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Gewaltkonflikte als Entwicklungshemmnis: Syrien als dramatisches Beispiel

Größere Gewaltkonflikte wirken sich in der Regel negativ auf „Entwicklung“

aus. Zwar mag es durchaus Ausnahmen geben – wenn etwa bei bereits funkti-onierender Staatlichkeit ein Krieg den Staatsapparat zwingt, noch effizienter und integrierter zu werden, die Steuerquote zu erhöhen oder wenn dieser den

 

gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken mag. All dies wird nur unter bestimm-ten, günstigen Bedingungen eintreten – und in Fällen fragiler oder schwacher Staatlichkeit überhaupt nicht. In den allermeisten Fällen – und insbesondere, wenn der Krieg nicht fernab des eigenen Staatsgebietes geführt wird, sondern im eigenen Land – schwächt Krieg die erreichte „Entwicklung“, wirft sie um Jahre oder Jahrzehnte zurück oder blockiert sie. Syrien ist das gegenwärtig wohl dramatischste Beispiel2.

In Syrien befindet sich laut Angaben des United Nations Office for the Coor-dination of Humanitarian Affairs (OCHA 2017) inzwischen rund die Hälfte der Bevölkerung von ca. 23 Millionen Einwohnern auf der Flucht. 6,1 Millionen Menschen sind im Land selbst von ihren Wohnorten vertrieben oder geflohen (internally displaced persons, IDP) und 5,5 Millionen sind vor dem Krieg ins Aus-land geflohen. Nach Einschätzung der VN sind 13,1 Millionen Menschen von humanitärer Hilfe abhängig, davon 5,6 Millionen in akuter Not. Mehr als zwei Drittel (69 Prozent) der verbliebenen Bevölkerung leben heute in extremer Ar-mut, und leben von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag, wie OCHA (2017: 9) weiterhin feststellt:

“The destruction of life-sustaining civilian infrastructure and services such as water, sanitation and electricity systems, as well as attacks affecting hos-pitals, schools, housing land and property have continued to undermine sup-port structures in urban and rural areas, ultimately endangering civilian lives and hampering the return of the displaced populations after the cessation of hostilities. In the first half of 2017, the Health sector reported a 25 per cent increase in attacks against health facilities as compared to the same period in 2016, with attacks on health facilities numbering approximately 20 per month between January and April, or one attack every 36 hours. Although the number of verified attacks on schools in the first half of 2017 is less than fifty per cent of those verified in the first half of 2016, the trend of attacks remains consistent in terms of the type of attacks and their impact on chil-dren.”

Zwischen 2011 und 2016 verlor Syrien kriegsbedingt schätzungsweise 254 Mil-liarden US-Dollar, oder das Vierfache seines Bruttosozialproduktes von 2010.

OCHA (2017: 19) schätzt, dass allein das syrische Bildungswesen etwa um 11 Milliarden US-Dollar geschädigt wurde, die Landwirtschaft um 16 Milliarden.

US-Dollar. Bereits 2015 lag die Arbeitslosigkeit bei 53 Prozent, bei Jugendli-chen um die 75 Prozent.

      

2 Siehe zu Syrien auch den Beitrag von Volker Perthes in diesem Band.

Die dramatischen Folgen des Bürgerkrieges für die syrische Gesellschaft sind an diesen Zahlen leicht ablesbar – wie auch die desaströse entwicklungspoliti-sche Ausgangslage für den Wiederaufbau. Der daraus resultierende sozioöko-nomische Stress trägt dazu bei, dass die Rahmenbedingungen für eine Über-windung des Gewaltkonfliktes schlecht bleiben. Die Abhängigkeit der Bevöl-kerung von staatlichen und nichtstaatlichen Gewaltakteuren ist besonders aus-geprägt, wenn keine zivilen Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen oder diese Gewaltakteure Nahrungsmittel-, medizinische und andere Versorgung kontrol-lieren. Die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung kommt in einer solchen Kriegssituation nicht nur zum Stillstand, sondern wird zurückgewor-fen. Zugleich sind Versuche, einen neuen Entwicklungsprozess zu initiieren o-der zumindest den Wieo-deraufbau zu beginnen, aufgrund o-der fehlenden Sicher-heit nicht aussichtsreich.

Fazit

An diesem diffizilen Wechselspiel von Krieg und Gewalt einerseits und „Ent-wicklung“ andererseits könnte nun SDG 16 ansetzen. Ohne die Überwindung von Krieg und Massengewalt ist eine bevölkerungsorientierte Entwicklung schließlich nicht vorstellbar, weder normativ noch empirisch. Und umgekehrt wäre es bedauerlich, die Chancen von wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung ungenutzt zu lassen, um Gewaltexzessen vorzubeugen. Dieser Gedanke ist nicht neu – er stand offensichtlich bereits dabei Pate, als Franz Nuscheler 1990 das „Institut für Entwicklung und Frieden“ (INEF) gründete – und ihm nicht zufällig genau diesen Namen gab.

Die VN wissen von diesem wichtigen Zusammenhang – schreckten aber in SDG 16 noch davor zurück, diesen wirklich ernst zu nehmen und politisch ins Zentrum zu rücken. Über den Verweis auf die sehr allgemeine Absicht “[f]ried-liche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung [zu] för-dern”, gehen die SDGs ja nicht hinaus. Dabei gibt es zahlreiche Fälle, die drin-gend verstärkter Aufmerksamkeit bedürften. Hier handelt es sich einerseits um solche, bei denen die Gefahr besteht, dass sozioökonomische und Governance-Defizite eine ohnehin fragile Situation über die Gewaltschwelle drängen kön-nen. Andererseits auch um solche, in denen eskalierte Gewaltkonflikte jede Form von wirtschaftlicher und politischer Entwicklung blockieren. SDG 16 öffnete die Tür einen Spalt weit für die Entwicklungspolitik, sich dem zentralen Zusammenhang zwischen Gewalt und Entwicklung systematisch anzunehmen.

Sowohl aus pragmatischen Gründen wie auch aus der gesellschaftlichen Ver-antwortung von Entwicklungspolitik und Wissenschaft heraus muss es nun in den nächsten Jahren darum gehen, durch diese Tür auch einzutreten.

 

Literatur

OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) 2017:

Syrian Arab Republic – Humanitarian Need Overview 2018.

https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/2018_syr_hno_eng-lish.pdf (abgerufen am 26. März 2018).

Jochen Hippler, PD Dr., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Universität Duisburg-Essen.