• Keine Ergebnisse gefunden

Ein Büchlein für den Analphabeten und dessen Anhang

2. Ein Beispiel aus religiösen Kommunikationsnetzen

2.3. Ein Büchlein für den Analphabeten und dessen Anhang

Bislang wurde nur mit Belegen gearbeitet. Und es wurde Zeichen nachgespürt, die stillschweigend einen selbständig und gut lesenden Katechumen voraussetzten.

In diesem Kapitel soll es um jene kommunikativen Impulse gehen, die mit einem einzelnen Kate-chismus angeregt werden konnten. Und es sei ein Frage- und Antwortbüchlein vorgestellt, das - hier wird ein wesentlicher Befund der folgenden Analyse vorweggenommen - auf ein kaum lese-fähiges Publikum zielte. Der unscheinbare Band, ein Lutherischer Katechismus von 168 Seiten, wurde

104 Vgl. Frag= und Antwortbüchlein über Allerlei was im deutschen Vaterland besonders Noth thut. Der 24seitige Text teilt sich in drei Kapitel: „Wie es eigentlich in jedem Lande seyn sollte.“ S.6-15; „Wie es im deutschen Lande beschaffen ist.“ S.16-19; „Wie es anzufangen sey, dass es besser wird.“ S.19-22.

105 Vgl. ebd., S.18: Wie ist’s mit der Preß- und Redefreiheit? Viele vornehme und reiche Herrn können wie die Nachtvögel das Licht nicht vertragen und mögens nicht leiden, dass die Wahrheit gesprochen und verstanden wird.“

106 Vgl. ebd., S.17: „Aber woher ist uns Deutschen solche Noth gekommen? Daher, weil in jedem kleinen Ländlein ein eigener Fürst große Macht und Gewalt an sich gerissen hat.“

107 Vgl. ebd., S.7f.

108 Vgl. ebd., S.12: „Es ist ferner nothwendig, damit alle Menschen nach Christi Worten, zur Erkenntniß der Wahr-heit kommen können, dass Jeder Alles reden und schreiben darf, was wahr ist, wenn er nur auch die WahrWahr-heit seiner Worte beweisen kann.“

109 Zur Wahl der Volksvertreter vgl. ebd., S.8-10.

110 Vgl. ebd., S.7. Vgl. HOFMANN, A.J.: Der Aristokratenkatechismus.

1805 in der Halleschen Verlagsbuchhandlung von FRIEDRICH AUGUST GRUNERT in zwölfter Auflage gedruckt und findet sich heute unter der Signatur AB 52 15/k, 54 in der Universitäts-bibliothek der Saalestadt111. Er setzt sich nach einer kurzen Einleitung aus den fünf Hauptstücken, den Heiligen zehn Geboten, dem Glaubensbekenntnis, dem Vaterunser, Taufe und Abendmahl sowie einer Haustafel christlicher Sprüche und Fragen zusammen. Im Anhang (ab Seite 90) werden weitere Sittenre-geln, Gebetstexte und abschließend eine Kurze Geschichte der Reformation vorgestellt.

Das Zeichen, dass damit in das Blickfeld gerät, muss im doppelten Sinne als normativ verstanden werden. Zum einen wurde mit diesem Frage- und Antwortbüchlein die Grenze einer protestanti-schen Ethik markiert112, zum anderen die Rezeption dieses Zeichens scharf reglementiert und (darüber hinaus) diese Reglementierung expliziert. Tatsächlich lassen sich in dem Lutherischen Kate-chismus Gestaltungstechniken nachweisen, mit denen die semantischen Spielräume des Textes beschränkt bzw. gesichert werden sollten. Und dies gilt unabhängig davon, ob man den Text [1] in seiner Ausrichtung auf die Mentoren - bereits im Vorwort werden Lehrer und Eltern als Kate-cheten direkt angesprochen113 - oder [2] als Fibel für unbewanderte Katechumen begreift.

[1] Bereits mit dem vorangestellten Wahlspruch LUTHERS114, lässt sich eine 1. Beobachtung festhalten.

Danach wurde nicht nur der Name des (prominenten) Verfassers und damit gleichsam die histo-rische Dimension des Textes betont, sondern zugleich der gewünschte Umgang mit diesem Text und mehr noch die angestrebte Wirkung benannt115. Nur wenn die Schüler die Worte „von Stück zu Stück“ „auswendig“ und „verstehen“ lernten, sollte „eine Catechismuskenntniß angerichtet werden“116.

Eine 2. Beobachtung lässt sich mit der Einleitung festhalten. Danach wurden den autoritativen Bin-degliedern der Katechese verschiedene Legitimationsofferten unterbreitet. Nebeneinander stan-den dabei orthodoxe und anthropologische Motive. Zum einen wurde die religiöse Anlage des Menschen herausgestellt. Allerdings, „nur derjenige Mensch lernt die Religion recht hochschät-zen, welcher einsieht, dass sie uns nothwendig ist, und wir von Gott dazu eingerichtet sind,

111 D. Martin Luthers kleiner Katechismus. Mit einer Einleitung und einem Anhang. Zwölfte vermehrte und verbes-serte Auflage. Mit Königl. Preuß. Privilegio. Halle, zu finden bey FRIEDR. AUG. GRUNERT dem Ältern 1805. Ähn-lich: Enchiridion. Der kleine Catechismus für die gemeinen Pfarr= Herren und Prediger, durch D. Martin Luther.

Aufs neue übersehen, und mit den neuen Fragstücken vermehret. Mit Königl. Sächsischem Privilegio. Leipzig, ge-druckt und zu finden bey FRIEDRICH CHRISTIAN DÜRR.

112 Zu den Anfängen dieser Ordnung und ihrer Logik vgl. den wunderbaren Aufsatz von SOEFFNER, H.-G.: Luther- Der Weg von der Kollektivität des Glaubens zu einem lutherisch- protestantischen Individualitätstypus. In: Ders.:

Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags 2. F.a.M. 1995. S.20-75.

113 D. Martin Luthers kleiner Katechismus. S.4: „Aeltern und Lehrer, welche Kinder in der Religion unterrichten wollen, müssen sich zuerst selbst mit dem, was in dieser Einleitung gesagt wird, recht bekannt machen, um auch die Kinder darin zu unterrichten [...]“

114 Ebd. S.4. Leicht abgewandelt zitiert {D 2.1.} S.167.

115 Vgl. zur Differenz von illokutiven und perlokutiven Akten {A 3.1.} S.35. Anm.13.

116 Dies ist ein Indiz dafür, dass der Text nach Vorstellung des Verfassers und der Herausgeber nicht phantasievoll und/oder beliebig gelesen werden sollte.

gion zu haben.“117 Zum anderen wurden die besonderen Eigenschaften des Menschen hervorge-hoben, seine „aufrechte, gerade Stellung“, seine „vielen und biegsamen Sprachwerkzeuge“, seine Seele, seine Fähigkeit, zu unterscheiden, und auf der Grundlage dieser Vorzüge seine Bestim-mung, „Gott als den Höchsten und Vollkommensten erkennen [zu] lernen.“ 118

Diese Offerten sind auch aus pragmatischer Sicht interessant. Denn mit ihnen und der voranstell-ten Devise LUTHERS wurde unsichtbar die Rolle der Katecheten aufgewertet. Die „Aeltern und Verweser der Jugend“ wurden nicht nur in die stillen Beweggründe des Wittenberger Reforma-tors eingeweiht, sondern zugleich als Mittler und bedeutsame Schaltstelle in der kosmologischen (und protestantischen) Ordnung angesprochen und motiviert.

Auch die beiden folgenden Details zeigen, so die 3. Beobachtung, wie sehr das Frage- und Ant-wortbüchlein auf seine Katecheten achtete. Sowohl der Anmerkungsapparat - auf beinahe jedem Bogen wurden in Fußnoten einzelne Topoi und syntaktische Wendungen der Gebotstexte erläu-tert - als auch die schwierigen mit diversen Abbreviaturen versehenen Bezüge auf biblische Texte sollten die hermeneutischen Möglichkeiten der Katechese begrenzen119. Dass sie tatsächlich der Lehrkraft galten, veranschaulichen zwei Befunde. Einerseits unterschieden sich die Ausführungen in den Anmerkungen formal (zu) deutlich von der Gestaltung des Haupttextes120, andererseits setzten die vielen biblischen Verweise erhebliche Kompetenzen voraus. Der Adressat dieser Mar-kierungen musste nicht nur lesen und die (unterschiedlichen) Kürzel entschlüsseln können, er sollte auch den Kontext der einzelnen Verse kennen, zumindest aber schnell erfassen und dar-über hinaus die semantische Beziehung zu dem Gebotstext in dem Frage- und Antwortbüchlein herstellen.

[2] Erst jetzt sind jene Muster zu verfolgen, die auf die Katecheten zielten. Wie unauffällig der Katechismus war, belegt die 4. Beobachtung. Danach hatte der Band mit 145 x 90 mm lediglich die Ausmaße einer größeren Jackentasche. Dies zeigt, wie niedrig der Material- und Kostenaufwand gehalten wurde, erlaubt aber auch Rückschlüsse über die Mobilität dieses Textes: Es ist zu vermu-ten, dass der vorliegende Lehrtext von den Schülerinnen und Schülern beständig mitgeführt wur-de. Mit anderen Worten, das so bescheidene Büchlein blieb für den mittellosen Katechumen bzw.

die zahlende Gemeinde erschwinglich; zudem räumte seine Mitnahme die Möglichkeit ein, die Glaubenswahrheiten sowohl in der Pfarrkirche als auch zu Hause zu studieren.

117 D. Martin Luthers kleiner Katechismus. S.5.

118 Vgl. ebd., S.6.

119 Denn jeder Auszug aus einer biblischen Geschichte exemplifizierte nicht nur die vorgestellte Norm, sondern regte zudem dessen Konkretisierung an.

120 Gemeint ist hier die unterschiedliche Schriftgröße. Dazu später die 7. Beobachtung {D 2.3.} S.187. Vgl. zudem:

Katechismus der christlichen Lehre. Von GOTTLIEB SCHLEGEL. S.6: „Unter einige Fragen sind Anmerkungen und Erläuterungen gesetzet, worinn theils praktische Winke für Lehrer, theils Ermunterungen für die Jugend gegeben worden, theils die in Predigten vorkommenden und auf Bibeltexten sich gründenden Vorstellungen erklärt werden.“

Wie umsichtig der vorliegende Katechismus gestaltet, wie sehr vor allem auf seine mnemotechni-sche Funktion geachtet wurde, macht die 5. Beobachtung deutlich. Dabei gilt es zunächst die wie-derholt verwendeten Schemata festzuhalten. Schon der Satzspiegel121 verriet eine starre Ordnung, denn das aufgeschlagene Buch wies (im Hauptteil) stets das gleiche Muster auf: Die rechte Seite, mit einer Kopfleiste versehen, zitierte eine christliche Norm, die unter der Frage „Was ist das?“ in einem Satz paraphrasiert und mittels Fußnoten begrifflich präzisiert wurde. Die linke Seite wurde von einem schlichten Holzschnitt bestimmt. Eingerahmt wurde die Illustration von einer Vielzahl von Verweisen auf Texte des Alten und Neuen Testaments. Das Kürzel über dem Holzschnitt be-nannte dabei jene Sequenz, die illustriert wurde122.

Dieses Layout hatte Folgen. Denn mit ihm wurde unsichtbar die didaktische Schrittfolge der einzelnen Lektionen festgelegt. Sowohl der unveränderte Fragetyp mit dem die Hauptstücke zu erschließen waren, als auch die folgende einsilbige Erläuterung des jeweiligen Gebotes sollten die gemeinschaftliche Exegese eingrenzen.

Ähnlich kanalisierend musste der Anmerkungsapparat wirken. Denn in den Fußnoten wurden noch die einfachsten Wörter der Gebotstexte und ihrer Erläuterungen festgelegt. Beispielsweise findet sich hier als Kommentar zu der Wortgruppe „die lieben Kinder“ die Übersetzung: „Kin-der, die ganz an den Aeltern hangen.“123

Interessant scheinen jedoch nicht nur diese Elemente, sondern, hier beginnt die 6. Beobachtung, jene methodischen Strukturen, auf die offenkundig verzichtet wurde. Zum einen ist festzuhalten, dass das Lutherische Frage- und Antwortbüchlein ohne größere affektive und/oder polemische Züge konzipiert wurde. Zum zweiten lässt sich nachweisen, dass fachsprachliche Details in die-sem Katechismus gemieden wurden. Schließlich finden sich in dem gesamten Text keine Apho-rismen namhafter Theologen, keine Zitate literarischer Autoritäten.

Ähnlich bescheiden, fast anspruchslos wirkte die Bebilderung. Auch sie verrät, wie das folgende Beispiel zeigt, welche Rezeptionsweisen angedacht, welche Schülerinnen und Schüler vorausgesetzt wurden. Der Schnitt findet sich unter den insgesamt 23 Bildern an dritter Stelle, neben dem fünften Gebot: „Du sollst nicht töten.“ Er stellt vor dem Hintergrund einer Bergkette, im Schatten eines Laubbaumes zwei streitende, wahrscheinlich männliche Figuren dar.

Während die eine, im Mittelpunkt des Bildes stehend, die Arme in den Himmel streckt, ob entsetzt, verzweifelt oder drohend, kann hier nicht entschieden werden, liegt die zweite zu ebener Erde, am linken unteren Rand. Zwischen beiden liegt ein Prügel124.

121 Als Satzspiegel wird die von Text und Bildern eingenommene Fläche auf einer Buchseite bezeichnet.

122 Durchaus lässt sich eine solche aufgeschlagene Seite als Lektion begreifen. Sie enthält genug Stoff für eine 45- minütige Katechese.

123 D. Martin Luthers kleiner Katechismus. S.47.

124 Und ein weiterer anregender Befund, der allerdings hier im Detail nicht verfolgt werden kann, lässt sich vermer-ken. Gemeint ist die Opposition von bautechnischen Elementen und figuraler Attribuierung: Obwohl auf der linken

Abb. 9: Beispiel einer Illustration aus einem Lutherischen Katechismus125

Über diesem Holzschnitt findet sich der Verweis 1. Mos. 4, 8-13. Das Bild erzählt danach die biblische Geschichte des Brudermordes von KAIN an ABEL. Verschiedene Punkte lassen sich hier schärfer fassen:

Zweifellos stand das Bild in Beziehung zu dem auf der rechten Seite gedruckten Text. Das Ge-bot „Du sollst nicht töten.“ wurde mit dem Holzschnitt allerdings nicht einfach semantisch ver-doppelt, sondern über eine konkrete Episode exemplifiziert und also in eine geläufigere Vorstel-lungswelt übersetzt. Das gewählte Beispiel beleuchtete dabei auf extreme Weise die zitierte Norm, es zeigte nicht einfach einen Totschlag, sondern den Brudermord schlechthin126.

Doch der Sachverhalt ist verwickelter. Denn ohne sprachlichen Zusatz musste der Holzschnitt vage und unbestimmt erscheinen. Nur durch zusätzliche Steuerungselemente - hier den Verweis auf die Genesis - und deren mündliche Klärung - konnte die Illustration eine für den katecheti-schen Unterricht sinnvolle Funktion gewinnen. Das Bild selbst war also derart einfach struktu-riert, dass sich die Geschichte von KAIN und ABEL, ja nicht einmal eine Mordtat, zwingend ablei-ten ließ. Weder die dargestellte Handlung, noch die Figuren und ihre Attribuierung erlaubablei-ten eindeutige Rückschlüsse. Per se konnte der Bildteil also kaum gelesen werden, ihm kam nur eine sekundäre Funktion zu.

Seite des Schnittes eine künstliche Einzäunung und auf der rechten Seite eine rauchende Esse, also Artefakte einer zivilisierten Zeit auszumachen sind, tragen die beiden Figuren nur einen Lendenschurz aus Blättern. Die Abbildung kann insofern als Symbiose verschiedener Tempora verstanden werden. In die aktuelle Bildwelt des Katechumen wurde um 1805 ein frühgeschichtliches (und anhaltendes) Problem menschlicher Umgangsweisen (ein)getragen.

125 Das Original hatte die Ausmaße 74 x 90 mm. Vgl. ebd., S.22.

126 Es ist zu beachten, dass die Bibel den meisten Menschen nicht in ihrer Metastruktur, sondern als Menge von einzelnen Episoden bekannt war.

Und noch ein Gedanke lässt sich aus der so einfachen Art der Illustration entwickeln. Danach ist zu vermuten, dass die Holzschnitte nicht allein die abstrakten Gebote veranschaulichen-, son-dern darüber hinaus deren Wiedererkennung begünstigen sollten: Als Frames konnten die Abbil-dungen und mit ihnen die dargestellte biblische Episode und die an sie geknüpfte Norm gespei-chert werden.

An dieser Stelle angekommen, können erste Gedanken zu der Umgangsweise mit diesem Band zusammenfasst werden: Zum einen mussten sich die Katecheten mit einem Zeichen auseinandersetzen, welches rigide, mittels verschiedener Sicherungssysteme seine potentiellen Lesarten reglementierte. Zum zweiten ist zu vermuten, dass die Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Katechese einzelne Abschnitte intensiv kennenlernen sollten, dafür sprechen vor allem die Kürze und Prägnanz der einzelnen Lektionen. Zum dritten lässt sich hier der Adressatenkreis genauer fassen. Schon die Reduktion der einzelnen Gebotstexte, der Verzicht auf fachsprachliche Elemente, der schlichte Wechsel von verbalem und bildlichem Code sowie die Übersichtlichkeit des Formats sprechen für ein wenig gebildetes Publikum.

Die 7. Beobachtung liefert dafür ein weiteres Indiz. Dazu muss die Schriftgröße der einzelnen Gebote vorgestellt werden.

Selig sind die ...

Selig sind die ...

Abb. 10: Typen im Vergleich

Der Größenunterschied der beiden Drucke ist offensichtlich. Tatsächlich ist das Schriftbild auf der linken Seite, es gehört zu dem untersuchten Lutherischen Katechismus, doppelt so groß, wie jenes auf der rechten Seite. Begründen lässt sich diese Schrifthöhe auf verschiedene Weise. Mit ihr soll-te nicht nur das jeweils zitiersoll-te Gebot graphisch (und also plakativ) herausgessoll-tellt werden, mit ihr ließen sich nicht nur die häufig besonders in kleineren Kirchen schlechten Lichtverhältnissen kompensieren (allerdings wäre zu klären, weshalb dann die Abbildungen und Fußnotentexte auf der gleichen und der gegenüberliegenden Seite en miniature gedruckt wurden), auch mit dem Lese(un)vermögen der Schüler wäre diese Type zu erklären127. Der Lutherische Katechismus aus dem Halleschen Verlagshaus GRUNERT hätte insofern religiöse Normen aber auch elementare Lesetechniken vermitteln können, er wirkte parallel im Sinne eines christlichen Lehrbuches und als kleine Lesefibel 128.

127 Vgl. Katechismus der Schaafzucht zum Unterrichte für Schäfer und Schäferey= Herren. Bearb. u. hg.v. C.A.

WICHMANN. S.X: „Das Buch ist auch im Französischen, wie nunmehr im Deutschen, mit grober Schrift gedruckt, weil Landleute, die des Bücher- Lesens nicht gewohnt sind, solche Schrift besser lesen können, als klare. Kupfer hat man beyfügen müssen, um allerley Dinge, besonders gemeinen Lesern, desto verständlicher zu machen.“

128 Andere religiöse Katechismen wurden parallel als Rechenbuch genutzt und mit Multiplikationstabellen versehen, vgl. Luthers Katechismus. Mit einer katechetischen Erklärung zum Gebrauch der Schulen von J.G. HERDER.

Dieser Schluss wirft in Verbindung mit der 8. Beobachtung eine nächste Frage auf: Wie sich näm-lich die kaum im Lesen geschulten Katechumen in dem Band zurechtfinden konnten?

Immerhin fehlen auf mehreren Bögen die Seitenzahlen. Dies fällt um so mehr ins Gewicht, als sich die grundsätzliche Gestaltung des Satzspiegels wenig veränderte und insofern für den Schü-ler kaum Anhaltspunkte für eine Orientierung geliefert wurden.

Auch das Fehlen eines Inhaltsverzeichnisses ist hier festzuhalten; wobei sich Spuren einer ge-waltsamen Entfernung dieser Seiten nicht nachweisen lassen129.

Beide Befunde lassen sich mit einer einfachen These erklären: Danach waren derlei Hilfen des-halb entbehrlich, weil dieser Katechismus linear, Seite für Seite, erschlossen wurde. Der vorlie-gende Lutherische Katechismus wurde also sukzessive von der Gemeinde erfasst, und nicht unstet130. Diese Überlegung führt letztlich zur Erörterung der in diesem Katechismus angelegten kollekti-ven Bezugssysteme. Tatsächlich vermittelte der Band nach- und nebeneinander verschiedene Zuschreibungsgrößen: Hierzu zählen jene protestantischen Elemente, mit denen symbolisch die Grenzen der kirchlichen Gemeinschaft markiert wurden131, hierzu gehören die unsichtbaren Mü-hen, der Leitvarietät der deutschen Schriftsprache gerecht zu werden132, hierzu muss auch der Text selbst gerechnet werden. Denn der Band, den die Hallesche Gemeinde im Jahre 1805 in den Händen hielt, hatte sich längst zu einem fossilen Zeichen gewandelt, welches beständig, über Jahrhunderte hinweg, für die gleiche Gesinnung mit den selben Geboten und Formulierungen warb. (De facto ließe sich also von einer selbstreferentiellen Bezugsgröße sprechen.)

Doch damit nicht genug. Auf den abschließenden 16 Seiten finden sich, wenngleich fragmenta-risch, Identifikationspunkte, die miteinander verbunden die Kontur einer deutschen Geschichte signalisierten. Hier beginnt die 9. Beobachtung133.

Wie eigentlich werden Geschichtsbilder imaginiert? Und auf welche Weise gewinnen diese Kon-struktionen die Qualität einer gemeinschaftlichen Bezugsordnung?134 Nur zwei Punkte seien an-gedacht: Zum einen ist davon auszugehen, dass die Vorstellung von einer geschichtlichen Ord-nung in den unteren Gesellschaftsschichten eher einfache lineare135 Formen annahm. Zum

129 Vgl. ebd.

130 In welchem Zeitraum diese Katechese vollzogen wurde, kann nicht mehr zweifelsfrei festgestellt werden. Wäh-rend die vorangestellte Lutherische Devise den täglichen Unterricht empfahl, lässt sich, so man den Text in sinnhaf-te Abschnitsinnhaf-te zu unsinnhaf-tersinnhaf-teilen sucht und zugleich eine Lektion je Woche veranschlagt ein Arbeitspensum von genau 53 Wochen kalkulieren.

131 Besonders deutlich wird dies mit dem Diktat von biblischen Sprüche und Sittenregeln, von Morgen- und Tischgebeten.

Hier wurden der christlichen Gemeinde verbindliche Textmodi für die einzelnen Tagesabschnitte vorgestellt. Vgl. D.

Martin Luthers kleiner Katechismus. S.90ff.

132 Vgl. ARNDT, E.: Luthers Stellung in der Geschichte der deutschen Nationalsprache. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. 92. Halle/Saale 1970. S.1-136.

133 D. Martin Luthers kleiner Katechismus. 152-168. Vgl. Katechismus der christlichen Lehre. Von GOTTLIEB

SCHLEGEL. S.197-206.

134 Vgl. ASSMANN, A.: Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer. Köln, Weimar, Wien 1999.

135 Geschichtsbilder werden hier also kaum mehrschichtig, zyklisch, epochal oder als konstruktivistische Modelle gedacht.

ren scheint es wahrscheinlich, dass diese Lineatur durch die Verknüpfung von wichtigen zeitli-chen Fixpunkten, von zumeist historiszeitli-chen Ereignissen, hergestellt wurde. Welche Fixpunkte dabei (im wahrsten Sinne des Wortes) von Bedeutung waren, entschied der einzelne Akteur selbst.

Wohl ist davon auszugehen, dass von ihm nur jene Ereignisse und Namen selektiert und darüber hinaus gespeichert wurden, die seinen ureigensten Sinnhorizont berührten, die vor allem für seine Gegenwart Beziehungen und Begründungen einräumte.

Die Kurze Geschichte der Reformation und der Epilog Von der Reformation der Stadt Halle waren als

‘verdichtete Chroniken‘ angelegt. Ihre Stellung im Anhang, die komplexe Art, in der sie verfasst wurden, und noch mehr die hier gewählte geringe Schrifthöhe verleiten zu der Annahme, dass beide Texte am Ende des gesamten Unterrichts wie ein Referat von den Katecheten vorgelesen wurden.

Der geschichtliche Abriss beginnt mit der Ausbreitung der Heilsbotschaft durch die Apostel, er streift die Konversion des römischen Kaisers CONSTANTIN „ungefähr dreyhundert Jahre nach Christi Geburt“ um sich sodann den „Ueppigkeiten und Lastern“, der „List und Verschlagen-heit“ der Bischöfe zu Rom zuzuwenden. Die folgende Kette von Verfehlungen wird nur unter-brochen von den Mühen des „Apostels der Deutschen“, BONIFACIUS, und den Bekenntnissen des „frommen Johann Huss“. Das Ende des „Reiches der Finsternis“ ist mit der Leistung M AR-TIN LUTHERS erreicht. Einigen Details aus seiner Biographie, mit den Stationen Eisleben - Eise-nach - Erfurt - Wittenberg in Sachsen, folgt die Auseinandersetzung mit dem päpstlichen Stuhl und schließlich die Ausweitung der reformatorischen Idee: „Indem nun Luther auf diese Art in Deutschland die Wahrheit und gute Sache vertheidigte, und mit seinen Predigten und Schritten

Der geschichtliche Abriss beginnt mit der Ausbreitung der Heilsbotschaft durch die Apostel, er streift die Konversion des römischen Kaisers CONSTANTIN „ungefähr dreyhundert Jahre nach Christi Geburt“ um sich sodann den „Ueppigkeiten und Lastern“, der „List und Verschlagen-heit“ der Bischöfe zu Rom zuzuwenden. Die folgende Kette von Verfehlungen wird nur unter-brochen von den Mühen des „Apostels der Deutschen“, BONIFACIUS, und den Bekenntnissen des „frommen Johann Huss“. Das Ende des „Reiches der Finsternis“ ist mit der Leistung M AR-TIN LUTHERS erreicht. Einigen Details aus seiner Biographie, mit den Stationen Eisleben - Eise-nach - Erfurt - Wittenberg in Sachsen, folgt die Auseinandersetzung mit dem päpstlichen Stuhl und schließlich die Ausweitung der reformatorischen Idee: „Indem nun Luther auf diese Art in Deutschland die Wahrheit und gute Sache vertheidigte, und mit seinen Predigten und Schritten