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Zivilgesellschaft in Haiti

Die Aufstände gegen die Diktatur Duvalier in den 80er Jahren markieren den Beginn sozialer Bewegungen innerhalb der haitianischen Gesellschaft. Kurzfristig führte dies zu einer Mobilisierung verschiedener Gesellschaftsbereiche in ganz Haiti, mit dem gemeinsamen Ziel das Regime zu stürzen (vgl. Frédéric; Karroum 2008: 3).

Die Zivilgesellschaft, verstanden als „Gesamtheit der Akteure […], die neben Staat, Wirtschaft und Individuen in einem Land agieren und jeweils gemeinsame Ziele ver-folgen“ (Welthungerhilfe 2012: 1), ist in Haiti in ihrer heutigen Form noch sehr jung.

Sie geht ursächlich auf eine von der haitianischen Industrie- und Handelskammer ins Leben gerufene Initiative aus dem Jahre 1999 zurück, die sich durch die Gründung der „Initiative de la Société Civile“ gegen die Regierung Préval zur Wehr setzte (vgl.

ebd.).11

In der aktuellen Diskussion wird die haitianische Zivilgesellschaft im Allgemeinen als schwach und wenig entwickelt dargestellt. Der haitianische Soziologe Max Paul meint: „Es […] ist festzustellen, dass die haitianische Zivilgesellschaft schlecht orga-nisiert ist und dadurch bislang wenig zur Entwicklung des Landes beiträgt – oder bei-tragen kann. Die Gründe hierfür gelten als vielfältig. Das künstlich

11 Der Begriff Zivilgesellschaft wird in Kap. 4.2 ausführlich definiert und diskutiert.

zusammengewürfelte, zwar recht früh von Sklaverei und Kolonialherren befreite Volk, konnte sich dennoch bislang keine gemeinsame Identität verschaffen. Diktatur, Kor-ruption, Rechtsunsicherheit und Armut haben ihr Übriges dazu getan, um eine Atmo-sphäre der Missgunst, des Egoismus und der Gewalt zu schaffen“ (nach Schneider 2011: 2). Infolgedessen wird das gemeinschaftliche Lösen von Problemen als wenig erstrebenswert angesehen. Wer gebildet ist und über ausreichend Mittel verfügt, sucht sein Glück im Ausland – vornehmlich in den USA (vgl. ebd.).

In ihrem „Aufbauprogramm Haiti“ fasst die Welthungerhilfe die Situation folgender-maßen zusammen: „Même avant le séisme, Haïti, en raison de son histoire mouve-mentée et du peu de potentiel économique, était un état faible sur le plan institutionnel avec une société civile encore peu développée“ (Welthungerhilfe 2010:

17). Als auffallendes Merkmal diesbezüglich wird erwähnt, dass es in Haiti bereits vor dem Erdbeben 2010 mehr registrierte internationale Nichtregierungsorganisationen (iNRO) gab als nationale, was ebenso als Anzeichen für eine wenig entwickelte Zivil-gesellschaft gedeutet werden kann. Nationale Nichtregierungsorganisationen (NRO) werden häufig als Filialen internationaler Organisationen gesehen oder sie gelten als konfessionell oder politisch motiviert (vgl. ebd.). Dies ist vor allem darauf zurückzu-führen, dass während der Regierungszeit von Aristide internationale Geber ihre Zah-lungen an den haitianischen Staat stoppten und dazu übergingen Finanzmittel verstärkt über internationale Entwicklungsorganisationen und deren nationale Partner auszugeben (vgl. Frédéric, Karroum 2008:3).

Eine nähere Betrachtung der Zivilgesellschaft in Haiti zeigt u. a. aus den genannten Gründen viel Dynamik – sowohl in Bezug auf die Vielfalt verschiedenster zivilgesell-schaftlicher Organisationen in unterschiedlichen Bereichen (z. B. Wahlbeobachtung, Demokratieförderung, Flüchtlingsunterstützung) als auch hinsichtlich der Bildung von Netzwerken und Zusammenschlüssen, ihrer Präsenz in den Medien und ihrer aktiven Rolle bei der Verfassung von Aufrufen und Kommuniqués. Beispielsweise haben zivilgesellschaftliche Organisationen kürzlich einen „appel aux différents pouvoirs afin de prendre les dispositions pour organiser des élections et condamnent le blocage du processus électoral“ lanciert (Haïti Press Network 2013).

Auch die Förderung der haitianischen Zivilgesellschaft durch internationale Organisa-tionen wird zunehmend stärker. Das zeigt beispielsweise die Initiierung des EU-Programmes „Programme Appui au Renforcement de la Société Civile en Haiti (PARSCH)“ im Februar 2013, das in drei Regionen Haitis durchgeführt wird. Den-noch bleibt als zentrale Herausforderung bestehen, dass zivilgesellschaftliche Orga-nisationen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene kaum miteinander vernetzt sind.

Für die kaum sichtbare Zivilgesellschaft im ländlichen Raum, die weitestgehend aus einfachen Basisgruppen besteht, bleibt ein entscheidendes gesellschaftliches Prob-lem in Haiti höchst relevant: eine der breiten Bevölkerung gegenüberstehende mino-ritäre Elite. Dies führt häufig zu einer Polarisation und Dualität zwischen beiden Lagern (Frédéric 2013: mdl.). Seit der Unabhängigkeit existieren zwei weitgehend von einander separierte Milieus. Zum einen sind dies die Eliten in den Städten, die 20% der Bevölkerung ausmachen und hauptsächlich in Port-au-Prince wohnen und auf der anderen Seite die restlichen 80%, bestehend aus der Landbevölkerung oder aufgrund von Landflucht in den Städten lebende Menschen, die beide nichts mitei-nander zu tun und vollkommen unterschiedliche Visionen haben (vgl. ebd.). Für die ländliche Zivilgesellschaft heißt dies, dass seit den 80er Jahren nach und nach viele Organisationen entstanden sind, die aber oft nur dem Namen nach bestehen, keine personellen und finanziellen Kapazitäten haben und wenig funktional sind. Haitis Ver-fassung aus dem Jahr 1987 garantiert zwar grundlegende Menschenrechte, darunter auch das Recht auf Vereinigungsfreiheit, das über die Verordnung zur NRO-Zulassung von 1989 geregelt ist (Fischl 2012: mdl.). Um eine NRO beim Planungs-ministerium zu registrieren, bedarf es jedoch verschiedenster Formalien (bspw. Sat-zung, Bankkonto, Führungszeugnis etc.), die häufig ein unüberwindliches Hindernis für die ländlichen Organisationen darstellen. Da im Gegensatz zur NRO-Registrierung die Gründung einer Assoziation sehr einfach ist – es bedarf lediglich eines Schreibens oder Vertrages zwischen den involvierten Parteien – haben folglich fast alle Basisgruppen im ländlichen Raum einen Status als Assoziation oder über-haupt keinen formellen Rahmen (vgl. ebd.).

Zwischen den zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Stadt und auf dem Land besteht in der Regel keine Verbindung, es herrscht oftmals sogar großes Misstrauen.

Innerhalb städtischer Organisationen herrscht häufig die Überzeugung, dass sie die gesamte haitianische Zivilgesellschaft repräsentieren, in Wirklichkeit vertreten sie aber den Großteil der Menschen auf dem Land nicht. Das Problem wird dadurch er-schwert, dass der Staat im ländlichen Raum kaum präsent ist und die Interessen der dortigen Bevölkerung nur unzureichend berücksichtigt. Aufgrund des geringen Bil-dungsstandes ist die ländliche Bevölkerung selbst auch kaum in der Lage, ihre Inte-ressen und Bedürfnisse zu artikulieren (Frédéric 2013: mdl.). Die im Land herrschende Massenarmut erschwert für die Mehrheit der Haitianer jede ernst zu nehmende politische Partizipation (vgl. Gliech 2012: 4).

Umso wichtiger ist es daher, den Blick für die zivilgesellschaftlichen Basisgruppen im ländlichen Raum zu schärfen und Maßnahmen zu ihrer Förderung zu stärken.