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Zum ‘Protonationalismus‘: Hürden, die keine Hürden sein müssen

Wichtige Anregungen erfuhr die Nationalismusforschung durch die Gedanken des britischen Kulturhistorikers E.J. HOBSBAWM. Dieser erweiterte mit seiner Arbeit Nationen und Nationalismus die Forschungsperspektive über die ideengeschichtlichen Fragestellungen hinaus auf eine soziale Di-mension.

Tatsächlich sind, so E.J. HOBSBAWM, Nationen „Doppelphänomene, im wesentlichen zwar von oben konstruiert, doch nicht richtig zu verstehen, wenn sie nicht auch von unten analysiert wer-den, d.h. vor dem Hintergrund der Annahmen, Hoffnungen, Bedürfnisse, Sehnsüchte und Inte-ressen der kleinen Leute, die nicht unbedingt national und noch weniger nationalistisch sind.“

E.J. HOBSBAWM versuchte in diesem Zusammenhang mit dem Begriff eines volkstümlichen Protona-tionalismus zu erklären, warum eine so weit ab jeder wirklichen Erfahrung der meisten Menschen liegende Idee, wie die von der nationalen Gemeinschaft, innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer so starken Macht wachsen konnte. Er ging davon aus, dass „nationale Bewegungen bestimmte Spielarten kollektiver Zugehörigkeit mobilisierten, die bereits existierten und gleichsam potentiell in jenem makropolitischen Maßstab wirksam werden konnten, der zu den modernen Staaten und Nationen passte.“1

Dass diese Überlegungen empirisch überaus schwierig zu dokumentieren sind, liegt auf der Hand.

So verwies E.J. HOBSBAWM darauf, hier wird die indikatorische Blickrichtung seiner Gedanken offenkundig, dass sich diese Annahme schwer belegen lässt, „da sie darauf hinausläuft, etwas über die Gesinnung von Analphabeten herauszufinden.“ Indes birgt dieses Zitat mehr als eine Hürde.

Denn ein Analphabet hinterlässt nicht nur keine schriftlichen Spuren, sondern kommt auch nicht als unmittelbarer Rezipient von schriftsprachlichen Zeichen in Frage. Umgekehrt sollten diese beiden Überlegungen zur Folge haben, dass sich das Phänomen der gemeinschaftlichen Zusam-mengehörigkeit für das Gros der deutschen Bevölkerung um 1800 nicht erschließen lässt, und mehr noch, dass die Masse der Analphabeten ihre Gemeinschaft nur aus den oral fundierten Kommunikationsnetzen zu imaginieren vermochte.

Es ist also beinahe unmöglich, über die Befindlichkeiten einer großen Gemeinschaft zu diskutie-ren, so die Mehrheit dieser Gemeinschaft nicht zu lesen und schreiben vermochte. Freilich finden sich in der Geschichtswissenschaft unterschiedliche Schätzungen zur Menge der um 1800

1 HOBSBAWM, E.J.: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. F.a.M., N.Y. 1992. S.21, 59 u. 61.

Vgl. auch HROCH, M.: Nationales Bewusstsein zwischen Nationalismustheorie und der Realität der Nationalen

Be-halb der Grenzen des Deutschen Reiches lebenden Alphabeten und Analphabeten2. Während R.

SCHENDA beispielsweise um 1800 nur 25% der gesamten deutschen Bevölkerung als potentielle Leser betrachtete3, vermittelte R. SIEGERT „den Eindruck, dass die Masse der Bevölkerung ele-mentar lesekundig war, wobei von flüssigem und sinngemäßen Lesen [...] keine Rede sein kann.“4 Während B. GREVEN die Zahl der regelmäßig Lesenden für die zweite Hälfte des 18. Jahrhun-derts auf „sicher kaum hunderttausend“ schätzte5, was bei etwa 20 Millionen Einwohnern ca.

0,5% wären, ging E. SCHÖN davon aus, dass beinahe 50% der Bevölkerung grundlegend lesen konnten6.

Auch die methodischen Zugriffe zu dieser so spannenden Frage7 gestalteten sich bisher äußerst variabel. Während sich die Untersuchungen von R. SCHENDA und E. SCHÖN insbesondere auf die Zahl der Schriftsteller, die Zahl der populären Buchveröffentlichungen, die Beanspruchung von Leihbüchereien, die Entwicklung des Zeitungswesens, Bücherlisten und Messkataloge stütz-ten, mithin der Buchmarkt, also das literarische Angebot, auf seine ökonomischen Parameter hin analysiert wurde, suchten beispielsweise E. HINRICHS und R. SCHLÖGL in ihren Arbeiten8 anhand von Unterschriften unter Heiratsregister und Testamente die unterschiedlichen Schreibniveaus innerhalb jeweils überschaubarer Populationen zu filtrieren und im Anschluss daran Tendenzen einer Alphabetisierung zu entwickeln. Geleitet wurden sie von der Annahme: Wer schreiben konnte, konnte auch lesen9.

wegungen. In: Formen des nationalen Bewusstseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien. Hg.v. E.

SCHMIDT- HARTMANN. München 1994. S.39-52.

2 Wobei dieser Begriff, dies zeigt die Forschung, unterschiedlich verwendet wird, er steht sowohl für den potentiel-len Roman- wie den steten Zeitungsleser, für den leidlich Lesekundigen wie den Bücherwurm.

3 Vgl. SCHENDA, R.: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. F.a.M.1988.

S.444f.

4 Vgl. SIEGERT, R.: Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem Noth- und Hilfsbüchlein. Mit einer Bibliographie zum Gesamtthema. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens.

19. 1978. Sp.565-1347. Mit ähnlichem Akzent VOSS, J.: Der Gemeine Mann und die Volksaufklärung im späten 18.

Jahrhundert. In: Vom Elend der Handarbeit. Hg.v. H. MOMMSEN, W. SCHULZE. Stuttgart 1981. S.208-239. hier S.220-227.

5 Vgl. GREVEN, J.: Grundzüge einer Sozialgeschichte des Lesers und der Lesekultur. In: Lesen- Ein Handbuch.

Hg.v. A.C. BAUMGÄRTNER. Hamburg 1973. S.117-133. hier S.126. Zudem GREVEN, J.: Grundzüge einer Soziologie des heutigen Lesers. Ebd. S.149-171.

6 Vgl. SCHÖN, E.: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800.

Stuttgart 1987. S.46.

7 Am Rande sei darauf verwiesen, dass auch verschiedene soziale Faktoren das Ausmaß der Lesebefähigung beein-flussen konnten. Dazu gehören Formen politischer Restriktion, ein begrenzt leistungsfähiges Schulwesen, die geisti-ge Trägheit der niederen Schichten und insbesondere deren ökonomische Situation. Vgl. SCHENDA, R.: Volk ohne Buch. S.456. Dazu gehören auch die Kosten für die abendliche Beleuchtung sowie die allmähliche Verbreitung des Kaffees als Ernüchterer wider die Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit des Lesers. Vgl. SCHÖN, E.: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlung des Lesers. S.177 u. 237, 250, 258.

8 Vgl. HINRICHS, E.: Zum Alphabetisierungsgrad in Norddeutschland um 1800. Erhebungen zur Signierfähigkeit in zwölf oldenburgischen ländlichen Gemeinden. In: Sozialer und kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18.

Jahrhunderts. Hg.v. E. HINRICHS, G. WIEGELMANN. Wolfenbüttel 1981. S.21-42. SCHLÖGL, R.: Glaube und Religi-on in der Säkularisierung. Die katholische Stadt – Köln, Aachen, Münster - 1700-1840. München 1995. S.45-72.

9 Vgl. ebd., S.45. Im Rahmen dieser Arbeit lässt sich diese Hypothese nur unter Vorbehalten verwenden, denn: Las ein jeder, der eine Unterschrift zu leisten vermochte? Mehr noch: Lässt sich nicht eine Unterschrift auch ohne wirk-liche Lesebefähigung (aus verschiedenen Motiven) auswendig lernen?

Hier ist es an der Zeit, die Möglichkeiten der für diese Arbeit gewählten Perspektive zu erörtern:

Am Anfang wurde darauf hingewiesen, dass in den Untersuchungen nicht die Frage nach dem sich ändernden Gemeinschaftsbefinden zu verfolgen ist, sondern vielmehr zu klären sei, kraft welcher Impulse ein gemeinschaftliches Bewusstsein im einzelnen Mitglied konditioniert werden konnte. Entsprechend sollten mit den einzelnen Quellentexten nicht die expliziten Zeugnisse für ein Gemeinschaftsempfinden (indicatores), sondern jene Mechanismen, die zu einem gemeinschaft-lichen Bewusstsein führen konnten (processus), herausgestellt werden. Diese Entscheidung führte im ersten Teil dieser Arbeit dazu, den Kanon der Texte mit einem patriotischen und nationalen Ideengehalt unter einer kommunikativen Direktive neu zu lesen; im folgenden zweiten Teil eröffnet diese Perspektive die Gelegenheit, das Phänomen des ‘volkstümlichen Protonationalismus‘ empirisch zu fassen.

Tatsächlich werden sich keinerlei Quellentexte finden lassen, in denen Analphabeten ihre ge-meinschaftliche Gesinnung bloßlegten, in denen sie ihre Imagination von gege-meinschaftlicher Größe aufzeigten; jedoch gibt es Zeichen, die analphabetische Schichten erreichen mussten und mit denen - dies wird zu beweisen sein - die Vorstellung von einer Zusammengehörigkeit über gemeinsame kulturelle Bezugsgrößen angeregt werden konnte.

Warum aber sollte es (schriftlich fixierte) Zeichen geben, die einen Leseunkundigen - etwa das Bettelweib zu Füßen eines Kirchenportals in Gießen und den Lakai eines preußischen Junkers - erreichen mussten? Dies einzusehen, setzt ein Verständnis von Gesellschaft voraus, wie es in der Soziologie seit langem (und wesentlich komplizierter, als es im folgenden dargelegt werden kann) diskutiert wird. Im Zentrum steht dabei das Begriffspaar der sozialen Systeme.

Dazu nur soviel: Eine (entwickelte) Gesellschaft lässt sich vorstellen als eine Menge von Teilsys-temen, beispielsweise Wirtschaft, Recht, Kunst, Medizin, Theologie, Architektur, Wissenschaft usw. Teil-systeme, die sich autonom und dennoch im Wechselspiel zueinander verändern. Bildhaft gespro-chen, eine Gesellschaft kann als ein Schachbrett gedacht werden, dass sich aus einer Fülle von unterschiedlichen Feldern - sozialen Systemen - zusammensetzt. Ein Vorzug dieses Modells ist es nun, die Gesellschaft nicht mehr, wie es etwa das Bild einer sozialen Pyramide evoziert, in allgemein definierte Gruppierungen und Schichten zu teilen (an der Spitze der König, darunter der geistli-che und weltligeistli-che Adel, sodann das aufstrebende Bürgertum, schließlich das Kleinbürgertum, das Proletariat sowie weitere Unterschichten), sondern vielmehr diese Gesellschaft als eine Anord-nung von sozialen Feldern zu fassen, auf der die Mitglieder dieser Gesellschaft ‘wandeln‘ und dabei verschiedene Teilsysteme unterschiedlich stark frequentieren.

Schnell wird offenkundig, dass einzelne soziale Systeme (von beinahe allen Angehörigen der Ge-sellschaft durchkreuzt und also) derart beansprucht werden, dass sie einer bestimmten Ordnung bedürfen. Mit anderen Worten, insbesondere stark belastete Felder des Schachbretts benötigen Regeln, mit denen ihre eigene Struktur und Funktionalität gewährleistet wird. Damit wiederum

wird die Frage nach der Umsetzung dieser Ordnung und mehr noch die Frage nach der Verbrei-tung solcher Regeln berührt. Schlicht, es musste Kommunikationsformen und Zeichen geben, mit denen alle Bevölkerungsteile, auch die große Schar der um 1800 Lese- und Schreibunkundigen, über die Grenzen und Prinzipien (sowie aktuelle Veränderungen) wichtiger sozialer Systeme in-formiert wurden.

Mit den folgenden Kapiteln geraten zunächst derartige normative Zeichen aus dem frühen 19. Jahr-hundert in das Blickfeld10. Dabei wird allerdings nicht deren primäre Funktion, die Bekanntgabe neuer Regeln und Direktiven, zu verfolgen sein, sondern vielmehr ein kommunikativer Nebenef-fekt. Es lässt sich zeigen, dass derlei Zeichen quasi im ‘Huckepack- Verfahren‘ unterschiedliche gemeinschaftsstiftende Bezugsgrößen vermitteln konnten. Latent, oder, wenn man so will, inner-halb einer sekundären Textfunktion wurden Zuschreibungsmöglichkeiten zu einer imaginären (deutschen) Gemeinschaft popularisiert.

Und noch ein Gedanke lässt sich an dieser Stelle vorwegnehmen: Da die nunmehr zu untersu-chenden Zeichen auch den Leseunkundigen erreichen sollten, musste stets ein Vorleser und Ü-bersetzer in die orale Kommunikationswelt, mithin eine autoritative Rezeptionssituation11, in Rech-nung gestellt werden. Und zwar sowohl durch die Absender als auch die wissenschaftlichen Be-arbeiter dieser Zeichen.

Eingedenk dieser Überlegungen lassen sich an dieser Stelle zumindest drei Punkte für die folgen-den Untersuchungen festhalten:

Es wird zu klären sein, welche Bezugsgrößen sich für die Imagination eines deutschen Volkes eigneten, welche Bezugsgrößen mit welchen Konnotationen wie zentral innerhalb solcher Quel-len offeriert wurden.

Es gilt zudem zu ermitteln, mit welchen Akzenten das Bild von einer deutschen Gemeinschaft wie konkret angeregt wurde.

Schließlich ist zu beachten, ob die jeweiligen Bezugsgrößen bestimmte Vorkenntnisse, voraus-setzten, inwieweit also neue Zuschreibungsmöglichkeiten besondere Anschlüsse verlangten.

Allein welche Quellengruppen kommen in Frage? Jene geheimnisvollen Zeichen, die bis in die unteren Schichten der Gesellschaft reichten, die also eine große Verbreitung fanden und ver-schiedene übergreifende Bezugspunkte für eine deutsche Gemeinschaft antragen konnten, sollten sich vor allem, dies machte B. ANDERSON glaubhaft, an der Peripherie der religiös- kirchlichen sowie

10 Diese Überlegungen berühren im Ansatz eine Thematik, die vom Sonderforschungsbereich 226 zur Wissensorgani-sierenden und wissensvermittelnden Literatur im Mittelalter bearbeitet wurde. Die Untersuchungen dieses Kreises bezogen sich jedoch ausnahmslos auf Kommunikationsweisen und Transfers in ein lesekundiges und lesendes Publikum.

Zugleich beschränkten sich die Arbeiten dieses Sonderforschungsbereiches nicht auf normative Quellen. Vgl. For-schungsprogramm. In: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter. Perspektiven ihrer Erforschung. Hg.v. N. R. WOLF. Wiesbaden 1987. S.9-22.

11 „Der Hausvater vor seiner Familie [...] der Pfarrer oder Schulmeister vor seinen Bauern.“ Vgl. SCHÖN, E.: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. S.194ff.

der dynastisch- politischen Kultur finden lassen12. Demgemäß gestaltet sich die weitere Kapitelfolge.

Nacheinander gilt es, je ein Beispiel mit solch ungewöhnlichen Eigenschaften aus den sozialen Systemen (und Kommunikationsfeldern) Kirche und Staat vorzustellen. Um eine gewisse Symmetrie im Aufbau dieser Arbeit zu wahren, aber auch, um das Ausmaß und die Problematik der hier gewählten Herangehensweise zu illustrieren, wird schließlich aus dem Feld der Unterhaltung ein drittes Quellenbeispiel in seiner pragmatischen Kraft zu analysieren sein.

Die Darstellung bewegt sich auch hier entlang ausgewählter Zeichen. Auf dieser Spur sei die Fra-ge nach Wirkung und Wirkungsmächtigkeit diskutiert. Wieder wird die grundsätzliche Perspekti-ve auf die Quellen von kommunikatiPerspekti-ven Richtlinien bestimmt. Allein die Einführung in die jewei-ligen Kapitel gestaltet sich neu. Denn zu den drei im Anschluss vorzustellenden Quellentypen wurde in der Geschichtswissenschaft bisher nicht bzw. kaum gearbeitet. Die Einführung in ver-schiedene Forschungspositionen muss daher entfallen. Statt dessen seien einige grundsätzliche Aussagen über die Eigentümlichkeiten dieser Quellen, über mögliche Umgangsweisen mit ihnen, formuliert.

12 Vgl. {A. 2.1.} S.12-15.