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1. Das Beispiel einer Fragmentsammlung - F RIEDRICH VON H ARDENBERG 1

1.2. Wissenschaftliche Perspektiven

Bereits in der Arbeit Weltbürgertum und Nationalstaat von F. MEINECKE wurde FRIEDRICH VON

HARDENBERG als Keim einer „modernen Nationalidee“ in einer idealen Linie mit JOHANN

GOTTFRIED HERDER undJOHANN GOTTLIEB FICHTE gedacht9. Insbesondere in der Sammlung Glauben und Liebe vermutete der Historiker ein Weltbild mit patriotischen, ja frühnationalen Zü-gen10. Eine Bewertung, die nach einer ersten Lektüre dieser Sammlung auch keineswegs auszu-schließen ist. Denn in dem Text finden sich Fragmente, die einen nationalen Themenkreis vermuten lassen. Es ist die Rede von einem „Nationalzug neupreußischer Frauen“ (Frgm. 30), dem König als „wahrhaften Reformator und Restaurator seiner Nation“ (Frgm. 37), einer Nation des Königs „in der Menschheit“ (Frgm. 38), „der wahren Energie einer Nation“ (Frgm. 46, 47) und gleichsam einer Nation „der vortrefflichsten Menschen“ (Frgm. 66).

8 Was nicht zutrifft. Vgl. WFH. V. Stuttgart 1988. S.859.

9 Vgl. MEINECKE, F.: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaats. Mün-chen, Bln. 1922. S.62ff., 93ff. u.129ff.

10 Ebd. S.69: „So sehen wir hier also, wie man von dieser geschichtlichen Gesinnung aus und indem man dem ästhe-tisierenden und romanästhe-tisierenden Zuge der Zeit folgte, zu einem wirklichen und echten Nationalstaat kommen konnte. Denn das ist der Novalische Staat, der auf der aktiven Beteiligung der Bürger am Gemeinwesen und auf

Auf andere Weise deutete G. KAISER11 die staatspolitischen Schriften HARDENBERGS. KAISER

bezeichnete ihn als Erbe des Pietismus und Bindeglied zum frühen Patriotismus. Die besondere Leistung des Autors sah er in der Verknüpfung der bis dahin getrennten Linien des kulturellen und des politischen Nationalgefühls12. Im Mittelpunkt stand dabei die Übertragung der pietisti-schen Grundprinzipien Subjektivismus und Spiritualität auf ein patriotisches Ideal. So sollte in den staatspolitischen Schriften des FRIEDRICH VON HARDENBERG das in mystischer Wesensschau erfahrene ‘innere Vaterland‘ in eine spannungsreiche Beziehung zu tatsächlichen politischen Ver-hältnissen treten. Mit zahlreichen Vergleichen versuchte G. KAISER diese Gratwanderung zu be-legen. Als Indizien wertete er in der Sammlung Glauben und Liebe das Bild des Herrschers als

‘Fürst des Herzens‘ (Frgm. „An den König“), die Wandlung einer Amtsbeziehung in eine Ge-fühlsbeziehung, die Relativierung des staatlichen Einflusses durch das Handeln aus einer Fiktion heraus (Frgm. 17), die Analogien zwischen Staat, Gemeinde und Familie (Frgm. 61), die den Wider-spruch zwischen staatlicher Allmacht und Individualität aufhoben13, sowie die Vorstellung, dass Deutschland zu einer besonderen Leistung in der Völkerfamilie (Frgm. 7) berufen sei.

Die Verweltlichung pietistischer Ideale, das Schwanken zwischen einem mystischen Aufgehen im All- Einen und der Erfüllung im vernünftig handelnden Ich konnte nach G. KAISER dennoch nicht über die Wirklichkeitsabkehr des FRIEDRICH VON HARDENBERG hinwegtäuschen. Er unter-stellte dem Schriftsteller einen völligen „Verzicht auf den regelnden Eingriff des politischen Ges-taltungswillens“14: „Indem der pietistisch gestimmte Patriot den Staat im Lichte seines inneren Ideals sieht, deutet er ihn um, statt ihn praktisch zu verändern.“15

Anders, im Sinne eines nationalen Leitbildes, suchte W. WÜLFLING16 die Fragmentsammlung Glauben und Liebe zu interpretieren. Er ging von der Überlegung aus, dass die deutsche National-geschichte des 19. Jahrhunderts von einer Vielfalt von Mythen beeinflusst wurde, dass diese My-then in einem festen Bestand von Zeichen zu finden seien und hier insbesondere Persönlichkei-ten aus der jüngeren deutschen Vergangenheit ausgewählt, mit auffälligen AttribuPersönlichkei-ten bedacht, zu

einer bewussten gegenseitigen Durchdringung bürgerlichen und öffentlichen Lebens beruhen soll.“ (Hervorhebung durch d.V.)

11 Vgl. KAISER, G.: Pietismus und Patriotismus im Literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkula-risation. Wiesbaden 1961.

12 Dazu und mit einem großzügigen Überblick über die Forschung zu HARDENBERG: UERLINGS, H.: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. hier S.584.

13 G. KAISER unterstellte HARDENBERG sogar die „Forderung des Staatssozialismus“. Ders.: Pietismus und Patrio-tismus. S.122.

14 Ebd. S.158.

15 Ebd. S.225. Angeregt durch diese Arbeit und die Gedanken von J. SCHMITT- SASSE stellte H. UERLINGS den Au-tor in eine Linie mit den kursächsischen religiösen Patrioten der sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts: „Mit den sächsischen Patrioten verbindet Hardenberg nicht nur der Bergbau, dem ein Hauptaugenmerk der Reformer gegol-ten hatte, sondern auch Grundsätzliches: die politische Wendung der moralischen Kritik politischer Verhältnisse; die Orientierung am ‘Vaterland‘ und am Gemeinwohl unter Absehung von ständischer Borniertheit, dirigistischer Kabi-nettspolitik und der ausschließlichen Konzentration auf den Fürsten [...]“ Ders.: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. S.586. Vgl. SCHMITT- SASSE, J.: Der Patriot und sein Vaterland. Aufklärer und Reformer im sächsischen

‘Rétablissement‘. In: Aufklärung als Politisierung- Politisierung als Aufklärung. Hg.v. H.E. BÖDEKER, U. H ERR-MANN. Hamburg 1987. S.237-252.

einer mythischen Figur stilisiert und schließlich im Sinne eines Stereotyps wiederholt wurden17. Als eine besondere Form, die „bei der Konstitution grundlegender Ideologeme (z.B. für die Be-gründung einer vor allem nationalen ‘Identität‘) eine Rolle spielte“, deutete W. WÜLFING dabei die Mythisierung von politischen Persönlichkeiten. An drei Beispielen, der Person NAPOLEONS, der preußischen Königin LUISE sowie OTTO VON BISMARCK, sollte die Entstehung und Verbrei-tung solcher Mythen zu verfolgen sein.

Anfänge der lang anhaltenden Verehrung der preußischen Königin LUISE meinte WÜLFING in der Fragmentsammlung Glauben und Liebe des FRIEDRICH VON HARDENBERG gefunden zu haben.

In einzelnen Wortpaaren in den Fragmenten 40, 41 und 42 glaubte erbei der Nennung der Köni-gin einzelne mythisierende Elemente („Taube“, „Adler“, „Heiligthum“) sowie eine mythische Zeitdimen-sion („goldene Zeit“, „ewiger Friede“) zu entdecken. Zudem deutete er das 30. Fragment der Sammlung im Sinne der Institutionalisierung eines künftigen Rituals, der Umwandlung einer Huldigungszeremonie der Königin in eine preußische Tradition18. Es sei an dieser Stelle in sei-nem Wortlaut wiedergegeben; tatsächlich scheint eine solche Auslegung möglich:

„Jede gebildete Frau und jede sorgfältige Mutter sollte das Bild der Königin, in ihrem oder ihrer Töchter Wohnzimmer haben. Welche schöne kräftige Erinnerung an das Urbild, das jede zu er-reichen sich vorgesetzt hätte. Ähnlichkeit mit der Königin würde der Karakterzug der Neupreu-ßischen Frauen, ihr Nationalzug. Ein liebenswürdiges Wesen unter tausendfachen Gestalten. Mit jeder Trauung ließe sich leicht eine bedeutungsvolle Huldigungszeremonie der Königin einfüh-ren; und so sollte man mit dem König und der Königin das gewöhnliche Leben veredeln, wie sonst die Alten es mit ihren Göttern thaten. Dort entstand ächte Religiosität durch diese unauf-hörliche Mischung der Götterwelt in das Leben. So könnte hier durch diese beständige Verwe-bung des königlichen Paars in das häusliche und öffentliche Leben, ächter Patriotism entstehen.“

Das Fragment kann als Anregung für ein neues Brauchtum, ein preußisches Gemeinschaftsbe-wusstsein, gelesen werden. Wirklich vermittelt es den Gedanken an ein von der Monarchin abge-leitetes gesellschaftsübergreifendes Verhaltensmuster. Dennoch schleicht sich ein gewisses Unbe-hagen ein, wenn W. WÜLFING postuliert, es komme „nicht darauf an, wie ein Text gemeint gewe-sen ist, sondern wie er gewirkt hat“19. Denn der Leser wartet vergebens auf einen Beleg für die Wirkungsmacht der Fragmentsammlung. Freilich ist dies auf die geringe Zahl der überlieferten Rezeptionszeugnisse zurückzuführen. Dabei ist kein Zeugnis erhalten, das die Wirkung eines bestimmten Fragmentes belegt! Insofern hätte W. WÜLFLING zumindest begründen müssen, wa-rum ausgerechnet das 30. Fragment dem zeitgenössischen Leser auffallen und zugleich die ande-ren Textsegmente als schmückendes Beiwerk abkömmlich werden sollten. Der Verdacht liegt

16 WÜLFING, W., BRUNS, K., PARR, R.: Historische Mythologie der Deutschen. München 1991.

17 W. WÜLFING bezeichnet diese Attribute als Mytheme. Vgl. ebd., S.4ff.

18 Vgl. ebd., S.60f.

19 Ebd. S.62. Anm.18.

nahe, dass hier nicht die Fragmentsammlung an sich von Interesse war, sondern vielmehr jede im Sinne der eigenen wissenschaftlichen Arbeit verwertbare Aussage. Die Betonung einiger Zeilen im Sinne der Genese eines Mythos ist methodisch zumindest fragwürdig.

Schließlich sei eine vierte national- patriotische Lesart der Fragmentsammlung Glauben und Liebe vorgestellt. Sie lässt sich allerdings nicht direkt auf eine wissenschaftliche Arbeit zurückführen.

Diese Deutung muss vielmehr als fingiert und durch ein Beispiel von A. HAHN inspiriert ver-standen werden20. Auf seine Überlegungen wurde bereits in einem vorherigen Kapitel hingewie-sen21. Verkürzt können sie wohl als ‘Gleichzeitigkeit von Zuschreibungsmodi für soziale und nationale Gemeinschaften‘ beschrieben werden.

Tatsächlich kann nun die Sammlung unter einer solchen theoretischen Maßgabe gelesen werden:

Zum einen ließe sich im Text an verschiedenen Fragmenten deutlich der immanente Anspruch auf eine universelle Geltung von Wahrheit, Liebe (Frgm. „An den König“ u. 24), Recht (Frgm.

65), Schönheit (Frgm. „Die Alpenrose“), Bildung (Frgm. 31, 38 u. 58), Kultur (Frgm. 39) und sogar häusliche Wirtschaft (Frgm. 27 u. 29) zeigen. Diese einzelnen Themenfelder werden explizit genannt. In dieser Folge ließe sich unterstellen, dass sie ihre eigenen Regeln beanspruchen. Der Text skizziert also, so könnte man mutmaßen, verschiedene Gesellschafts- und Sinnbereiche mit jeweils eigenen Funktionen, ohne dass der eine in den anderen hineinregieren könnte. Klar wer-den die Themenfelder benannt und also voneinander getrennt.

Was hier postuliert wurde, könnte in dieser Folge als ein neuer Typus von Identität, nämlich der von sachlich zusammengehörigen Verbindungen, die jeweils geschlossene Sinnprovinzen bilden, gedeutet werden. Aber zur Beschreibung dieser funktional konstituierten Identität sozialer Kos-men wurde, wie könnte es anders sein, noch das Bild vom Königreich gebraucht. Das, was virtu-ell alle territorial begründete Identität sprengte, wurde mit Territorialitätsmetaphern beschrieben.

Die Fragmente könnten entsprechend als ‘Schmelztiegel‘ zweier Identifikationsmuster, als Kopp-lung ethischer Themenfelder mit nationalen Bezugsgrößen, wie politische Macht und territoriale Grenze, gelesen werden.

Neben eine solche Betonung nationaler Akzente lassen sich weitere Interpretationen stellen. Die folgenden Beispiele können zeigen, welche Widerstände die Sammlung Glauben und Liebe einer verbissenen Deutung entgegenbringt. Eine ausschließlich nationale Leseweise sollte sich schon deshalb verbieten.

Beispielsweise las der angelsächsische Literaturhistoriker H. REISS die Fragmentsammlung als

‘Verwechslung von Kunst und Leben‘. Der Text sei eine Aufforderung an das preußische Kö-nigspaar zum Kampf gegen die Französische Revolution und die Aufklärung. Auf ähnliche

20 Vgl. HAHN, A.: Identität und Nation in Europa. In: BJfS. Hg.v. H.-P. MÜLLER, H. BERTRAM, A. MEIER. Bd.III.

1993. S.193-203. hier S.195, allerdings zu einem Beispiel aus der französischen Literatur: PASCAL.

21 Vgl. {A 2.1.} S.15f.

se, als Inbegriff eines reaktionären deutschen Konservatismus, wurde HARDENBERG, insbesonde-re mit Verweis auf seine Fragmentsammlung, von J. DROZ in der französischen Kritik, aber auch in den literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen der DDR, etwa früh von C. TRÄGER, ge-dacht22. Die breite konservative Rezeptionsgeschichte bezog sich vor allem auf das 15. Fragment und hier auf jene Zeilen, in denen eine monarchische Staatsordnung befürwortet wurde:

„Ein wahrhaftes Königspaar ist für den ganzen Menschen, was eine Constitution für den bloßen Verstand ist [...] Übrigens ist auch ein geborner König besser, als ein gemachter.“

Als Ahnherr einer neuen Linken, im Sinne einer Prophetie der Moderne benutzte dagegen R.

FABER23 die Fragmentsammlung Glauben und Liebe. Er unterstellte HARDENBERG einen „utopi-schen Anarchismus“, eine „revolutionäre Apokalyptik“24. Die Ausführungen von R. FABER wa-ren ein Versuch, den Autor aus der Vereinnahmung durch konservative Positionen zu lösen und für die Neue Linke sowie die Studentenbewegung zu besetzen. Im Namen HARDENBERGS sollten sozialdemokratische und orthodox- marxistische Zukunftsbilder im Sinne eines ‘utopischen Sozi-alismus‘ kritisch gelesen werden.

Wie sind diese so gegensätzlichen Lesarten zu erklären? Sind sie zurückzuführen auf die Eigenart des Textes? Oder liegt diesen unvereinbaren Deutungen ein methodisches Problem zugrunde, das unter dem Begriff des hermeneutischen Zirkels bekannt ist: Die Schwierigkeit, dass man sich nie sicher sein kann, ob man tatsächlich die für die entsprechende Quelle relevanten und bedeutungs-tragenden Faktoren gefunden hat und nicht die Wissensbestände der eigenen Zeit in die Kultur der fremden Zeit überträgt und als zeitgenössisches Schema interpretiert25. Ein weiteres Beispiel für zwei sich eher ausschließende Deutungsmuster sei vorgestellt:

So versuchte H.-G. KUHN, den Autor mit seiner Fragmentsammlung als „Apokalyptiker der Poli-tik“ zu beschreiben, der staatswissenschaftliche Aufgaben mit der Frage nach den „letzten Din-gen“ verband. Demnach verfolgte FRIEDRICH VON HARDENBERG in einer „universalen Dialek-tik“ in seinen politischen Schriften einen Trieb zum Unendlichen, der notwendig unerfüllt blei-ben musste26.

Im Sinne einer ‘Utopie‘, durchaus in einer idealen Kontinuität zu den Prototypen dieser literari-schen Gattung, etwa von THOMAS MORUS, las die Fragmentsammlung hingegen H.-J. MÄHL. Er deutete den Text als Fortsetzung und Radikalisierung des von IMMANUEL KANT in der Idee zu

22 Vgl. REISS, H.: Politisches Denken in der deutschen Romantik. Bern 1966. DROZ, J.: Le Romantisme allemand et l’état. Paris 1966. S.49ff. TRÄGER, C.: Novalis und die ideologische Restauration. In: Sinn und Form. 13. 1961.

S.618-660. hier S.618f.

23 Vgl. FABER, R.: Novalis: Die Phantasie an die Macht. Stuttgart 1970. hier S.45, 63f., 78f. u. 80ff.

24 Vgl. KRAUSS, W.: Französische Aufklärung und deutsche Romantik (1962). In: Romantikforschung seit 1945.

Hg.v. K. PETER. Königstein/Ts. 1980. S.168-179. hier S.177.

25 Eine Verwechslung dieser zwei Arbeitsperspektiven lässt sich unter Verwendung der in {A 3.1.} dieser Arbeit vorgestellten Glieder eines Kommunikationsaktes mit der Formel [Wtn] Ö [T]=[T] Ö [Wt1] fassen. Vgl. S.32-34.

einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht [1784] entwickelten „philosophischen Chilias-mus“. Unter Rückgriff auf die von HARDENBERG und den Brüdern SCHLEGEL wiederholt ver-wendeten Beschreibungen ihrer politischen Schriften als „Ideal“, „regulative Idee“, „absolutes Postulat“ und „Idol ungeborener Welt“ bezeichnete H.-J. MÄHL die Fragmentsammlung Glauben und Liebe als „Gegenbild, das einen kritischen Rahmen für die Beurteilung und Veränderung der Wirklichkeit liefert.“ 27

Abschließend sei auf den Aufsatz Tropen- und Rätselsprache von L. STOCKINGER28 eingegangen.

Eine Studie, mit der sich die folgende Textanalyse einleiten lässt. Denn zum einen nimmt sie eini-ge Beobachtuneini-gen dieser Analyse vorweg. Zum anderen führt sie diese Argumentation zu einem

‘gordischen Knoten‘.

Ausgehend von den ersten sechs Fragmenten des Textes, der Vorrede zu Glauben und Liebe, ver-suchte L. STOCKINGER, die Sammlung als einen hochgradig codierten Text zu lesen. Codiert, um eine Binnenkommunikation im Rahmen der allgemeinen gesellschaftlichen Kommunikationspro-zesse, an der nicht alle Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft teilnehmen können, zu schaffen. Die Fragmentsammlung wurde danach in einer Sprache verfasst, die nur einigen weni-gen Lesern zugänglich war29. Die Grenze zu diesem besonderen Kommunikationsakt wurde von L. STOCKINGER allerdings nicht als eine starre Linie zwischen Arkangemeinschaft und Öffent-lichkeit, sondern als „dynamisch offen“ verstanden. Die Sprache sollte dem Leser „Angebot und Anreiz“ sein, sich bei dem nie endenden Bemühen um das Verständnis des Textes „selbst und eigenständig zu einem Mitglied dieser Arkangemeinschaft heranzubilden, bis, das wäre die ‘regu-lative Idee’ dieses Prozesses, alle ‘eingeweiht‘ sind“30. Als kommunikativer Code wurde von L.

STOCKINGER für die Fragmentsammlung Glauben und Liebe das von GOTTHOLD EPHRAIM L ES-SING in den Freimäurergesprächen. Ernst und Falk entwickelte Geheimbundmodell bemüht. Der Text sollte in Anlehnung an die internen Kommunikationsformen geheimer Sozietäten verfasst wor-den sein.

Sinn und Leistung einer solchen Nachahmung zeigte der Literaturhistoriker in einer Interpretati-on des sechsten Fragments aus der Vorrede zu Glauben und Liebe. Das DistichInterpretati-on - „Lasst die Libel-len ziehn; unschuldige Fremdlinge sind es / Folgen dem Doppelgestirn froh, mit Geschenken,

26 Vgl. KUHN, H.W.: Der Apokalyptiker und die Politik. Studien zur Staatsphilosophie des Novalis. Freiburg 1961.

S.77. Ähnlich, als ‘Prediger von Heilslehren‘, mit katholischer Färbung, wurde FRIEDRICH VON HARDENBERG von P. BERGLAR bewertet Vgl. ders.: Geschichte und Staat bei Novalis. In: JFDH. 1974. S.143-208.

27 Vgl. MÄHL, H.-J.: Der poetische Staat. Utopie und Utopiereflexion bei den Frühromantikern. In: Utopiefor-schung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Hg.v. W. VOßKAMP. Bd.III. Stuttgart 1985. S. 273-302.

Vgl. dazu UERLINGS, H.: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. S.602.

28 Vgl. STOCKINGER, L.: „Tropen und Rätselsprache“. Esoterik und Öffentlichkeit bei Friedrich von Hardenberg (Novalis). In: Geschichtlichkeit und Aktualität. Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik. Fs.f. H.-J. MÄHL. HG.V. K.-D. MÜLLER, G. PASTERNACK, W. SEGEBRECHT. Tübingen 1988. S.182-206.

29 Hier mit Bezug auf SCHRÖDER, D.: Fragmentpoetologie im 18. Jahrhundert und bei Friedrich von Hardenberg.

Untersuchungen zur vergleichenden Rekonstruktion der impliziten Poetologie von Aphorismus und Fragment im ausgehenden 18. Jahrhundert. Diss. Kiel 1976. S.337.

her.“ - deutete er als enge Verschränkung von heilsgeschichtlicher Allegorese, Natursymbolik und idealistischer Philosophie. Im Verlauf seiner Argumentation versuchte L. STOCKINGER, den sym-bolischen Gehalt der verwendeten Substantive Libelle/ Fremdling/ Doppelgestirn und Geschenk zu rekonstruieren und zu verschiedenen Themenkreisen zu verknüpfen31. Als Adressat dieses Frag-mentes konnte L. STOCKINGER aufgrund der herausgearbeiteten Bedeutungsvarianten auf einer fiktiven Ebene den biblischen König HERODES, d.h. eine politische Macht, die beim Anbruch der neuen Zeit um ihre Position fürchten musste, ermitteln. Gleichsam auf einer realen Ebene ließ sich ein aufgeklärtes Publikum, welches den notwendigen „Mystizismus“ in Sprache und Gedan-ke noch nicht eingesehen hat, ausmachen.

In politischer Hinsicht ergab sich aus dieser Deutung ein doppelter Kommentar zum Thron-wechsel vom 16. November 1797: „Es geht zum einen um den Wechsel von dem unmoralisch als Bigamisten lebenden König [FRIEDRICH WILHELM II.] zu einem vorbildlichen Ehemann, der auch als König seine Königin [FRIEDRICH WILHELM III. und LUISE] nach den Normen bürgerli-cher Moral zu lieben schien, und es geht zum zweiten um das Ende der konservativen Kulturpo-litik der Rosenkreuzerkamarilla, die Anfang 1798 noch nicht vollständig entmachtet war.“32 Diese Deutung regt weitere Gedanken an: Zum einen ist zu fragen, in welcher Weise die philoso-phischen und heilsgeschichtlichen Wortfelder aus dem sechsten Fragment in dem gesamten Text als zentraler Sinnhorizont zu belegen sind. Zum anderen drängt sich die Frage auf, ob eine solche Codierung absichtsvoll in den Text eingeflochten wurde; inwieweit verschiedene textuelle Mar-kierungen für eine solche Kommunikation als intentional beschrieben werden können. Immerhin setzte eine solche Codierung besondere Kenntnisse voraus. Kann also davon ausgegangen wer-den, dass FRIEDRICH VON HARDENBERG mit der Rosenkreuzerkamarilla und darüber hinaus mit rosenkreuzerischen Textschlüsseln vertraut war? Um den Kern dieser Fragestellung verständli-cher zu machen, seien einige Punkte aus der Geschichte rosenkreuzerisverständli-cher Verbindungen skiz-ziert.

Mit dem Rosenkreuzertum33 können zwei verschiedene Bewegungen mit unterschiedlichen Ent-wicklungslinien bezeichnet werden34: Zum einen lässt sich eine Gruppe von Rosenkreuzern

30 STOCKINGER, L.: „Tropen und Rätselsprache“. S.186.

31 Dieses Phänomen, die Beziehung zwischen Wörtern eines Textes aufgrund einer bestimmten Menge gleicher Bedeutungsbestandteile (Seme), wird unter dem Terminus der semantischen Äquivalenz zusammengefasst.

32 Ebd. S.202.

33 Stellvertretend für eine Fülle neuerer Arbeiten SCHLÖGL, R.: Alchemie und Avantgarde. Das Praktischwerden der Utopie bei Rosenkreuzern und Freimaurern. In: Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Vom utopi-schen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution. Hg.v. M. NEUGEBAUER-WÖLK, R. SAAGE. Tübingen 1996.

S.117-142.

34 Vgl. MÖLLER, H.: Die Bruderschaft der Gold- und Rosenkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer anti-aufklärerischen Geheimgesellschaft. In: Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa. Hg.v. H.

REINALTER. F.a.M. 1993. S.199-239. hier S.200. Aber auch ein zeitgenössischer Beleg ist möglich: Bereits 1781 bestritt F. KNIGGE in seiner Schrift Über Jesuiten, Freymaurer und deutsche Rosencreutzer, dass der neue Orden der Rosen-kreuzer mit der literarischen Bewegung um J.V. ANDREAE aus dem frühen 17. Jahrhundert etwas gemein hätte.

bachten, die sich als eine literarisch- geistige Bewegung im Gefolge der Schriften des JOHANN

VALENTIN ANDREAE35 aus dem 17. Jahrhundert konstituierte. Eine Existenz dieser geistigen Bewegung ist jedoch für das ausgehende 18. Jahrhundert nicht belegt. Dass sich eine motivische oder sprachliche Verwandtschaft zwischen den Schriften ANDREAES und der Sammlung Glauben und Liebe nicht zweifelsfrei nachweisen lässt, scheint von daher nicht verwunderlich. Zum ande-ren müssen die Rosenkreuzer als eine freimaurerische Sonderbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstanden werden, die ihren stärksten politischen Einfluss in der Regierungs-zeit des preußischen Königs FRIEDRICH WILHELM II. [1786-1797] entwickelte. Eine Bewegung, deren Ende im Dunkeln liegt, aber in jedem Fall vor dem Thronwechsel von 1797 anzusiedeln ist. Die Rosenkreuzer gaben sich seit 1777 als höchste Stufe der Freimaurerei aus. Eine Einwei-hung in ihre vor allem religiösen Geheimnisse setzte deshalb die Mitgliedschaft in einem Frei-maurerbund voraus36.

Weder ein rosenkreuzerisches noch ein freimaurerisches Engagement wurde jedoch bisher für FRIEDRICH VON HARDENBERG belegt. Selbst ein Kontakt zu derlei Kreisen konnte noch nicht nachgewiesen werden. Mit der Untersuchung, die im Zuge der folgenden Textanalyse durchge-führt wurde, lässt sich dieser Problemkreis erhellen. Danach können zwar Berührungen H

Weder ein rosenkreuzerisches noch ein freimaurerisches Engagement wurde jedoch bisher für FRIEDRICH VON HARDENBERG belegt. Selbst ein Kontakt zu derlei Kreisen konnte noch nicht nachgewiesen werden. Mit der Untersuchung, die im Zuge der folgenden Textanalyse durchge-führt wurde, lässt sich dieser Problemkreis erhellen. Danach können zwar Berührungen H