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5. Diskussion

5.3 Die Zukunft der Pharmakotherapie der Urolithiasis - Ein Ausblick

Die Erforschung und Beschreibung der physiologischen Mechanismen, welche die normale Funkti-on der glatten Muskulatur des Ureters und Nierenbeckens kFunkti-ontrollieren, wird vFunkti-on der Entwicklung und Evaluierung pharmakologischer Therapieoptionen begleitet, zahlreiche Substanzen mit un-terschiedlichen Mechanismen der Wirkung sind in klinischen Studien hinsichtlich ihrer Sicherheit und Effektivität in der Indikation Urolithiasis untersucht worden.

Seit mehr als 20 Jahren ist das klinische Potential von Glukagon, eines in den α-Zellen der Lan-gerhans-Inseln des Pankreas synthetisierten, aus 29 Aminosäuren bestehenden Polypeptids mit Hormonfunktion, bekannt. Die Verwendung von Glukagon in der Behandlung von Hypoglykämie, Herzinsuffizienz, durch Endotoxine induzierter Schockzustände, akuter Diverticulitis sowie Ob-struktionen des Ösophagus und damit verbundenen Spasmen der glatten Muskulatur ist beschrie-ben, auch die mögliche Effektivität des Peptidhormons in der Therapie des mit der Urolithiasis assoziierten Kolikereignisses war Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion (84). Diese Hy-pothese ist bisher jedoch nur in wenigen klinischen Studien untersucht worden. BAHN-ZOBBE ET AL. (1986) applizierten 37 Patienten mit Harnleiterkoliken und soliden, in der Bildgebung nach-weisbaren Konkrementen mit einem Durchmesser von bis zu 6 mm zunächst eine Bolus-Injektion Glukagon (1 mg), dieser folgte eine kontinuierliche Infusion des Polypeptids (2 mg/Std.) über

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einen Zeitraum von 8 Stunden. Sie beobachteten weder eine effektive analgetische Wirkung noch eine Beschleunigung der Passage der Konkremente. Patienten, welche Glukagon erhalten hat-ten, waren jedoch wesentlich häufiger von Übelkeit und Erbrechen betroffen, als jene, welchen ein Placebo-Präparat verabreicht worden war (85). Auch KAHNOSKI ET AL. (1987), die in einer prospektiven, doppel-blinden und Placebo-kontrollierten Studie an 18 Patienten die Effekte von Glukagon auf Kolik-ähnliche Schmerzereignisse untersuchten, die nach der extrakorporalen Stoß-wellenlithotripsie (ESWL = Extracorporeal Shock Wave Lithotripsy) intraluminaler Konkremente auftraten, fanden hinsichtlich der beiden primären Endpunkte Linderung der Schmerzsensation und Ausscheidung desintegrierter Steinanteile über die Zeit (48 Std.) keine signifikanten Unter-schiede zwischen dem Polypeptid-Verum und dem Placebo. Relevante Nebenwirkungen der Ap-plikation von Glukagon, z.B. Übelkeit und/oder Erbrechen, erwähnen KAHNOSKI ET AL. nicht (86). Trotz fehlender klinischer Evidenz kommen ROS & HURLEY in einem im Dezember 1988 publizierten Übersichtsartikel dennoch zu dem Schluß, daß “The lack of adverse side effects [...]

make[s] glucagon a valuable adjunct in medical management of ureteral colic.“ und empfehlen ausdrücklich “Use of intravenous glucagon should be considered in all patients with urinary cal-culi who fail to respond to narcotic analgesia [...]“ (87). Es erscheint jedoch wenig wahrschein-lich, daß Glukagon zukünftig eine breite klinische Anwendung in der Second Line-Therapie von Ureterkoliken finden wird.

Relevantere pharmakologische Effekte wurden unter der Gabe von Ca2+-Antagonisten (Nifedipin, Rociverin) und des alpha1A/1D-Adrenozeptorantagoisten Tamsulosin, die als klassische spasmoly-tische Wirksubstanzen charakterisiert sind, beobachtet: PORPIGLIA ET AL. (2000) randomisierten 96 Patienten mit distal lokalisierten, 5 mm bis 6 mm großen Konkrementen (Calculi) in zwei Gruppen. Die Gruppe A erhielt über einen Zeitraum von mindestens 10 Tagen täglich 30 mg einer Slow release-Formulierung des Ca2+-Kanalblockers Nifedipin in Kombination mit dem Antiphlo-gistikum Deflazacort, die Patienten der Gruppe B wurden mit einer Watchful waiting-Strategie geführt, alle Patienten erhielten bei Bedarf Diclofenac. Es zeigte sich, daß die Kombinationsthe-rapie mit Nifedipin und Deflazacort den spontanen Abgang der Konkremente förderte (Gruppe A:

spontane Expulsion in 79% der Patienten, Gruppe B: spontane Expulsion in 35% der Patienten), diese Exkretion verlief deutlich schneller als in der Watchful waiting-Gruppe (7 Tage in Gruppe A versus 20 Tage in Gruppe B), in der es darüber hinaus häufiger Bedarf nach analgetischer Ergän-zungstherapie gab (Gruppe A: 15 mg Diclofenac/Tag/Patient, Gruppe B: 105 mg Diclofenac/Tag/

Patient) (47).

CERVENAKOV ET AL. (2002) und AUTORINO ET AL. (2005) untersuchten unabhängig voneinan-der in randomisierten, doppel-blinden Studien die klinischen Effekte von Diclofenac (100 mg/

Tag) oder Diclofenac in Kombination mit dem alpha1A/1D-Adrenozeptorantagoisten Tamsulosin (0.4 mg/Tag) auf den Verlauf einer unkomplizierten Urolithiasis im distalen Anteil des Ureters.

Sie verwendeten dafür ein ähnliches Studien-Design wie PORPIGLIA ET AL. (2002). Sie beob-achteten in der Gruppe der Patienten, die mindestens 14 Tage Tamsulosin erhielten, eine höhere Rate spontaner Exkretionen der Konkremente, eine Beschleunigung dieses Vorgangs und eine Reduzierung analgetischer Ergänzungstherapien. Außerdem stellten Sie ebenso wie RESIM ET AL.

(2005) eine prophylaktische Wirkung des alpha-Blockers auf die Entwicklung von Kolikereignissen

fest (48,88,89). Alle Arbeitsgruppen kommen daher zu dem Schluß, daß selektive alpha-Blocker die spasmoanalgetische Wirkung nicht-steroidaler Antiphlogistika wie Diclofenac verstärken, die Lebensqualität der Patienten durch die Reduktion der Zahl der Kolikereignisse verbessern können und daher in die Standardtherapie der Uro(Uretero)lithiasis integriert werden sollten.

Die als direkt spasmolytisch (myotropic spasmolytic) beschriebene Substanz Rociverin (2-(Diethylamino)-1-methylethyl-cis-1-hydroxy[bicyclohexyl]-2-carboxylat) wurde bereits An-fang der 1980er Jahre hinsichtlich ihrer Wirkung auf die glatte Muskulatur des Ureters und ihrer Effektivität und Sicherheit in der Therapie der Harnleiterkolik evaluiert. POTENZONI ET AL. (1984), die Patienten während einer kutanen Ureterostomie Rociverin applizierten und Parameter der Ureterdynamik registrierten, beschreiben eine Inhibition der Amplitude und Frequenz der phasi-schen peristaltiphasi-schen Aktivität der glatten Muskulatur. Bereits 1982 berichtete MARSALA, der 51 Patienten mit Ureterkoliken eine Einzeldosis Rociverin (20 mg i.v.) gab, von einer schnellen und effektiven Linderung der Schmerzsymptomatik in 92% der von ihm behandelten Probanden. PO-TENZONI ET AL. und MARSALA erwähnen zwar die spasmolytischen Eigenschaften von Rociverin, spezifizieren in ihren Arbeiten jedoch nicht, welche Rezeptoren oder Signalübertragungswege die pharmakologische Wirkung der Substanz vermitteln (50,90). D‘AGOSTINO ET AL. (1984) po-stulieren auf der Grundlage von Experimenten an isolierter gastrointestinaler glatter Muskulatur (Jejunum) der Ratte und Segmente der Aorta des Kaninchens einen dualen, antimuskarinergen und Ca2+-antagonistischen Mechanismus der Wirkung von Rociverin, andere Arbeiten weisen außerdem auf die Inhibition der Aktivität cAMP- und/oder cGMP-degradierender Phosphodieste-rasen durch Rociverin und strukturell ähnliche Verbindungen hin (91,92,93).

Wie bereits erwähnt, hat die regulatorische Bedeutung der PDE-Isoenzyme zur Entwicklung zahl-reicher Inhibitorsubstanzen geführt, deren therapeutisches Potential in der selektiven Beeinfluß-ung von Organ- und Gewebefunktionen gesehen wird. In der Urologie hat die Präsentation der ersten klinischen Daten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit des PDE5-Inhibitors Sildenafilcitrat (VIAGRA

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) in der oralen Pharmakotherapie der Erektilen Dysfunktion (ED) anläßlich der Jahres-tagung der American Urological Association (AUA) im Jahre 1996 und der kommerzielle Erfolg der Substanz dem Konzept der PDE-Inhibition allgemeine Anerkennung verschafft. Neben dem Sildenafil gelten das Vardenafil (LEVITRA

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) und Tadalafil (CIALIS

®

), ebenfalls selektive Inhibito-ren der PDE5, heute als der Goldstandard in der First Line-Therapie der ED (94,95,96). Weitere Anwendungen für PDE5-Inhibitoren in der Sexualmedizin sieht man in den Indikationen Ejacula-tio praecox, die neben der ED die häufigste sexuelle FunkEjacula-tionsstörung des erwachsenen Mannes ist, und Störungen der weiblichen Sexualität (Female Sexual Dysfunction, FSD) einschließlich der Female Sexual Arousal Disorder (FSAD) (97,98,99). Die Daten klinischer Arbeiten weisen darauf hin, daß das Prinzip der Inhibition funktionell relevanter PDE-Isoenzyme auch auf die Behandlung von Erkrankungen der ableitenden Harnwege - zu nennen sind hier Störungen der Speicher- und Entleerungsfunktion der Harnblase oder Beeinträchtigungen der Miktion infolge des sogenannten Benignen Prostata-Symdroms (BPS) - anwendbar ist (100,101,102).

Bereits zwei Dekaden vor dem ersten, in einem wissenschaftlichen Journal veröffentlichten Nach-weis von PDE-Aktivität im zytosolischen Überstand des Homogenisates eines Organs des humanen

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Urogenitaltrakts, der Prostata, durch KUCIEL & OSTROWSKI (1970) und etwa fünfzig Jahre bevor BECKER ET AL. (1998), KÜHN ET AL. (2000), SAIGHI ET AL. (2000) und GRATZKE ET AL. (2006) ihre Experimente zur antagonistischen Wirkung selektiver PDE-Inhibitoren auf die Kontraktilität der glatten Muskulatur des Ureters durchführten, beschrieb NAGUIB (1951) den analgetischen Effekt des unspezifischen PDE-Inhibitors Aminophyllin, eines Derivates des Theophyllin, auf den Verlauf des Kolikereignisses (103,104). Dieses Konzept wurde 30 Jahre später von KATEVUO ET AL. (1981) erneut aufgegriffen, die 6 Patienten, welche infolge eines Harnleitersteins unter Kolik-schmerzen litten, 3 mg/kg KG i.v. Aminophyllin verabreichten und eine rasche Linderung der sub-jektiven Schmerzsymptomatik beobachteten, die jedoch nur 30 min. bis 120 min. nach der Bolu-sinjektion des Medikaments andauerte. Sie zeigten, daß für eine anhaltende analgetische Wirkung der Substanz ein Serumspiegel von < 12 µg/ml aufrechtzuerhalten ist, und schlugen daher statt einer einmaligen Injektion eine intravenöse Infusion des Aminophyllin vor (105). Diese Beobach-tungen unterstützen die Hypothese, daß die spasmolytische Wirkung eines PDE-Inhibitors In vivo wesentlich ausgeprägter sein kann als an einem isolierten Segment eines glattmuskulären Organs, daß zuvor einem konstriktorischen Agenz exponiert worden ist. Es sind drei Eigenschaften der Inhibitoren der PDE4 und PDE5, die eine Anwendung dieser Wirksubstanzen in der Therapie des Kolikereignisses und zur Förderung der Steinpassage attraktiv erscheinen läßt: (1.) Die Antago-nisierung der kontraktilen Aktivität des Ureters am Ort des das Lumen verlegenden Konkrements sollten die Kolik-bedingten Schmerzen lindern oder beseitigen und außerdem die distale Passage des Steins fördern, (2.) selektive Inhibitoren der PDE-Isoenzyme 4 und 5 verursachen in therapeu-tischer Dosierung lediglich minimale systemische Nebenwirkungen und ermöglichen dadurch (3.) eine Fokusierung der pharmakologischen Wirkung auf das Zielorgan.

Auf der Grundlage experimenteller Daten wird auch das Potential von Agonisten zellulärer ß-Adrenorezeptoren in der Therapie der Urolithiasis diskutiert. KUL 7211 (Kissei Pharmaceutical Co., Japan), ein dualer ß2- und ß3-Adrenozeptoragonist, führte In vitro zu einer Reversion der durch 80 mM KCl eingeleiteten tonischen Kontraktion isolierter zirkulärer Segmente von Ureteren, die Hunden entnommen worden waren. In den Experimenten zeigte sich KUL 7211 den Wirkungen der alpha- Adrenozeptorantagonisten Tamsulosin (alpha1A/1D-Antagonist) und Prazosin (alpha1- Antagonist), des Ca2+-Kanalblockers Verapamil und unspezifischen PDE-Inhibitors Papaverin deutlich überlegen. Obwohl bisher keine klinischen Daten verfügbar sind, sieht man in KUL 7211 eine Ureter-selektive Wirksubstanz zur Förderung der Konkrement-Passage und Linderung der mit Kolikereignissen verbundenen Schmerzsensationen (106).