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5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert

5.2 Die wissenschaftliche Revolution

Wie bereits angedeutet geht der wissenschaftlichen Revolution der Sprach-ursprungstheorie eine Zeit der Krise voraus, die durch eine Fülle an Theo-rien symptomatisch gekennzeichnet ist. In dieser Zeit entstehen auch Con-dillacs, Süßmilchs und Herders Sprachursprungstheorien.

Die Krise wird maßgeblich von der Berliner Akademie der Wissenschaf-ten gespiegelt. Indem sie die Preisfrage nach dem menschlichen Sprachur-sprung ausschreibt, signalisiert sie als Institution bereits eine tendenzielle Ablösung von der theologischen Sprachursprungstheorie. Auch die einge-henden Preisschriften legen nahe, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft sich nicht mehr auf ein gemeinsames Paradigma des göttlichen Sprachur-sprungs beruft, sondern die Annahme eines menschlichen SprachurSprachur-sprungs zunehmend in die Theorien eindringt.

Die besondere Situation, nämlich dass eine akademische Institution einen Wettstreit der Theorien herausfordert, kreiert eine Art künstliches Szenario, das die Ablösung vom alten und die Annahme des neuen Paradigmas stark in der wissenschaftlichen Gemeinschaft forciert. Aus dem Wettbewerb geht letztlich Johann Gottfried Herder mit seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache als Sieger hervor. Die Anerkennung der Preisschrift durch die Berliner Akademie schlägt sich schließlich auch in der Anerkennung eines menschlichen Sprachursprungs im Gros der wissenschaftlichen

Gemein-5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert 42 schaft nieder und führt über einen längeren Zeitraum zur Verwerfung des alten, theologisch motivierten Paradigmas sowie zur Annahme des mensch-lichen Sprachursprungs. Mit der Annahme der neuen Theorie als Paradigma muss unumgänglich eine Ablösung vom alten, theologisch motivierten Sprachursprung geschehen. Kuhn beschreibt die Unmöglichkeit, dass nach einer wissenschaftlichen Revolution sowohl das alte als auch das neue Para-digma nebeneinander gleichbedeutend ihre Existenzberechtigung haben.

Vielmehr ist das Verhältnis der alten und der neuen Theorie als inkommen-surabel zu beschreiben.

Paradigmata unterscheiden sich aber in mehr als der Substanz, denn sie zielen nicht nur auf die Natur, sondern auch wieder zurück auf die Wissenschaft, die sie hervorbrachte.

Sie sind die Quelle aller Methoden, Problemgebiete und Lösungsnormen, die von einer reifen wissenschaftlichen Gemeinschaft zu irgendeinem Zeitpunkt anerkannt werden.

Daraus ergibt sich, daß die Annahme eines neuen Paradigmas oft eine neue Definition der entsprechenden Wissenschaft erfordert. Manche alte Probleme können an eine ande-re Wissenschaft abgegeben oder für völlig »unwissenschaftlich« erklärt werden. Andeande-re wieder, die vorher nicht existierten oder völlig unbedeutend waren, können mit einem neuen Paradigma geradezu ein Haupttypus wichtiger wissenschaftlicher Leistung wer-den. Und wie sich die Probleme ändern, so ändert sich oft auch die Norm, die eine wirk-lich wissenschaftwirk-liche Lösung von einer bloßen metaphysischen Spekulation, einem Wortspiel oder einer mathematischen Spielerei unterscheidet. Die normal-wissenschaftliche Tradition, die aus einer normal-wissenschaftlichen Revolution hervorgeht, ist mit dem Vorangegangenen nicht nur unvereinbar, sondern oft sogar inkommensurabel.

(ebd.: 116)

Die Durchsetzung eines neuen Paradigmas und die Gründung einer neuen normalen Wissenschaft benötigen allerdings Zeit. Vorerst existieren häufig das alte Paradigma und die neue Theorie zeitgleich nebeneinander.

Gegnern der neuen Theorie widerfährt nicht selten, dass ihnen aufgrund ihrer Verschlossenheit der neuen Theorie gegenüber der Status des Wissen-schaftlers aberkannt wird. Auch Süßmilch sieht sich dieser Situation ausge-setzt. Er wird unter anderem aufgrund von Herders scharfer Kritik in die Ecke des ‚Nicht-Wissenschaftlers’ gedrängt. Seinen eigenen Standpunkt kann er allerdings selbst nicht mehr verteidigen, da er beim Erscheinen von Herders Abhandlung bereits nicht mehr lebt.

Es entsteht ein neues, nicht an die alte Theorie anknüpfendes Paradigma.

Dieses Charakteristikum der Entwicklung einer eigenständigen Theorie ne-giert zugleich, dass es sich bei neu entstehenden Paradigmata um einen ku-mulativen Prozess innerhalb der Wissenschaftsgeschichte handelt. Kumula-tive Prozesse finden lediglich beim Rätsellösen statt. Hier hingegen bildet sich eine völlig neue wissenschaftliche Grundlage, die zu einem Neuaufbau

5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert 43 der Disziplin und damit auch zu einer Erneuerung der Paradigmamethoden und Paradigmaanwendungen führt. (vgl. ebd.: 97f.) Genau in diesem Schritt eines nicht weiter kumulativen Prozesses, sondern dem Neuaufbau einer Disziplin, liegt die wissenschaftliche Revolution.

In dem Sprachursprungsdiskurs des 18. Jahrhunderts wird letztlich durch Herders überzeugende Argumentation sowie gleichzeitig seine Kritik an Johann Peter Süßmilch die Theorie eines göttlichen Sprachursprungs aus dem Diskurs zunehmend verdrängt. Es ist der göttlichen Sprachursprungs-theorie nicht möglich, sich in gleicher Weise wie die menschliche Sprachur-sprungstheorie wissenschaftlich zu situieren. Sie verliert in dem Moment, in dem die Anomalie zu einer Krise führt und dann nach einer wissenschaftli-chen Revolution durch das neue Paradigma abgelöst wird, ihre wissen-schaftliche Glaubwürdigkeit – beide Theorien werden inkommensurabel.

(vgl. Gesche 1993: 10)

Herder wird bis heute als Begründer der Theorie des menschlichen Sprachursprungs rezipiert. Folgt man Kuhns Theorie, lässt sich allerdings nie eine Einzelperson als Initiator eines Paradigmenwechsels ausmachen.

Vielmehr muss Herder als Wissenschaftler im Zeitgeist des 18. Jahrhunderts verstanden werden, in dem auch andere Sprachphilosophen, wie am Bei-spiels Condillacs dargelegt worden ist, für einen menschlichen Sprachur-sprung plädieren. Herder ist involviert in einen größeren Paradigmenwech-sel, anhand dessen der Paradigmenwechsel des 18. Jahrhunderts nachvoll-zogen werden kann – er ist jedoch nicht der ‚Erfinder’ des menschlichen Sprachursprungs.

Die verzerrte Rezeptionsgeschichte der Abhandlung Herders lässt sich lediglich aus dem Umstand erklären, dass er als Preisträger innerhalb einer wichtigen, institutionellen Einrichtung gekürt worden ist und ihm damit scheinbar automatisch die Rolle des Vordenkers zugewiesen worden ist.

Neben der in der Rezeption häufig benannten ‚Revolution’ Herders, den Sprachursprung beim Menschen selbst anzusiedeln und nicht in einer meta-physischen Instanz, finden sich in seiner Abhandlung jedoch noch weitere, für die vorliegende Arbeit wichtige und weitestgehend moderne Ansätze, die auch von Herders eigenem historischem Bewusstsein beeinflusst sind.

Denn er versteht Sprache als ein Resultat menschlicher Schwäche und

Stär-5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert 44 ke zugleich: Die Instinktlosigkeit des Menschen schwächt ihn in seiner Überlebensfähigkeit und offenbart ihm zugleich – auf dem Hintergrund sei-ner insei-neren Vernunft – die Fähigkeit, Sprache auszubilden. Das Ausbilden der Sprache kann sich allerdings nur durch die sensorische Interaktion mit der Seele vollziehen. Die Seele nimmt in dem hier von Herder beschriebe-nen Prozess die Funktion eines Katalysators ein: Durch die Sinnesorgane – und am prägnantesten durch das Gehör – dringt die Umwelt in das Bewusst-sein des Menschen und hinterlässt spezifische Merkmale auf der Seele. Mit-hilfe der eingeprägten Merkmale hilft dann die Seele beim Erinnerungspro-zess Objekte wiederzuerkennen, um sie letztlich anhand ihrer Merkmale auch benennen zu können.8

Herders Beweisführung insgesamt offenbart dem Leser einen Blick auf das historische Verständnis von Sprache, die sich im Laufe ihrer Zeit entwi-ckelt hat und nicht als bereits fertiges Produkt Teil des Menschen ist. Dieses Bewusstsein für historische Prozesse führt Herder des Weiteren zu der An-nahme, dass die Sprachprozesse von unterschiedlichen Arten von Sprachen begleitet sind. So vehement er seine Argumentation auch gegen Condillac einsetzt, so kommt er doch nicht umhin, auch in seiner Theorie die Natur-laute als Sprache anzuerkennen. Jedoch betont er, dass es sich hierbei um eine besondere Art der Sprache handelt, die nichts mehr mit unserer heuti-gen Sprache zu tun hat. Herder deutet also an, dass er bereit ist, einen Spra-chentwicklungsprozess anzunehmen, der unterschiedliche Sprachen mitein-schließt, letztlich jedoch die Sprache in seinem Verständnis aus einem ande-ren, davon separierten Prozess entstanden sei.

Dieses sich neu ausbildende Sprach- und Geschichtsbewusstsein, das nicht allein bei Herder seine ersten Triebe zeigt, steht insgesamt für ein neu-es Verständnis dneu-es eigenen Selbst und der sich langsam ausbildenden wis-senschaftlichen Linguistik. Es ist insgesamt eingebettet in den Paradigmen-wechsel der Sprachwissenschaft.

Cordula Neis hingegen wirft bezogen auf die gemeinschaftliche Anerken-nung eines neuen Paradigmas innerhalb der Sprachphilosophie des 18. Jahr-hunderts ein, dass keineswegs Herders Abhandlung als die Lösung der

8 Diese Erkenntnis übernimmt Herder aus Condillacs sensualistischer Sprachursprungstheo-rie, ohne diesen jedoch als Urheber des Gedankens zu zitieren.

5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert 45 Sprachursprungsdebatte angesehen werden kann. Sie verweist dazu auf Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Antrag 1850 vor der Berliner Akade-mie, die Frage nach dem Sprachursprung erneut zu stellen. Die hier mani-festierte Unzufriedenheit mit Herders Lösung der Sprachursprungsproble-matik sowie die weiterhin entstehenden Abhandlungen über den Ursprung der Sprache und das Diskussionsverbot der Pariser Societé de Linguistique 1866 zum Thema Sprachursprung veranlassen Neis zu der Schlussfolge-rung, dass mit Johann Gottfried Herders Abhandlung noch kein Konsens in der Sprachphilosophie eingegangen ist. (vgl. Neis 2003: 553f.)

Unsere eigens aufgeführten Argumente hingegen deuten darauf hin, dass die Annahme eines Paradigmenwechsels innerhalb der Sprachphilosophie durch der Ablösung vom göttlichen Sprachursprung mit gleichzeitiger An-nahme einer neuen Theorie bestätigt wird. Unstimmigkeiten, die ein Jahr-hundert später noch einmal bezüglich der Sprachursprungsfrage auftauchen, werden, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, zum Teil schnell wieder im Keim erstickt.

Das folgende Kapitel wird versuchen, die Bezüge zwischen dem Para-digmenwechsel des 18. Jahrhunderts und Johann Gottfried Herders Positio-nierung innerhalb des Paradigmenwechsels auch noch einmal im Hinblick auf die Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts darzustellen. Als exempla-rische Textgrundlage wird dazu Jacob Grimms Vortrag Über den Ursprung der Sprache (1852) herangezogen.