlin werden gekappt. Die inneren Sektorengrenzen von Berlin bleiben offen. Aufgrund ansteigender Befürchtungen, dass die Grenzen geschlossen blei-ben, steigt der Flüchtlingsstrom von Ost- nach Westdeutschland an. Die Lebenssituation der West-berliner verbessert sich bis 1953 deutlich. Ende Mai 1953 beschließt hingegen der Ministerrat der DDR die Beschleunigung des Aufbaues des Sozialismus. Damit gehen Rentenkürzungen, Preiserhö-hungen für Lebensmittel und schließlich der Erhöhung der Arbeitsnorm einher. Diese Situation führt zu einem großen Unmut in der Bevölkerung der SBZ, was am 17.06.1953 zum Volksaufstand führt.

Zeitgleich beginnt eine große politische Säuberung. Mit der Niederschlagung dieses Aufstandes steigt die Auswanderungsbewegung von Ost nach West erneut an.895

Spätestens in Zeit der Schule kommt der junge Paul mit der kommunistischen Ideologie in Verbin-dung. Seine Mutter fehlt ihm, weil sie weiterhin in Westberlin arbeitet. Diese Wünsche und Schwie-rigkeiten werden im Interview ansatzweise deutlich:

IP: „mein VATER is im KRIEG JEFALLN, inne noch im innes/ zum ENDE des KRIEGES, und meine MUTTER war denn stand denn mit mir da ohne BERUFSAUSBILDUNG, musste denn erst ne BERUFSAUSBILDUNG ABSOLVIEREN und da bin ich also war meine MUTTER ist eigentlich die OMA mit der FOLGE, dass ich n a t ü r l i c h896 äh mit meinem

IP: „mein VATER is im KRIEG JEFALLN, inne noch im innes/ zum ENDE des KRIEGES, und meine MUTTER war denn stand denn mit mir da ohne BERUFSAUSBILDUNG, musste denn erst ne BERUFSAUSBILDUNG ABSOLVIEREN und da bin ich also war meine MUTTER ist eigentlich die OMA mit der FOLGE, dass ich n a t ü r l i c h896 äh mit meinem

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