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2. Das Beispiel eines Vorlesungsmanuskriptes - J OHANN G OTTLIEB F ICHTE 1

2.4. Über Wirkungen in Moll

Mit diesem Kapitel gerät der bereits mehrfach verwendete, aber keineswegs fixierte Topos Wir-kung ins Blickfeld: Wann lässt sich von einer WirWir-kung, einer WirWir-kungsmacht sprechen? Oder um diese Frage weiter zu fassen, in welcher Weise lässt sich eine solche Kategorie für eine empirische Herangehensweise knapp umreißen? Soviel sei hier eröffnet: Jedwede Wirkung sollte, so sie aus kommunikativen Prozessen erwächst, die Aufnahme von Zeichen [T] durch einen Empfänger [Etn] voraussetzen und im weitesten Sinne zu einer Veränderung der Einstellung des Empfängers [Etn+1] führen110. Durchaus ließen sich diese Stichworte in eine Gleichung fassen:

[T] + [Etn] Ö [Etn+1]

Die Gleichung räumt zwei Betrachtungsweisen ein:

4 Zum einen lässt sie sich dahingehend auflösen, dass es zwischen dem Zeichen [T] und seinem Rezipient [Etn+1] keine semantischen Zusammenhänge geben muss, dass jegliche Reaktion [Ö] als Folge einer Wirkung verstanden werden kann. Dies bezieht auch die Möglichkeit ein, dass der Empfänger den Sinn eines Signals ablehnt oder auf Grund einer Verweigerung nur unvollständig zu erfassen vermag. Es ist dies ein Wirkungsbegriff, der ungeeignet für den Problemkreis dieser Arbeit scheint. Denn mit dem Thema dieser Arbeit wird nicht nur eine konkrete Vorstellung von den Signalen, sondern auch deren Akzeptanz verfolgt. (Das Beispiel der Fichteschen Reden ist hier besonders zwingend, denn in ihnen wurde die perlokutive Textfunktion und damit der Gradmes-ser für ihren Erfolg expliziert.)

108 Ebd. S.XV u. XXIIIf. Vgl. VOGT, T. S.83. EUCKEN, R. S.X. SPRANGER, E. S.VIIIf. BERGNER, D. S.5.

109 Auf ein solches Bild, dass sich mühelos in die bisherige Problemlage einordnen ließe, verwies bereitsA. EHRLICH. Gemeint ist jenes Gemälde, dass ehemals in der Aula der Berliner Universität hing (1. Gelenkstelle) und später un-kommentiert in der Abhandlung von H. SCHUFFENHAUER (2. Gelenkstelle) abgedruckt wurde. Dieses Bild zeigt FICHTE im Freien, im Kreise aller Stände, mit leidenschaftlicher Geste seine Reden haltend. Es ist dies sowohl was Örtlichkeit als auch Publikum betrifft eine Fiktion. Vgl. EHRLICH, A.: Fichte als Redner. S.9. Dazu S CHUFFENHAU-ER, H.: Die Pädagogik J.G. Fichtes. Bln. 1963. S.75.

4 Zum anderen und infolgedessen lässt sich die Wirkung eines Kommunikats mit der Formel [T] + [Etn] Ö [Etn+1] enger fassen, wenn die beiden Prämissen - [T] ist begrenzt und findet sich in [Etn+1] wieder - beachtet werden. Mit anderen Worten, von der Wirkung eines Zeichens kann ausgegangen werden, so eine relative Deckungsgleichheit von Signalbedeutung und neuer Einstel-lung des Empfängers nachzuweisen ist. Nur, wie lässt sich dergleichen belegen; konkret bei den Reden an die deutsche Nation?111 Problematisch sollte eine Antwort schon deshalb werden, weil mit den Reden ausdrücklich drei verschiedene Zielebenen anvisiert wurden, analytische, inhaltliche sowie affektive Intentionen.

1. Zunächst bietet sich die Möglichkeit, den Fundus von übermittelten Rezeptionszeugnissen zu den Reden und also deren Aufnahme (vor allem) durch das 19. Jahrhundert systematisch zu betrachten. Wobei hier bewusst der systematische Anspruch betont sei, denn es sollte nicht darum gehen, sich aus der Vielzahl der übermittelten Zeugnisse, entsprechend der eigenen Interessenlage, zu bedienen. Oder spiegelbildlich und mit zynischem Tonfall: Gewiss, man findet für jede Deutungsvariante eine passende Passage112.

(a) Für die folgende Untersuchung wurden die von E. FUCHS gesammelten Stellungnahmen zu den Reden an die deutsche Nation herangezogen113. Es sind dies 7 Äußerungen aus einem weiblichen und 109 aus einem männlichen Blickwinkel114, Äußerungen aus 86 Briefen, 20 Zeitungsartikeln, 14 autobiographischen Texten, 3 Tagebüchern sowie 8 juristischen Schreiben115. Oder, um eine weitere Art der Zusammensetzung dieser Quellengruppe anzugeben, es handelt sich zu 19,2%

um Bezugnahmen auf die Vorlesungen in den Wintertagen 1807/08 und zu 84,4% um Auseinan-dersetzungen mit der schriftlichen Auflage der Reden116.

(b) Wichtiger scheint eine andere Unterscheidung der vorliegenden Rezeptionszeugnisse. Danach kommen 50,3% der hier untersuchten Stellungnahmen aus einem persönlichen Schriftverkehr,

ent-110 Beinahe beiläufig wird dabei die Unterscheidung zwischen der Wirkung eines Kommunikats und der Konstruktion mit diesem Kommunikat, also der Verwendung von Zeichen, vorausgesetzt.

111 Ein Beispiel, in dem nicht die Wirkungsmacht der Reden an die deutsche Nation, sondern vielmehr die appellative Kraft ihres Verfassers 1813 nahegebracht wird, zeigt der Aufsatz Fichtes Einfluss auf seine Studenten in Berlin zum Beginn der Befreiungskriege von E. FUCHS. Hier wird anhand persönlicher Briefe die Entscheidung des Studenten und FICHTE- Anhängers JACOB LUDWIG CAUER nachgezeichnet, dem „höchstnöthigen Aufruf des preußischen Staates an alle junge, dienstfähige Männer“ zum Beitritt in die Befreiungsarmee zu folgen. Vgl. FUCHS, E.: Fichtes Einfluss auf seine Studenten in Berlin zum Beginn der Befreiungskriege. In: KuN. S.178-192.

112 Vgl. EHRLICH, A.: Fichte als Redner. S.11: „Die Skala der zeitgenössischen Urteile über Fichte als Redner reicht von höchster Anerkennung, ja schwärmerischer Verehrung bis zu Verachtung und Spott“ S.57: „Allein der Gedan-kengang, der bei Fichtes Vorstellungen von einem populären Vortrag stattfand, bleibt den meisten Hörern unbe-greiflich, und Fichtes Art, unermüdet [...] auf neue Formeln, Wendungen und Zusammenstellungen [zu sinnen], verwirrt eher, als dass sie klärt.“

113 Vgl. J.G. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen. Hg.v. E. FUCHS, R. LAUTH, W. SCHIECHE. Bd.IV:

1806-1812. Stuttgart- Bad Cannstatt 1987 (im folgenden FiG).

114 Hinzu kommen 19 Sequenzen, bei denen das Geschlecht des Verfassers nicht zu ermitteln ist.

115 Mit der folgenden zeitlichen Streuung: 1807 (12x)| 08 (71x)| 09 (23x)| 10 (4x)| 11 (2x)| 12 (1x)| 17 (2x)| 21 (1x)| 23 (2x)| 24 (1x)| 25 (1)| 26 (2x)| 29 (1x)| 30 (1x)| 32 (1x)| 35 (1x)| 40 (2x)| 57 (2x)| 59 (1x)| 62 (1x)| 1865 (1x)| ? (2x)

stammen 14,8% aus den öffentlichen Netzwerken, lassen sich aber immerhin 34% der untersuchten Quellen einem institutionellen Kreislauf, genaugenommen der politischen Zensur, zuordnen. Zu letzteren gehören insbesondere die Schreiben aus dem Königlich- Preußischen- Oberkonsistorium unter Vorsitz von ADOLF FRIEDRICH VON SCHEVE aus den Jahren 1807/08117 sowie die Berichte der Mainzer Zentraluntersuchungskommission von 1821/26118. Interessant sollten diese Dokumente staat-licher Kontrollorgane aus zweierlei Gründen sein: Zum einen kann an ihnen die akribische Ar-beitsweise der Zensoren, deren misstrauisches Äugen auf kleinste Verstöße wider den politischen und sozialen Wertekanon, verfolgt werden; zum anderen lassen sich hier gerade wegen dieser präzisen Kontrollen, angetrieben von einem unsichtbaren Beamtengeist, die für eine öffentliche Diskussion der Fichteschen Gedanken neuralgischen Punkte ableiten:

(b1) Die Auszüge aus dem Briefwechsel der Berliner Zensoren, der Oberkonsistorialräte NOLTE, HANSTEIN, SACK, HECKER und VON SCHEVE, legen nahe, dass die Reden an die deutsche Nation vor allem als „Urtheile über politische Ereignisse und Hindeutungen auf den Geist einer fremden Regierung“, in ihrer ausländerfeindlichen, antifranzösischen, Tendenz gelesen wurden119. Dar-über hinaus erregten aber auch Textpassagen Besorgnis, die wider die preußische Regierung „ge-missdeutet“ werden konnten. Es lohnt sich an dieser Stelle, einen Staatsdiener zu Worte kommen zu lassen: „Das Ober- Konsistorium [...] hat [...] die Erlaubnis zum Drucke aus dem Grunde ver-weigern zu müssen geglaubt, weil die eine und die andere der darin aufgestellten Behauptungen von Übelwollenden auf unsere Regierung gedeutet werden könnte [...] sollte es aber, unter den jetzigen Zeitumständen, wo so sehr viel darauf ankommt, dass das zwischen dem Landesherrn und der Nation bestehende Verhältnis durch nichts gestört werde, nicht daher verzeihlich sein, wenn alles entfernt würde, was nur auf irgend eine Art zu Missdeutungen Veranlassung geben könnte?“ (Hervorhebung durch d.V.) (1888: NOLTE an BEYME, 12.03.1808) 120

Das Beispiel zeigt nicht nur, wie sehr die Zensoren mit den in den Reden verwendeten Leerstellen, den vielen vage gehaltenen Textpassagen, zu kämpfen hatten121, sondern auch, dass weniger die Intentionen des Verfassers korrigiert, als vielmehr die Möglichkeit eines Missbrauchs durch

116 Beide Werte sind problematisch, weil nicht immer eindeutig zwischen dem Bezug auf die Fichteschen Vorträge und der Leseerfahrung zu unterscheiden ist, deshalb wurden Mehrfachnennungen in der Berechnung eingeräumt.

117 Vgl. FiG. Nr.1839a-c. 1840b-c. 1841a. 1849a-b. 1850. 1857. 1859. 1870a-b. 1871. 1872a. 1873. 1875. 1878a. 1884.

1888. 1889a. 1896a. 1897a-b. 1900. 1901a-b. 1902. 1903. 1903a. 1904. 1904a. 1906. 1906a. 1907. 1907a-b. 1909a.

1910-1913.

118 Ebd. Nr.1841b-c. 1842. 1842a. 2239.

119 Vgl. ebd., Nr.1839a. 1859. 1870b. 1872a. 1896a. 1902.

120 Vgl. ebd., Nr.1839a. 1878a.

121 Wie variabel sich die in der 9. Beobachtung der Textanalyse vorgestellten Leerstellen ausfüllen ließen, zeigt das Gutachten NOLTES zur 5. Rede: „Zwar enthält sie [...] heftige Ausfälle auf die französische Sprache und Literatur;

allein, nicht zu gedenken, dass der Ausdruck Französisch nirgends gebraucht ist, auch dass, was der Verfasser von den aus dem Lateinischen entstandenen - nach seiner Ansicht gewissermaßen lebendig - todten Sprachen behauptet, eben so gut von dem Spanischen und Italiänischen prädicirt werden kann, so ist das Ganze ein philosophisches Räsonnement, das mit gleichen Waffen zu bekämpfen, der Gegenparthei frei steht.“ (1859)

belwollende‘ und damit ein unkontrolliert- kritisches Räsonieren über die preußische Obrigkeit ausgeschlossen werden sollte.

Neben dieser eher politischen Dimension wurde von den staatlichen Inspizienten auch die philo-sophische Grundierung der Reden, und hier deren enorme Komplexität, angesprochen. Eine Komplexität, die den intellektuellen Zugang erschweren und damit (nicht nur) den Zensoren eine Bewertung unmöglich machen sollte. In diesem Sinne und verzweifelt schrieben die beiden Räte SACK und HECKER nach der Lektüre der 3. Rede:

- „Mir ist die Weißheit des H. Fichte zu hoch, und gänzlich ungenießbar. Ich verstehe ihn nicht, und kann ihn also nicht beurteilen.“

- „Ich bin ebenfalls der Meinung, dass der Abhandlung des Herrn Prof. Fichte unbedenklich das imprimatur ertheilt werden könne, da dieselbe, ihrer Unverständlichkeit wegen, durchaus keinen nachtheiligen Einfluss auf die Religiosität und Moralität ihrer Leser haben kann.“ (1849a-c)122 Aufschlussreich sind schließlich jene Felder, denen die Zensoren der preußischen Behörde nichts Anstößiges abgewinnen konnten, die sie womöglich nicht gesehen hatten, ja nicht sehen konnten.

Dazu gehören die Verletzung traditioneller Gemeinschaftsvorstellungen, die Diskussion um eine gänzliche Veränderung des Erziehungswesens aber auch jedwede antifeudale Tendenz. Un-terstreichen können dies zwei Noten, die der Oberkonsistorialrat SACK an den preußischen Re-genten, FRIEDRICH WILHELM III., sandte und in denen er FICHTES „kräftige Worte zu seiner Zeit, zur Belebung und Ermunterung des Nationalsinnes“, seinen Aufruf der „Deutschen zur Deutschheit“ lobend erwähnte. (1875: 09.02.1808, 1904: 10.04.1808)

(b2) Um so eigentümlicher liest sich im Vergleich dazu die Bewertung der Fichteschen Vorle-sungsreihe durch eine zweite Behörde, 13 Jahre später: In den Berichten der Mainzer Zentralunter-suchungskommission, jenem Gremium, das gegen die freiheitlichen Bestrebungen in Deutschland auf einem Kongress in Karlsbad im August 1819 gefordert und von der Bundesversammlung in Frankfurt a. M. am 20. September des selben Jahres einberufen wurde, in den Darlegungen dieser Kommission erschienen die Reden in einem neuen Licht: Unversehens wurde ihnen ein weithin tönendes Echo, eine gewaltige Zugkraft, eingeräumt und die Textausgabe von 1808 als Auftakt einer deutschen „Regenerations“- Bewegung, in Verbindung mit den späteren „Burschenschaf-ten, Turn- Gemeinden und freien Verständigungsvereinen“, überhaupt als „Keim aller später ins Leben getretenen Formen des revolutionären Strebens entdeckt“ (1841c, 1842). Die letzte Passa-ge lässt zudem erahnen, dass der Fichteschen Vorlesungsreihe ein neuer, Passa-gefährlicher Akzent abgenötigt werden konnte, der seltsamer Weise noch von den sonst so aufmerksamen zeitgenös-sischen Zensoren übersehen wurde. Gemeint ist der republikanische, ja wahrhaft nationale

122 Auch in den Zeugnissen aus dem persönlichen Schriftverkehr finden sich derlei Zweifel; vgl. Nr. 2016: JAKOB an WILHELM GRIMM, Kassel, 16.08.1809: „Viel wichtiger wäre es jetzo, etwa Fichtes Reden an die deutsche Nation in ein populäres, gemeines Gewand zu bringen, dass sie jeder lese.“

fall, ganz im Sinne des dieser Arbeit vorangestellten Gemeinschaftsideals: die „Erhaltung eines höhern Volkslebens, welches weit über den Staat gestellt wird“. (1842a)

Wieder lässt sich ein Wandel der Deutungsweisen der Reden durch die Zeit vermerken, wieder zeigt sich ein beinahe abrupter Umschlag der Lesart des Textes.

(c) Wie allerdings wurden jenseits dieses Kreises die Fichteschen Reden aufgenommen, welche Wesenszüge wurden von den Zeitgenossen vorrangig aus der Vortragsreihe filtriert? Einige Er-gebnisse einer quantitativen Untersuchung seien zitiert:

Beispielsweise finden sich nur in 8,8% aller Zeugnisse Ausblicke auf das zukünftige Zeitalter.

Und dies nicht im Sinne der Fichteschen Utopie, sondern in einem breiten, diffusen Spektrum123. Hierzu gehören die Verklärung JOHANN GOTTLIEB FICHTES („er wird uns gewiss auch kräftige Menschen bilden, und deren haben wir gewaltig Noth“, 1907), das „Glauben und Hoffen von der heilbringenden Zukunft“ (1942), die Zweifel daran, „dass die bessere Epoche von dem Erzie-hungssystem ausgehen werde“ (1991) sowie die Erwartung der „künftigen Geschlechte[r] der Preußen“ (2030). Bemerkenswert scheint dieser Befund, gerade weil die Reden den Entwurf einer kommenden Gesellschaft und die hierfür zwingenden Instrumentarien im Detail vorstellten.

Dies führt zu der Frage, welche Gedanken der Fichteschen Vorträge durch die Zeitgenossen überhaupt erfasst wurden. Der Fundus von Zeugnissen erlaubt auch hier eine Antwort: Nur in 19% aller Äußerungen lassen sich konkrete Verweise auf den Inhalt der Reden finden. Eindeutig dominiert dabei das Thema ‘Erziehung‘. Allerdings wurde das pädagogische Konzept FICHTES

sehr verschieden bewertet; gesprochen wurde von dem „wahren, einzigen und unfehlbaren Hülfsmittel“ (1838), „der Rettung [...] dem Anfang einer gänzlichen Umschaffung des Menschen-geschlechts [...], durch welche der Geist die volle Herrschaft über das Fleisch erringen sollte“

(1931), einer „Inkonsequenz“ (1973) und einem „Irrlicht“ (1988), welches „völlig schwärmerisch, unpraktisch und folglich auch unphilosophisch“ schien (1994).

Anspielungen auf die rhetorischen Anlagen der Fichteschen Vorlesungen lassen sich in 20% der untersuchten Rezeptionszeugnisse ausmachen. Bewundert wurde das „mit aller Kraft der innigs-ten und redlichsinnigs-ten Ueberzeugung mächtig ausgesprochene Wort“ (1838), bestaunt wurden die

„nie zu entziffernden Wunderbahnen“ (1839), die „köstliche und kräftige Speise“ (Anm. zu 1888), bekrittelt schließlich die „Mischung von Zaghaftigkeit, Unwissenheit der Geschichte und Unvernunft“ (1993), die „in Flammenströmen sich ergoss“ (2013).

Bedeutsam sollte die Frage sein, in welcher Weise die Wirkungsmacht der Fichteschen Vorträge, deren Reichweite, thematisiert wurde. Tatsächlich konnten in 28% der untersuchten Rezeptions-zeugnisse Anhaltspunkte zu dieser Problematik ermittelt werden. Freilich nicht im strengen Sinne

123 Ebd. Nr.1838, 1839, 1841b., 1842, 1843, 1907, 1917, 1942, 1991, 2010, 2030, 2100.

des Wortes und nach Vorgabe des Textes, sondern facettenreich. Ein wunderbares Beispiel gibt hier jenes Sonett, welches „die undeutsche Aufnahme“ der Fichteschen Reden illustriert:

„Da kommt der Held, der strenge; will von Schlacken Reinglühn das Volk, haucht ob dem trägen Zunder, Dass die Nation aufleucht‘, ein freud’ges Wunder; - Sie achtet’s nicht, gedenk nur ihrer Packen.“ (1839)

An anderer Stelle wurde der Fichteschen Vorlesungsreihe bescheinigt, dass sie „politisch klug [sei] ohne gleichwohl irgend einen wesentlichen Nutzen zu bringen“ (1870b), finden sich Zeichen der Anteilnahme (1899), der Anregung (1905), der Begeisterung (1928), der Ergriffenheit (1931) aber auch der Verstörung (1964); wurden die Reden an die deutsche Nation als Impuls für den erwa-chenden „Enthusiasmus anderer in Journalen [...] in Flugschriften“ herausgestellt (2082) und zu

„einer Art Gebetbuch“ (1987) stilisiert.

Überdies sind einige Hinweise auf eine konkrete Realisierung der Fichteschen Pläne festzuhalten;

gemeint sind die Schulprojekte der Herren PLAMANN, FRIESEN, FELLENBERG, CAUER, H AR-NISCH und JAHN (1869, 2047). Schulprojekte, die aber, wie die Einschätzungen von FRIEDRICH

GRIEPENKERL belegen, keineswegs mit der Fichteschen Konzeption kongruent waren: „Um die Männer, die bei Pestalozzi lernen sollen, ist nun gar ein elend Wesen. Sie kennen das halbstudirte Volk [...] Ein solche[s] soll dem künftigen Geschlechte der Preußen sein, was Fichte sagte. Es ist die ärgste Satire auf Fichtes Reden, die ein Witzling hätte auffinden können.“ (1933, 2022, 2030, ähnlich 1838: VARNHAGEN VON ENSE)124.

(d) Bleibt eine Frage: Inwieweit finden sich in den zahlreichen Rezeptionszeugnissen Anhalts-punkte für die Diskussion einer neuartigen nationalen Gemeinschaft?

Augenscheinlich ist nach Sichtung aller Zeugnisse, dass mit Ausnahme der Berichte der Mainzer Zentraluntersuchungskommission ein überreiztes und wider die politischen Normen verstoßendes Gemeinschaftskonzept, die Idee von einer deutschen Nation, nicht aus den Reden gelesen wurde!

In diesem und nicht einem antifeudalen Sinne ließen sich Hinweise entdecken, die von der Be-geisterung Adliger für die Reden an die deutsche Nation zeugen! Neben den oben erwähnten Noten des Oberkonsistorialrates SACK an den preußischen König gehörte hierzu das Schreiben von VARNHAGEN VON ENSE vom 30. Januar 1809, in dem es heißt: „Der Kronprinz [gemeint ist hier WILHELM, Kronprinz von Württemberg, ab 1816 als WILHELM I. König von Württemberg - d.V.] findet großen Gefallen an Fichte’s Reden.“ (1984)

124 Unter den zahlreichen Zeugnissen findet sich auch ein bemerkenswerter Hinweis auf die ausbleibende Nachfrage.

Ernüchtert schrieb VARNHAGEN VON ENSE an FOUQUÉ am 30.06.1808, also beinahe drei Monate nach der Veröf-fentlichung: „Von Fichte’s Reden sind noch nicht sechshundert Exemplare verkauft.“ (1930)

Auch einer der zentralen Bezugsgrößen der Fichteschen Reden, die scharf gezogene Trennlinie zwischen der reinen deutschen Ursprache und der toten, vermischten Sprache des Auslandes, schien, nimmt man die Rezeptionszeugnisse zur Hand, nicht zu greifen. Wenigstens wagten es französische Kri-tiker (1877a, 1916 sowie 1922: VILLERS an VON MÜLLER, 10.06.1808) und, sogar, deutsche Leser in einer fremden, ‘kränkelnden‘ Sprache über die Fichteschen Pläne zu urteilen (1949: C HARLOT-TE VON SCHIMMELMANN an LUISE ZU STOLBERG, 01.09.1808, 1959: STAPFER an LAHARPE, 03.10.1808). Zugleich ließen sich in einer Vielzahl von Rezeptionszeugnissen Fremdwörter, also Topoi mit offenkundig ‘nichtgermanischen‘ Wurzeln, nachweisen: Autodafe, Egoismus, Despot, Pro-selytenmacherei, Raisonement, Manuskript, Imprimatur, Auditorio, Paradoxie. (1870ff.)

Und noch ein Zusatz sei erlaubt: Danach fanden sich in der Menge von Zeugnissen nur zwei Äußerungen zur Frage eines bewaffneten Widerstandes125. Beide, zum einen ein Auszug aus dem autobiographischen Rückblick von FRIEDRICH DE LA MOTTE FOUQUÉ (1839: ca.1829), zum an-deren eine Passage aus dem Bericht der Mainzer Zentraluntersuchungskommission (1842a: 1826), ver-rieten gegenteilige Positionen:

- „Es war hier allerdings nicht im mindesten von einem Versuche, die Rede, das Deutsche Volk in die Waffen zu rufen gegen seine fremden Besieger. Ja in Fichte’s klarem und pflichtgetreuen Geiste konnte unter den obwaltenden Umständen zu selbiger Zeit ein solcher Gedanke durchaus nicht aufsteigen.“

- „Die Wirkungen von Fichte’s Reden zeigten sich zunächst in seinen Umgebungen. Sie riefen bald in Berlin, und dann auch an andern Orten des Königreichs Vereine hervor, deren Zweck war, theils Waffenübungen zu treiben, theils auf die Erziehung der Jugend in Fichte’s Sinne ein-zuwirken.“

2. Neben diesen Wahrnehmungsweisen der Fichteschen Reden lässt sich nun auch deren Wir-kungsmacht problematisieren. Unter einer Prämisse: Dass nämlich eine Erfassung des „selbst-süchtigen Zeitgeistes“ und die Entfesselung patriotischer Gefühle unter den zeitgenössischen Lesern nicht genügen und, bei allem Idealismus, nur die Umsetzung des ‘rettenden‘ Fichteschen Erziehungsplanes langfristig wichtig sein sollte. Im übrigen hätten sonst Gesellschaftskritik und vaterländische Gesinnung in einer kürzeren Form und ohne die aufwendigen pädagogischen Aus-führungen der 2., 3., 9., 10. und 11. Vorlesung vermittelt werden können. Die Wirkung der Reden an die deutsche Nation sollte deshalb zuvörderst an dieser Konzeption gemessen werden. Nimmt man also die Forderung nach einer gänzlich neuen Erziehungsanstalt ernst und betrachtet sodann das sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts entwickelnde deutsche Schulwesen126, so bleibt nur

125 Vgl. dazu {B 2.2.} S.102. Anm.60.

126 Vgl. WEHLER, H.U.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd.II: Von der Reformära bis zur industriellen und politi-schen ‘Doppelrevolution‘ 1815-1845/49. München 1987. S.478ff.: Der Ausbau des Schulsystems. Zum einen spricht H.U. WEHLER hier von einer „Stagnation während der Reformära“ (S.478), zum anderen finden sich in genanntem Kapitel aber auch keine Anzeichen für die Herausbildung autonomer, selbständiger Bildungsanstalten im

Fichte-Skepsis ob der Wirkungsmächtigkeit der Fichteschen Vorlesungsreihe. Und dies ist nicht allein dem Argwohn des Verfassers geschuldet, auch unter den Zeitgenossen finden sich, wie das fol-gende Fazit von KARL AUGUST VARNHAGEN VON ENSE belegt, derlei Wertungen: „Merkwürdig ist es, dass sich dieses Werk bei seiner bedeutenden Verbreitung und Wirksamkeit, dennoch sei-nen unmittelbaren Absichten und Vorschlägen keisei-nen Eingang gewonsei-nen hat; nirgends ist auch nur ein Versuch gemacht worden, solche Volkserziehung einzuführen, und wenn einige Schüler Fichte’s späterhin eine Erziehungsanstalt in seinem Sinne zu gründen suchten, so hat dieselbe doch gar bald, indem sie sich den gewöhnlichen Anforderungen des Tages mehr und mehr be-quemte, die besondern Eigenthümlichkeiten, worin sie dem Geiste des verehrten Meisters zu huldigen glaubte, wieder abstreifen müssen.“ (1838: ca.1832)

3. Neben dieser Variante, die Wirkungsmächtigkeit der Reden an die deutschen Nation vor allem an dem in ihnen entwickelten Lösungsmodell, der Gründung einer separaten Erziehungsanstalt, zu messen, findet sich schließlich noch ein (überzogenes) Raster, mit dem sich die soziale Reichweite der Fichteschen Vorlesungsreihe nachzeichnen lässt. Gemeint ist die mit der 4. und 5. Rede offe-rierte Unterscheidung von einer reinen deutschen Ursprache und der toten, vermischten Sprache des Aus-landes. Sollte nicht, so diese Auffassung unter den Zeitgenossen überzeugen konnte, mit den Reden die Zahl der Veröffentlichungen von deutsch- französischen Wörterbüchern und anderen

3. Neben dieser Variante, die Wirkungsmächtigkeit der Reden an die deutschen Nation vor allem an dem in ihnen entwickelten Lösungsmodell, der Gründung einer separaten Erziehungsanstalt, zu messen, findet sich schließlich noch ein (überzogenes) Raster, mit dem sich die soziale Reichweite der Fichteschen Vorlesungsreihe nachzeichnen lässt. Gemeint ist die mit der 4. und 5. Rede offe-rierte Unterscheidung von einer reinen deutschen Ursprache und der toten, vermischten Sprache des Aus-landes. Sollte nicht, so diese Auffassung unter den Zeitgenossen überzeugen konnte, mit den Reden die Zahl der Veröffentlichungen von deutsch- französischen Wörterbüchern und anderen