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Zivilgesellschaft in Jacmel

5.3 Untersuchungsergebnisse vom Projektstandort Jacmel

5.3.1 Zivilgesellschaft in Jacmel

Im Folgenden wird die Zivilgesellschaft am Projektstandort Jacmel betrachtet. Dabei orientiert sich die Bestandsaufnahme für die Zivilgesellschaft wie am Standort Ouanaminthe an den Ebenen: Gemeinschaftsebene, Ebene der Basisgruppen und Individualebene sowie an den jeweils zugehörigen Untersuchungsaspekten (s. Kap.

4.2). Zur besseren Orientierung ist die jeweils betrachtete Ebene im Text bzw. der entsprechende Aspekt durch blaue Icons am Seitenrand hervorgehoben.

In der gebirgigen und von Flüssen durchzogenen Projektregion Jacmel gestaltet sich der Zugang zu Basisinfrastruktur mit zunehmender Entfernung zur Stadt schwierig, teilweise werden aber Anstrengungen zur Verbesserung der Straßenanbindung und

Wasserversorgung in den Dörfern ersichtlich (s. Kap. 3.4.2).

Der schwierige Zugang zu vielen Orten führt dazu, dass sich die Be-völkerung auf der Gemeinschaftsebene oftmals in lokalen Assoziati-onen organisiert oder sich nach Schocks in informellen Zusammenschlüssen mobilisiert, um ihr Überleben sicherzustellen Lernende

Gemeinschaft

Soziale Strukturen

oder notwendige Aufräumarbeiten auszuführen (vgl. jZA068, jZW028). Weiterhin hat sich der Kombit (s. Kap. 5.2.1) etabliert, der rege Anwendung findet und teilweise von lokalen Gruppen organisiert wird. Darüber hinaus konnten als soziale Strukturen innerhalb der Gemeinschaften der Corvée28 und weniger organisierte Formen identi-fiziert werden, z. B. die Unterstützung von Familien mit Todesfall (vgl. u. a. jZW014, jZW059). Die Zusammenarbeit innerhalb der Ortschaften kann als ausgeprägt cha-rakterisiert werden, wobei der Stellenwert von sozialen Strukturen durch folgendes Zitat erkennbar wird: „En Haïti, l‘une des principales caractéristiques c‘est la façon dont les peuples s‘unissent“ (vgl. jZA069). Aufgrund dieser Stärke können auch Akti-vitäten wie die Anlage bzw. Reinigung von Straßen oder Wasserquellen umgesetzt werden – eine wichtige Voraussetzung für die Funktionalität und Weiterentwicklung der Orte, in denen der Staat kaum präsent ist.

Die Partizipation der Bevölkerung an Entscheidungen auf Gemeinde-ebene ist hoch und es gab nur wenige Dörfer, die keine gemeinsamen Aktivitäten umsetzen (vgl. jZW008, jZW014). Betrachtet man die Wahlbeteiligung als Indikator für Partizipation und mögliche Hindernis-se für Wahlbeteiligung in der Projektregion Jacmel, so zeigt sich nach

Aussage der Interviewten ein uneinheitliches Bild: Einerseits werden seitens der Gruppen nur geringe Hindernisse für den Erhalt der Wahlberechtigung und eine hohe Wahlbeteiligung beschrieben (vgl. jZW007, jZW008). Auf der anderen Seite wird be-sonders von staatlichen Akteuren eine geringe Wahlbeteiligung bemängelt, die mit dem hohen Aufwand, an eine Identitätsbescheinigung zu gelangen, begründet wird (vgl. jS029, jS031).

Zur Frage der gleichberechtigten Teilhabe an Entscheidungsprozessen gab es Ak-teure, die Frauen als unterrepräsentiert und besonders förderungs- und schutzbe-dürftig sahen, genauso wie Menschen, die aufgrund einer HIV/AIDS-Erkrankung aus der Gemeinschaft exkludiert wurden. In den Interviews waren Frauen mal mehr, mal weniger rege Teilnehmerinnen, jedoch quantitativ fast immer in der Minderheit.

In Bezug auf eine gleichberechtigte Beteiligung an NRO-Aktivitäten wurde als be-nachteiligend empfunden, dass bspw. Cash-for-Work-Aktivitäten – trotz prinzipiell positiver Wahrnehmung aufgrund der Einkommensgenerierung – nicht für jedermann zugänglich sind (vgl. jZA068, jN039, jZW008).

28 Corvée beschreibt eine Form der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit, ähnlich dem Kombit. Sie wird heute vor allem im Südosten des Landes angewendet.

Partizipation / Inklusion

Generell lässt sich feststellen, dass die Gemeinden in der Region Jacmel mit einer Vielzahl von NRO vernetzt sind (Etablissement des liens). Teilweise waren es so viele internationale Organisationen, dass die Betroffenen sie nicht alle aufzählen konnten. Ein Umstand, der sich aus der hohen Risikoexposition der Ortschaften und der Vielzahl vorhan-dener Hilfsorganisationen ergibt. Die Anwesenheit von internationalen Organisatio-nen und Projekten wird grundsätzlich begrüßt (vgl. jZA047, jZW028). Die BetroffeOrganisatio-nen wünschen sich jedoch durchgehend mehr Einbeziehung und Mitspracherecht in die Aktivitäten der NRO, die zudem längerfristiger und nachhaltiger angelegt werden sollten.

Auf der Ebene der Kooperation mit lokalen, staatlichen Vertretern (Pontage) geben diese an, die Bevölkerung aktiv in ihre Entscheidungen einzubeziehen und sie zu unterstützen. Diese Aussage wurde in Bezug auf das Auftreten des Conseil d’Administration de la Section Communale (CASEC) größtenteils von der Bevölke-rung bejaht, teilweise wurde jedoch ein Machtmonopol durch den CASEC auf Dorf-ebene deutlich. Letzteres wurde u. a. dadurch sichtbar, dass Vertreter des CASEC oftmals Wortführer bei Gruppeninterviews waren, z. B. bei den Equipes d’intervention communales (EIC). Abgesehen davon sprachen viele der Befragten von der Abwe-senheit des Staates und der Übernahme seiner Aufgaben (Infrastruktur, Recht, Si-cherheit) durch die Basisgruppen, die NRO, den Zivilschutz oder die Notables (vgl.

jS029, jZW020, jU006). Dennoch wurden insbesondere im näheren Umkreis zur Stadt einige Beziehungen zwischen den Gemeinden mit Ministerien (Etablissement des liens), wie z. B. dem Gesundheits-, Landwirtschafts- und Innenministerium, sichtbar. Ein großer Nachholbedarf besteht hinsichtlich externer, wirtschaftlicher Ver-netzung (Etablissement des liens). In keinem Befragungsort konnte eine wirtschaftli-che Vernetzung nachgewiesen werden, die über die Gemeindegrenzen hinausgeht.

Lediglich lokale Händlerorganisationen (Associations de marchands) wurden identifi-ziert (vgl. jZA047, jZA069).

Auf der Gruppenebene liegen die Interventionsfelder der Basisgrup-pen, die mit der Welthungerhilfe zusammenarbeiten, zum größten Teil im Zivil- und Katastrophenschutz. Besonders die Comités locals pour la protection civile (CLPC) funktionieren laut WHH-Mitarbeitern in den elf Sections Communales gut.

Die Kombination aus langfristiger externer Unterstützung durch den Staat, selbstständiger Arbeitsweise und guter Aus-bildung bzw. hohem Bildungsstand befähigen die CLPC zur besseren Ausführung ihrer Rolle und Aufgaben im potentiellen Katastrophenfall. Die notwendige gute Aus-bildung hat jedoch zur Folge, dass ein gewisser Bildungsstand nötig ist, um CLPC-Vernetzung

und Koope-ration

Rolle und Funktion

Mitglied zu werden, was meist die Ärmsten und häufig weniger Gebildeten aus-schließt (vgl. jW103, jW041). Die Gruppen der EIC, wurden von der

WHH in Absprache mit der Direction de la protection civile (DPC) ge-gründet, um die CLPC zu unterstützen. In Bezug auf ihre Arbeit treffen sie in der Bevölkerung auf eine ähnlich positive Resonanz wie die CLPC. Ihr lokaler Einfluss ist jedoch geringer und ihre Mitglieder sind

meist weniger geschult (vgl. jBD116). Die Aufgaben beider sind vielfältig und umfas-sen u. a. die Weitergabe von Informationen, Sensibilisierung und Evakuierung im Not- oder Bedrohungsfall, Erstversorgung von Opfern und Evaluierung von entstan-denen Schäden (vgl. jZW008). Daneben gibt es regional eine Vielzahl anderer zivil-gesellschaftlicher Gruppen, die z. B. in den Bereichen Landwirtschaft, Bildung, Umwelt oder Gesundheit tätig sind. Allen Assoziationen gemein sind die sehr be-grenzten finanziellen Mittel und der Wunsch, durch ihre Tätigkeiten, zukünftig etwas Einkommen generieren zu können.

Auf der individuellen Ebene wurde von den Befragten eine direkte, monetäre Verbesserung des Lebensstandards der Mitglieder nur in wenigen Gruppen festgestellt (vgl. jZW038, jU006). Personen, die in keiner Gruppe organisiert sind, sehen einen gesellschaftlichen wie auch individuellen Beitrag neben der Katastrophenvorsorge vor allem

durch Infrastrukturverbesserungen, wie den Bau und die Instandsetzung von Bewäs-serungskanälen (vgl. jB123, jB125).

Ein funktionierendes Finanzkonzept konnte bei zwei Gruppen festgestellt werden, die ihren Mitgliedern kleine Beiträge ab-verlangen um handlungsfähiger zu werden, diese Beträge in Notsituationen jedoch wieder ausbezahlen. Um weitere Einkünfte zu generieren, produziert eine der Grup-pen – mit geringem Mitteleinsatz und als Nebentätigkeit – Dünger für die Landwirt-schaft, der im Umkreis verkauft wird. Das gesteigerte Kapital und die Möglichkeit größere Investitionen, wie z. B. den Bau eines Lagerhauses oder Büros, tätigen zu können, hat positive Folgen für die Funktionalität der Gruppen als auch

für die Motivation der Mitglieder (vgl. jZW033, jZW034).

Die Gründung einer Gruppe bzw. der Eintritt in eine Gruppe sind fast durchgehend gemeinwohl- anstatt individualorientiert, was anhand des Fallbeispiels Marbial (s. Kap. 5.3.3) ausführlicher erläutert wird.