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Zivilgesellschaft als „kritisches Gewissen“

Jahre weitergewachsen. Zu erklären ist dies zum einen mit der weltweiten Nut-zung digitaler Kommunikation, die inzwischen auch im globalen Süden weit verbreitet ist – zumindest in den wachsenden Mittelschichten. Zum anderen haben zivilgesellschaftliche Akteure aus früheren Erfahrungen gelernt und ver-stärken durch eine umfassende Vernetzung ihr politisches Gewicht. Darüber hinaus zeigt sich eine erhebliche Professionalisierung der transnationalen zivil-gesellschaftlichen Arbeit, der es zunehmend gelingt, nicht nur fundamentale Al-ternativkonzepte zu propagieren, sondern in komplexen Verhandlungsprozes-sen durch passgenaue Eingaben ernstgenommene Verhandlungspartner zu sein.

3. Besonders markant sind die Erfolge im agenda-setting. Die grundsätzliche Be-deutung sozialpolitischer globaler Aufgaben wie auch die Notwendigkeit nach-haltiger globaler Politik (nicht nur im Süden) ist Ergebnis eines langanhaltenden Diskurses, in dem zivilgesellschaftliche Akteure prägend sind. Auch bei spezi-elleren Themen (wie den reproduktiven Rechten, der Verankerung eines Ein-zelziels zum Thema Ungleichheit oder der Realisierung der Rechte von Men-schen mit Behinderung) haben zivilgesellschaftliche Akteure wichtigen Einfluss auf die SDG-Formulierungen gehabt.

4. An ihre Grenzen stoßen zivilgesellschaftliche Akteure, wenn sie versuchen, die Regeln und das Procedere eines Regimes zu verändern. Das Bemühen da-rum, die SDGs systematisch mit dem Menschenrechtssystem zu verbinden und den politischen Zielen damit einen rechtsverbindlichen Charakter zu geben, war nur in Teilen erfolgreich. Der Widerstand der Staatenwelt gegen eine weitere Verrechtlichung globaler Politik ist erheblich. Gleichwohl ist im Abgleich der SDGs mit den MDGs ein deutlicher Fortschritt in Bezug auf ein menschen-rechtliches Verständnis von Entwicklung offenkundig. Dies könnte eine An-nahme der advocacy-coalitions-Theorie unterstreichen, dass die Normen, Regeln und Procedere von Regimen nur in einem langfristigen Prozess des policy learni-ngs veränderbar sind. In dieser Perspektive wären die SGDs ein weiterer Schritt in der Verrechtlichung globaler Entwicklungspolitik.

Zivilgesellschaft als „kritisches Gewissen“

Welche Aufgaben erwachsen der Zivilgesellschaft aus ihrem Einflusspotenzial?

Die Umsetzung der neuen globalen Agenda in reale Politik wird vielfältige po-litische Entscheidungen von der globalen über die nationalstaatlichen bis hin zu lokalen Ebenen erfordern. Können zivilgesellschaftliche Akteure dabei eine Rolle spielen? Ein Blick auf die nationale Ebene mag Aufschluss geben.

Anfang 2017 hat die deutsche Bundesregierung ihre nationale Nachhaltigkeits-strategie in neuer Auflage vorgelegt und dabei zumindest rhetorisch in weiten Teilen auf die Agenda 2030 der VN ausgerichtet. Zivilgesellschaftliche Akteure haben die Neuauflage begrüßt, weil sie darin verschiedene zivilgesellschaftliche Forderungen aufgenommen sahen. Gleichzeitig forderten sie aber eine konse-quentere Ausrichtung der Politik am Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung ein. Die Neuauflage sei „ein Anfang, der nach mehr verlangt“, die Strategie müsse „ehrgeizig umgesetzt und weiterentwickelt werden“, heißt es in einer ge-meinsamen Stellungnahme verschiedener Verbände und Zusammenschlüsse.1 Zwei Aspekte sind bemerkenswert: Erstens, auch die deutsche Zivilgesellschaft sieht die SDGs nicht mehr nur als ein Thema „klassischer Entwicklungspolitik“

(im Süden) an, sondern erkennt darin ebenso die „Entwicklungspolitik im Nor-den“. Dies ist keine prinzipiell neue Einsicht, hat aber in der Vergangenheit kaum dazu geführt, Bündnisse über die eigene entwicklungspolitische Commu-nity hinaus anzustreben. Die in der Stellungnahme zu erkennende breite Ver-netzung von Akteuren deutet zumindest an, dass die Zivilgesellschaft ihre Kräfte künftig stärker bündeln will, um nachhaltige Entwicklung einzufordern.

Diese Bündelung ansonsten schwacher Kräfte ist dringend erforderlich. Zwei-tens, ohne darauf zu verzichten den kritischen Blick auf Widersprüche deut-scher Nachhaltigkeitspolitik zu richten (z.B. hinsichtlich des anhaltenden Wachstumsglaubens), ist die Stellungnahme sehr konkret und will konstruktiv an realen politischen Prozessen mitwirken, z.B. hinsichtlich der Weiterentwick-lung der Indikatoren. Hier sind Fortschritte im Kleinen möglich. Die Bundes-regierung mittels professioneller Lobbyarbeit kontinuierlich auf die Umsetzung der SDGs zu verpflichten, wird eine der Aufgaben der Zivilgesellschaft sein.

Eine andere Rolle bezieht sich auf die gesellschaftlichen Debatten, die im Hin-tergrund jeder konkreten Politik stehen. Zivilgesellschaft lässt sich zum Beispiel im Sinne Gramscis als Raum für Diskurse begreifen, in denen um die Richtung gesellschaftlicher Entwicklungen gestritten wird und in denen sich ein Ver-ständnis global nachhaltiger Politik erst noch durchsetzen muss. Entsprechend besteht dann eine wichtige Funktion zivilgesellschaftlicher Akteure darin, für ein aufgeklärtes globales Bewusstsein und für notwendige politische Entschei-dungen zu werben. Seit Jahrzehnten leisten Kirchen,

Nichtregierungsorganisa-      

1 Die Gemeinsame Stellungnahme wurde im März 2017 herausgegeben von: AWO Bundesverband, Paritätischer Gesamtverband, Deutscher Naturschutzring, Diakonie Deutschland, Forum Menschenrechte, Forum Umwelt und Entwicklung, Konsor-tium Ziviler Friedensdienst, Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, Verbraucherzent-rale Bundesverband, Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe.

 

tionen (NROs) und andere zivilgesellschaftliche Akteure dazu Beiträge („Glo-bales Lernen / Bildung für Nachhaltige Entwicklung“). Das evangelische Hilfs-werk „Brot für die Welt“ – neben dem katholischen HilfsHilfs-werk „Misereor“ die größte entwicklungspolitische NRO in Deutschland – investiert zum Beispiel jährlich rund fünf Millionen Euro in die Förderung entwicklungspolitischer Bil-dungsarbeit. Die Bundesregierung stellt, auch auf Druck der Kirchen und NROs, dafür sogar rund 35 Millionen Euro zur Verfügung. Einerseits handelt es sich dabei um beachtliche Beträge, andererseits können sie nicht mehr be-wirken als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. So wird in Deutschland weitaus mehr Geld für Bier-Werbung ausgegeben als für die entwicklungspoli-tische Bildungsarbeit. Allein der Werbeetat der Brauerei, die ihr Bier als „eine Perle der Natur“ vermarktet, liegt jährlich bei 65 Millionen Euro.

1985 veröffentlichte Franz Nuscheler die erste Auflage seines Bestsellers „Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik“. Der Begriff der „Zivilgesellschaft“

tauchte darin nicht auf, ebenso wenig fanden sich darin freilich die SDGs. Viele der globalen Probleme aber, die heute Gegenstand der SDGs sind, waren ihm damals schon vor Augen. Ebenso die Tatsache, dass Entwicklungspolitik Inte-ressenpolitik ist und damit beständiger Gegenstand politischer Auseinanderset-zungen. Sein Appell richtete sich damals an die Kirchen, sie sollten doch „die Rolle des kritischen Gewissens in der Entwicklungspolitik“ übernehmen (ebd.

1985: 240). In Zeiten der Agenda 2030 hat sich die zivilgesellschaftliche Ak-teurswelt weit ausdifferenziert. Die zentrale Aufgabe der Zivilgesellschaft, men-schenrechtlich begründetes kritisches Gewissen der Politik zu sein, hat sich aber nicht verändert.

Literatur

Eberlei, Walter 2015: Zivilgesellschaft und Entwicklungsregime – Agenda-Setting und Regime-Building im Post-2015-Prozess, in: Zeitschrift für Außen- und Sicher-heitspolitik, 8 (2): 611-631.

Nuscheler, Franz 1985: Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik. Bonn: Dietz Verlag.

United Nations 2015: Transforming our World: The 2030 Agenda for Sustainable Development. New York: United Nations.

Walter Eberlei, Prof. Dr., ist Professor für Politikwissenschaften an der Hochschule Düssel-dorf (HSD). 1999-2005 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr.

Franz Nuscheler sowie im Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Universität Duisburg-Essen.