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3. Das Beispiel einer Abendblatt anekdote – H EINRICH VON K LEIST 1

3.1. Von neuen, bekannten Schwierigkeiten

Es mag verwundern, dass nachstehend nicht die im Rahmen der Nationalismusforschung für HEINRICH VON KLEIST typischen literarischen Texte und deren Figuren zitiert werden. Tatsäch-lich bemühte man mit diesem Autor zwei ‘illustre‘ Gestalten4, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zusehends die Bildmedien vereinnahmten5, als Kupferstich und Altarbild, Karikatur und Feder-zeichnung Verbreitung fanden und einen unmissverständlich deutschen Fixpunkt symbolisierten:

den cheruskischen Fürsten ‘Arminius‘, bekannt auch unter der fehlerhaften Übersetzung ‘Her-mann‘, und die Mutter der Teutonen, ‘Germania‘.

Für dieses Kapitel wurde ein anderes Beispiel, die Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege, ausge-wählt. Ausgesucht wurde dieser Text zum einen, weil mit ihm die schwierige Unterscheidung von patriotischen und nationalen Implikationen thematisiert werden kann, zum anderen, weil er aufgrund seiner Kürze überschaubar und deshalb relativ einfach in seinem semantischen Potential aufzulö-sen sein sollte. Freilich wird hier wider besseren Wisaufzulö-sens eine Leichtigkeit versprochen. Denn tatsächlich gilt es im folgenden einen Text vorzustellen, der an der Oberfläche, auf der Ebene des

1 Vgl. Bibliographien und Forschungsberichte. In: WICHMANN, T.: Heinrich von Kleist. Stuttgart 1988. S.233f.

2 Verwendet wurde die Ausgabe KLEIST, H.V.: Berliner Abendblätter I/II (im folgenden BA). Hg.v. R. REUß, P.

STAENGLE. In: Brandenburger Ausgabe. BKA II/7-8. F.a.M. 1997 (einschließlich BKB 11).

3 HOFMEISTER- HUNGER, D.: Pressepolitik und Staatsreform. Die Institutionalisierung staatlicher Öffentlichkeitsar-beit bei Karl August von Hardenberg (1792-1822). Göttingen 1994. S.233-244: Die „Berliner Abendblätter“: Legen-de und zensurpolitischer Routinefall. hier S.235.

4 Vgl. {B 3.2.} S.124f. Anm.13 u. 14.

5 Dass auch mythische Figuren im Sinne eines Kommunikates ausgewertet und dabei präzise unterschiedliche Gemein-schafts- Konzeptionen filtriert werden können, versuchte das Dissertationsprojekt von E.V. BRUCHHAUSEN zu bele-gen: Das Zeichen im Kostümball - Zwischen Germania und Marianne. Ms. 1998. In aller Schärfe begann die Autorin mit einer Kritik an den in der wissenschaftlichen Literatur zu beobachtenden diffusen Interpretationen der Germania im Sinne von Volk, Reich, Nation, Staat, Gesellschaft und Bevölkerung. Die methodischen Gedanken, die E.V. B RUCH-HAUSEN aus ihrer Kritik entwickelte, lassen sich in drei Schritten darlegen: Zum einen unterschied sie funktional zwischen den kommunikativen Medien (deren Verbreitungsmodi; bspw. leistete eine bronzene Germania in großzügig angelegten Parkanlagen anderes als eine Germania auf einer Briefmarke) und den Bildern. Zum zweiten differenzierte die Autorin innerhalb der Bilder zwischen der mythischen Figur und den sie schmückenden Attributen (Eichenlaub, Schwert, Krone, Schild.). Die Politikwissenschaftlerin verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass der eigentli-chen Figur lediglich eine sinnpotenzierende Rolle zukommen, dass allein die Komposition der beigefügten Attribute den Bedeutungsgehalt, in diesem Falle den Typus der intendierten Gemeinschaft, eingrenzen konnte. Da sich indes, hier greift die dritte Überlegung, den meisten Attributen verschiedene Inhalte und Verweise zuschreiben lassen, müssen diese erst (a) operationalisiert werden, ehe (b) aufgrund semantischer Kompatibilitäten eine dominierende Ordnung abzulesen ist.

Plots6, einen Gestus versprach, der so nach einer intensiven Lektüre nicht nur nicht aufrecht zu halten war, sondern in sein völliges Gegenteil umschlug.

Die Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege findet sich erstmalig in der Ausgabe der Berliner A-bendblätter vom 06. Oktober 1810 abgedruckt7. Bevor sich diesem Text zugewandt werden kann, ergeben sich bereits hier verschiedene Schwierigkeiten, die für die Fragestellung dieser Arbeit eine unmittelbare Bedeutung haben:

Wohl ist zu fragen, wie man mit einem Text im Text, beispielsweise einem Artikel in einer Zei-tung, verfährt. Muss nicht, so der Blickwinkel auf die pragmatische Funktion des einzelnen Tex-tes geschärft werden soll, ein makrotextuelles Beziehungsgefüge beachtet werden? Sollte nicht der Präsentationsrahmen eines Textes sowohl deren Verbreitungsmodi als auch dessen Bewertung bedingen? Denn nicht zufällig steht er in einer bestimmten Zeitung mit einer eigenen Konzepti-on. Oder spiegelbildlich, eine Anekdote liest sich in einer Illustrierten anders als in der Ab-schlusszeitung einer Oberprima und wieder gänzlich neu in einem politisch engagierten Tageblatt.

Zudem muss berücksichtigt werden, dass jene Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege zu einer Zeit erschien, da der literarische Markt von einer Fülle solcher und ähnlicher Erzählungen über die napoleonischen Feldzüge überflutet wurde8. Mit anderen Worten, der Kleistsche Text ist ne-ben einer Vielzahl derartiger Anekdoten, mit vergleichbarer Themenstellung und also als Be-standteil eines Geschichtendiskurses, einer unsichtbaren Ordnung von inhaltlichen aber auch formalen und funktionalen Erzählkonventionen, zu begreifen9.

Und noch eine Unterscheidung, die nicht nur für das folgende Beispiel bedeutsam werden sollte, sei an dieser Stelle angefügt. Gemeint ist die Trennung von patriotischen und nationalen Denkwei-sen. Tatsächlich müssen beide Kategorien gegeneinander abgegrenzt werden:

6 Unter einem Plot wird hier die Entwicklung einer Handlung in einer erzählten Geschichte (begrenzt auf ein Figurenensemble) verstanden.

7 BA. S.34f. Im weiteren Verlaufe des 19. Jahrhunderts wurde die Anekdote in diverse Kleistsche Textsammlungen - 1848 von EDUARD VON BÜLOW, 1859 von LUDWIG TIECK sowie 1863 von JULIAN SCHMIDT - aufgenommen. (Es ist zu beachten, dass mit der von H. SEMBDNER vorgelegten Bibliographie noch nicht alle Nachdrucke Kleistscher Texte in Zeitschriften und Anthologien erfasst wurden. Vgl. SEMBDNER, H.: Kleist- Bibliographie 1803-1862. Hein-rich von Kleists Schriften in frühen Drucken und Erstveröffentlichungen. Stuttgart 1966. S.8.)

8 Vgl. Sammlung von Anekdoten und Charakterzügen aus den beiden merkwürdigen Kriegen in Süd- und Nord- Deutschland in den Jahren 1805, 6 u. 7. 11 Bde. Lpz. Bd.1-5. o.J. [1807-1810], Bd.6-11 [1810-1813]. Bd.1. 1.H. S.22-24. Bd.1. 4.H. S.13f. Bd.3. 2.H. S.121f. u. Bd.4. 3.H. S.270f. Gesichtet wurden zudem folgende Anthologien: Anek-doten Karakterzüge und Reflexionen zur Beleuchtung merkwürdiger Personen und Begebenheiten der neuesten Zeitgeschichte mit prüfender Auswahl gesammlet von einem Unparteyischen. Jena 1800. Anekdoten, Charakterzüge und Kriegsfahrten aus dem Leben des Prinzen Heinrichs von Preußen. Göttingen 1803f. Anekdotenalmanach auf das Jahr 1809. Gesammelt u. hg.v. K. Müchler. Bln. Anekdotenalmanach auf das Jahr 1812. Gesammelt u. hg.v. K.

MÜCHLER. Bln. Anekdotenlexikon für Leser von Geschmack. Hg.v. K. MÜCHLER. 2 Bde. Bln. 1817. Anekdo-ten=Kalender zur gesellschaftlichen Unterhaltung. Schneeberg 1831. Die große Anekdoten=Jagd, im Felde der Geschichte, des Witzes und des Scherzes, der Laune und des Spottes. Erarbeitet und für Jagdlustige in besondere Reviere zusammen getrieben von Wilderer. Zweytes Revier. Drittes Treiben und viertes Treiben. Lpz. 1834. Anek-doten und Charakterzüge Napoleons. 4.Aufl. Kassel 1847.

9 Vgl. HILZINGER, S.: Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung. Zum Struktur- und Funktionswandel der Gattung Anekdote in Historiographie, Publizistik und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1997.

Patriotismus meint, darauf wurde bereits in einer Fußnote versteckt hingewiesen10, ein sozialpoliti-sches Verhalten, in dem nicht die eigenen Interessen im Vordergrund stehen, sondern das Wohl aller. Ein Patriot ist auf das Gemeinwesens orientiert, er engagiert sich für das Vaterland. Wird damit aber der zu Beginn dieser Arbeit unter dem Topos Nation umrissene Bedeutungsrahmen eingelöst? Ist an diese Definition wirklich ein antifeudaler Tenor gebunden, findet sich in dieser Begriffsbestimmung tatsächlich die Vorstellung von einer politischen Willensgemeinschaft gleichberechtigter Mitglieder wieder? Ist es nicht vielmehr so, dass jedwede Gesellschaftsformati-on zu allen Zeiten ein Engagement für die bestehende Ordnung und Gemeinschaft, mithin patri-otische Gebaren, einräumte ja für deren Erhalt sogar voraussetzte?11 Die Zustimmung zu diesem Gedanken unterstellt, sollten dann patriotische Verhaltensmuster und neuartige nationale Gemein-schaftskonzepte voneinander getrennt und eine unbedingte Folgebeziehung beider Denkweisen behutsamer unterstellt werden12.

Gewicht gewinnt dieser Hinweis, so man auf die innerhalb der Nationalismusforschung mehrfach besprochene Kontinuität zwischen der antinapoleonischen Bewegung zu Beginn des 19. Jahr-hunderts und der späteren Herausbildung eines nationalen, politischen und antiständischen Be-wusstseins in Deutschland blickt. Denn zu jener frühen Bewegung, dem Ausgangspunkt einer aufsteigenden Linie nationaler Befindlichkeiten, zählte man auch patriotisch gesinnte Schriftstel-ler, etwa HEINRICH VON KLEIST.

3.2. Wissenschaftliche Perspektiven

Mit diesem Abschnitt seien Forschungsbeiträge zu den politischen Schriften KLEISTS vorgestellt.

Dabei sind, dies gilt wenigstens für die gesichtete wissenschaftliche Literatur, verschiedene me-thodische Gemeinsamkeiten derart auffällig, dass sie benannt werden müssen: So wurden in den berücksichtigten Beiträgen die für den Kleistschen Nachlass verwendeten Kategorien patriotisch und nationalistisch kaum definiert. Was nur heißen kann, dass deren Bedeutungsdifferenzen geklärt waren.

Bemüht wurden neben den bisher gestreiften Texten, Die Hermannschlacht13 und Germania an ihre Kinder14, das Kriegslied der Deutschen15, der Katechismus der Deutschen16, das Lehrbuch der französischen

10 Vgl. {A 2.2.} S.22. Anm.27. VIERHAUS, R.: „Patriotismus“ - Begriff und Realität einer moralisch- politischen Haltung. In: deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften. Hg.v. dems. München 1980. Patriotismus.

Hg.v. G. BIRTSCH. Hamburg 1991.

11 Zu der Frage, wie aus patriotischen Denkweisen nationale Konzepte erwachsen können, vgl. GIESEN, B., JUNGE, K.:

Vom Patriotismus zum Nationalismus. Zur Evolution der „Deutschen Kulturnation“. In: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit. Hg.v. B. GIESEN. F.a.M.1994. S.255-303. GIESEN, B.: Vom Patriotismus zum völkischen Denken. Intellektuelle als Konstrukteure der deutschen Identi-tät. In: Nationales Bewusstsein und kollektive IdentiIdenti-tät. Hg.v. H. BERDING. F.a.M. 1994. S.345-393.

12 Auch die verschiedenen Formen der Teutschtümelei, die sich durch das 19. Jahrhundert ausbreiteten, können nicht einfach als Beleg für eine neue Gemeinschaftskonzeption, die Idee von einer Nation, zitiert werden.

13 Bis in den Dezember 1808 arbeitete HEINRICH VON KLEIST an dem Dramenfragment Die Hermannsschlacht. Dass dieser Text im Sinne eines ‘antinapoleonischen Traktats‘ wenig brauchbar ist, verdeutlichen seine Veröffentlichungs-daten. Denn Die Hermannschlacht wurde erst lange nach dem Tode ihres Verfassers publiziert. Einige Szenen finden

Journalistik, der Brief eines rheinbündischen Offiziers an seinen Freund, der Brief eines jungen märkischen Landfräuleins an ihren Onkel sowie die Aufsätze Was gilt es in diesem Kriege?17 und Über die Rettung Ös-terreichs. Hier lassen sich zwei weitere folgenreiche Punkte ausmachen: Zum einen wird mit Blick auf die in den Fußnoten umrissenen Publikationsdaten deutlich, dass für die meisten dieser Texte eine Wirkungsmacht unter den Kleistschen Zeitgenossen (und also im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit) nicht verfolgt werden kann, dass tatsächlich nur ein kleiner Teil jener Artikel im Umfeld der antinapoleonischen Befreiungskriege veröffentlicht wurde. Zum zweiten wurden in der wissenschaftlichen Literatur für keinen der oben genannten Texte die pragmatischen Parame-ter erfasst. Vielmehr suchten verschiedene Wissenschaftler die Befindlichkeiten (indicatores) des Verfassers zu ergründen18.

Nur beiläufig, am Rande der Überlegungen zu ADAM MÜLLER, finden sich bei F. MEINECKE

Äußerungen zu der patriotischen Gesinnung KLEISTS: „Er (ADAM MÜLLER - d.V.) hatte wohl eine überaus starke Richtung zum Wirklichen, aber auch einen träumerischen spekulativen Hang und verband beides so eng miteinander, dass auch seine realsten Einsichten zugleich immer ein Stück phantasievoller Anschauung waren. Man begreift die Begeisterung einer solchen Natur für Heinrich v. Kleist, von dessen Dichtung man Ähnliches sagen könnte, nur dass Kleist nicht allein ungleich kraftvoller und origineller war, sondern auch strenger an sich gearbeitet hat [...] zu der großen patriotischen Leidenschaft freilich, die Kleist entwickelte, war Müllers sensitive Natur nicht fähig, aber sie war reich und fein genug, um das Bild der rings erwachenden nationalen Triebe in sich aufzunehmen und eine Theorie des nationalen Staatslebens zu versuchen.“19. Die Möglichkeit, Kleistsche Texte sowohl national als auch nationalistisch zu interpretieren, erörter-te B. ALLEMANN. Die Wurzeln einer solcher Grundhaltung ließen sich auf der einen Seite vul-gärmarxistisch aus dem preußischen Junkertum (dem der Autor entstammte) herleiten, auf der sich erstmals in den Zeitschwingen oder des deutschen Volkes fliegenden [!] Blätter. Nr.31. 22.04.1818. Nr.32. 25.04.1818.

Vollständig wurde das Dramenfragment erst in den Nachlass- und Werkausgaben von 1821, 1826, 1828, 1859 und 1863 gedruckt. Vgl. SEMBDNER, H.: Kleist- Bibliographie 1803-1862.

14 Häufiger als die Hermannschlacht, und zwar 13 mal, wurde die Ode Germania an ihre Kinder bis 1871 veröffentlicht:

Im Einzeldruck, im Heft, im Liederbuch sowie in einer Zeitschrift 1813, im Taschenbuch und Lyrikbändchen 1814, in den nachgelassenen Schriften 1821 und 1826, in zwei weiteren Gedichtbänden 1836 und 1843 sowie in den Werk-ausgaben 1827, 1859 und 1863. Vgl. SEMBDNER, H.: Kleist- Bibliographie 1803-1862.

15 Dieser lyrische Text wurde bis zur Reichsgründung zumindest 12 mal verlegt, im Heft- Format und in einem Lie-derbuch „der Hanseatischen Legion gewidmet“ 1813, im Rheinischen Merkur, neben zwei weiteren Abschiedsliedern als Einzeldruck sowie in der Sammlung Vaterländische gesellige Lieder 1815, in der Anthologie Deutsche Lieder 1818 und dem Lyrischen Schatzkästelein 1836 und schließlich in den Werkausgaben von 1821, 1826, 1827, 1859 und 1863.

16 Erstmals ediert in: Heinrich von Kleist’s Politische Schriften und andere Nachträge zu seinen Werken. Mit einer Einleitung hg.v. R. KÖPKE. Bln. 1862. Gleiches gilt für die folgenden vier Texte!

17 Dieser Aufsatz, wie die oben genannten Texte in den Wirren der Jahre 1808/09 verfasst, erschien erstmals in Hein-rich von Kleists Leben und Briefe von EDUARD BÜLOW 1848, dann in den Schriften von 1859, 1862 und 1863.

18 Vgl. den Kommentar von H.J. KREUZER im Diskussionsbericht zum Vortrag Kiefner In: Kleist- Jahrbuch (im folgen-den KJb). 1988/89. Hg.v. H.J. KREUZER. Bln. S.40-43. hier S.43: „dass der Literaturwissenschaftler von heute über den engeren Kreis der Schönen Literatur hinaus über sprachgeschichtliche Kenntnisse nicht mehr verfügt, die es ihm erlauben würden, [...] Hilfen zu geben, [...] ist auch ein Faktum. Die von uns abgedriftete Sprachgeschichte, Sprach-wissenschaft lässt uns im Stich.“

19 Vgl. MEINECKE, F.: Weltbürgertum und Nationalstaat. S.129f.

anderen Seite aber auch „auf eine im Grunde unverändert durchgehaltene weltbürgerliche Gesin-nung“ zurückführen. In jedem Falle konnten die letzten Texte KLEISTS „die gesellschaftliche und politische Mission, die er ihnen selbst zugedacht hatte, nicht [...] erfüllen [...] aber das ändert nichts daran, dass sie bis in ihre Struktur hinein auf eine solche Mission hin geschaffen“ waren20. Nur an der Peripherie berührte R. VIERHAUS in seinem Aufsatz das Kleistsche Verhältnis zur bestehenden feudalen Gesellschaft: „In seinem Innersten ist Kleist nie ein bürgerlicher Mensch gewesen! Wenn er emphatisch bereit war, Standesvorteile und - vorurteile abzuwerfen, so doch nicht, um sie gegen bürgerliche Verhaltensweisen einzutauschen. Unterhalb aller Wendungen Krisen seines Lebens blieb Kleist von der Solidarität zwischen Monarch und Adel überzeugt; er hat sie in patriarchalischem Sinne verstanden (und dabei möglicherweise im König den Ersatzva-ter gesucht), und er hat, wenn er an ein Amt dachte, dessen Wahrnehmung stets als königlichen Dienst verstanden.“ Entsprechend erwartete HEINRICH VON KLEIST „ungewöhnliche Entschlüs-se des Königs, durch die ungewöhnliche Aktionen im Lande hervorgerufen, nämlich der ‘Natio-nalgeist‘ und das Bewusstsein dafür geweckt würden“21.

Mit einem eher militanten Akzent las F. HAASE die Kleistsche Literatur: „Ihr Ziel ist die Ein-schreibung einer neuen Werteordnung, die für die Zukunft Preußens über eine literarische Öf-fentlichkeit jene Körperintensitäten erzeugt, welche die Bevölkerung zu gegebener Zeit den mo-dernen Krieg zu führen heißt.“ Mit anderen Worten, „Kleists Texte sind Kriegsliteratur. Ihre subversive Aufgabe ist es, den Krieg als die große Schule darzustellen, in der die Völker praktisch zum gesellschaftlichen Umgang und zu rechtlichem Verein erzogen werden [...] Was sich in der die Werteordnungen erzeugenden Welt des Krieges ereignet und welche Ordnungen erzeugt werden, davon erzählen Kleists Texte.“ Sie sind mithin ein „subversives Mittel zur Produktion eines medial zu produzierenden militaristischen Volksgeistes“22.

Wieder anders sichtete G.L. FINK die Kleistschen Zeilen. Er verfolgte in ihnen das Motiv der Revolte, der Rebellion. „Als Echo der Zeitgeschichte spiegelt es einerseits die Nachwirkungen der Französischen Revolution, andererseits das patriotische Engagement während der napoleoni-schen Herrschaft“ wieder. Sein Fazit: „Kleist unterscheidet nicht zwinapoleoni-schen Revolution und

20 Vgl. ALLEMANN, B.: Der Nationalismus Heinrich von Kleists (1967). In: Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966-1978. Hg.v. W. MÜLLER-SEIDEL. Darmstadt 1981. S.46-54. An dieser Stelle wird die grundsätzliche Frage nach der politischen Einstellung KLEISTS berührt. Dazu: GRATHOFF, D.: Die Zensurkonflikte der Berliner Abendblätter. Zur Beziehung von Journalismus und Öffentlichkeit bei Heinrich von Kleist. In: Idiologiekritische Studien zur Literatur. Essays I. Hg.v. V. SANDER. F.a.M. 1972. S.35-168. SCHEIBNER, E.: Zu Kleists politischen Ansichten zur Zeit der ‘Berliner Abendblätter‘. In: WB. 23/8 (1977). S.144-170.

21 VIERHAUS, R.: Heinrich von Kleist und die Krise des preußischen Staates um 1800. In: KJb. 1980. S.9-33. Auch S.29: „nach dem Friedensschluss kehrt er nicht nach Preußen zurück und sucht keine Beziehung zu den Männern der Reform, obwohl er mehreren von ihnen bekannt ist. An dem Werk des Wiederaufbaus Preußens auf neuen Grundlagen und in neuer Gestalt ist Kleist nicht beteiligt; es ist nicht einmal erkennbar, in welchem Maße er es über-haupt wahrnimmt.“ Vgl. zu KLEISTS Gesellschaftsauffassung BOTZENHART, M.: Kleist und die preußischen Refor-mer. In: KJb. 1988/89. S.132-146. hier S. 144: „So wenig wir von den politischen Vorstellungen Kleists im einzelnen wissen – das Ideal einer ständischen Monarchie dürfte gewiss dazugehören.“

22 Vgl. HAASE, F.: Kleists Nachrichtentechnik. Eine diskursanalytische Untersuchung. Opladen 1986. bes. S.155-162.

vidueller oder kollektiver Rebellion, sondern zwischen Rebellion und nationaler Erhebung. Das heißt, nur Aufstand gegen fremde Unterdrücker wird gutgeheißen, nicht aber der gegen die Ob-rigkeit, auch wenn diese despotisch und korrupt ist und die Menschenrechte verletzt, anstatt sie zu garantieren [...] So entspricht der Unterschied zwischen Revolution und nationaler Erhebung zugleich dem der Revolution von unten, die zwangsweise ausartet, was auch von Kleists negati-vem Bild des Volkes zeugt, und der Revolution von oben, die zwar nicht weniger grausam ist, aber den Hass gegen den Feind bewusst benutzt und steuert.“23

Dass „Kleists Politik in der Tat schwer zu positionieren“ ist, räumte auch B. FISCHER ein. Er begründete diesen Sachverhalt nicht nur mit der dürftigen Überlieferungslage, sondern damit,

„dass Kleist kein Kopf war, der in den zeitgenössischen politischen Konventionen dachte, son-dern eher als poetischer Seismograph“ zu begreifen ist. B. FISCHER unterstellte, „dass Kleist sich aus einer relativ naiven Aufklärerposition heraus zu einem skeptischen Visionär der sich ankündi-genden Moderne entwickelte, dem das politische Tagesgeschehen letztlich unbedeutender war als die erhofften oder befürchteten Umbrüche gesellschaftlicher Verhältnisse und psychologischer Identitäten“. Die Hermannsschlacht wandelte sich dabei zu einem „radikalen Experiment auf den Fichteschen Begriff des intellektuellen Heroismus“, der Katechismus der Deutschen bediente das

„Spiel der Propaganda des nationalen Befreiungskrieges“ mit aller Radikalität und eröffnete die Einsicht, „zu welchem totalitären Indoktrinations- und Machtanspruch der ‘antikoloniale‘ Natio-nalismus späterer Jahrhunderte fähig sein sollte“, die Briefe eines rheinbündischen Offiziers an seinen Freund und eines jungen märkischen Landfräuleins an ihren Onkel schließlich verrieten, dass „der natio-nale Charakter des Krieges [...] keine individuellen Zwischenstellungen erlaubt, sondern unbe-dingte Loyalität“ erfordert24.

Erst vor dem Hintergrund dieser Forschungslage seien nun drei Lesarten der Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege angeführt. Zumeist am Rande erwähnt, wurde diesem Text zwar ein wech-selhaftes Niveau abgerungen, zugleich aber auch immer, beinahe selbstverständlich, eine patrioti-sche Neigung zugebilligt.

Dabei gestand H. ARETZ dem Text nur einen geringen Tiefgang zu: „Für eine ‘Abendblätter‘- Anekdote ist der Text schon ungewöhnlich lang und ausführlich, die Pointe in den exotischen Verbalisierungen des Offiziers banal, der Inhalt, als kriegerische Agitation verstanden, ausgespro-chen vordergründig.“25

Auch der knappe Kommentar von F. HAASE lässt einen eher trivialen Text erwarten: „Was eine freie Wissenschaft für die Bildung des Volksgeistes entwerfen soll, ist eine ‘vollständige

23 Vgl. FINK, G.L.: Das Motiv der Rebellion in Kleists Werk im Spannungsfeld der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege. In: KJb. 1988/89. S.64-88.

24 Vgl. FISCHER, B.: Das Eigene und das Eigentliche: Klopstock, Herder, Fichte, Kleist. S.271ff. Wichtig auch das Fazit S.297: „Die politische Form der anvisierten Nation wird bei Kleist selten konkret.“

ung des vaterländischen Universums‘. Diese Aufgabe haben auch die Vielzahl an Anekdoten, die Kleist für die ‘Berliner Abendblätter‘ schrieb [...] Die ‘Anekdote aus dem letzten preußischen Krieg‘ beschwört die Kampfbereitschaft und Heldenhaftigkeit preußischer Soldaten [...] Nicht um der Brutalität willen und weil es zum Soldatenlos gehört, töten zu müssen, sondern im Namen Gottes und eines ‘Heiligen Krieges‘ sollen die zukünftigen Soldaten für König, Volk und Vater-land kämpfen.“26

Erst in dem Aufsatz Die andere Wirklichkeit des Erzählens von R. SELBMANN wurde ein Teil der

Erst in dem Aufsatz Die andere Wirklichkeit des Erzählens von R. SELBMANN wurde ein Teil der