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1 Einleitung

Das Interesse an Sprache in ihrer Entwicklung, Struktur sowie in ihrem Wirken ist ein genuin menschliches und reizt die Aufmerksamkeit jeglicher wissenschaftlicher Disziplin. Abhängig vom wissenschaftlichen Zeitgeist sowie der Disziplin selbst variieren die Forschungsfelder stark. Konstituiert sich beispielsweise mittlerweile ein ganzes Forschungsfeld wie das der Genderforschung um den Bereich Sprache, Identität und Geschlecht, gilt das Interesse der deutschen sprachphilosophischen Forschung im 18. Jahr-hundert vornehmlich dem Ursprung der Sprache.

Eine Diversität von neuen sprachwissenschaftlichen Ansätzen keimt auf, die den Ursprung der menschlichen Sprache zu erklären suchen und, um mit Kant zu sprechen, eine kopernikanische Wende einläuten. Die Epoche der Aufklärung als Zeit des Umbruchs sowie der Paradigmenwechsel steht ste-reotyp für die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Ansätze, die wiederum auf traditionelle Denk- und Argumentationsstrukturen treffen. Die Vielfalt der hier aufkeimenden sprachursprungstheoretischen Ansätze kann wohl im Zeitgeist der Säkularisierung seine Begründung finden.

Auch Johann Gottfried Herder gehört zu jenen Sprachphilosophen, die den Diskurs um den Sprachursprung vorantreiben. Seine These, die er 1771 in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache darlegt, besagt, dass die Sprache des Menschen nicht durch eine göttliche Instanz gegeben sei, son-dern durch den Menschen selbst erfunden worden ist. Sie tritt wohl bis heu-te als prägnanheu-tesheu-te und meistzitierheu-te aus dieser Zeit hervor und wird als Wegbereiter für die Entwicklung anthropologisch ausgerichteter Theorien gewertet, die den Menschen selbst im Mittelpunkt von Entwicklungsprozes-sen sehen. Die Abkehr von theologisch begründeten Argumentationsstruktu-ren ändert gleichzeitig die Richtung der Argumentation: Alle entwickelten Gedankengänge entstehen mit der Referenz auf den Menschen selbst. In ihm reifen Denkprozesse heran – unabhängig von einer göttlichen Instanz.

Doch auch andere Sprachursprungstheorien finden ihren Weg in den Diskurs. So entwickeln beispielsweise Johann Peter Süßmilch oder Etienne Bonnot de Condillac, die in Herders eigener Schrift maßgeblich als

Kontra-1 Einleitung 3 henten ins Feld geführt werden, weitere Thesen des Sprachursprungs. Wäh-rend Süßmilch die Theorie eines göttlichen Sprachursprungs nahelegt, ar-beitet Etienne Bonnot de Condillac basierend auf John Lockes Theorie ei-nen sensualistischen sprachtheoretischen Ansatz heraus. Die Diversität der Beantwortung der Sprachursprungsfrage deutet auf eine Zeit des Umbruchs hin, die auch in der Geschichte der Sprachwissenschaft eine besondere Rol-le übernimmt. Das 18. Jahrhundert wird in der Rezeptionsgeschichte häufig mit positiven Konnotationen bewertet: Es tritt als ‚aufklärerisch’ und ‚fort-schrittlich’ aus dem Schatten der Tradition hervor. Eine ähnliche Rezeption erfährt auch die Abhandlung Herders, die bis heute fast als Synonym des

‚revolutionären’, von Gott losgelösten Sprachursprungs gelesen wird. Hier werden zweierlei Probleme der Rezeption Herders deutlich, die aufeinander aufbauen: Herders Abhandlung wird in ihrer Rezeptionsgeschichte selten in Bezug zu anderen Sprachursprungstheorien des 18. Jahrhunderts gelesen, wodurch eine einseitige, verzerrende Darstellung der Herder’schen Schrift und ihrer Auswirkungen entsteht. Daraus wiederum resultierend tendiert die Forschung dazu, Herders Theorie auf einen einzigen Standpunkt zu reduzie-ren: auf die Annahme eines menschlichen Sprachursprungs.

Cordula Neis verweist in ihrer Arbeit Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts (2003) auf die idealisierte Rezeptionsgeschichte der Herder’schen Abhandlung. Herder werde bis in die heutige Sprachwissen-schaft hinein als ‚Revolutionär’ der Sprachursprungsfrage verhandelt, wodurch andere Sprachursprungstheorien ins Hintertreffen geraten. Es scheint, als löse die Rezeptionsgeschichte Herder fast gänzlich aus seinem Zeitgeschehen heraus, um seine Theorie zu untersuchen. Durch die fehlende Kontextualisierung Herders rückt nicht in den Fokus, dass die gesamte Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts im Wandel begriffen ist. Die Fra-ge, die sich für die vorliegende Arbeit auftut, ist, ob neben der Ablehnung eines theologisch motivierten Sprachursprungs weitere ‚moderne’ sprach-philosophische Ansätze in Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache auszumachen sind, die Auswirkungen auf die spätere Sprachwis-senschaft haben.

Um dieser Frage nachzugehen legt die Arbeit die Annahme eines Para-digmenwechsels der Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts nach Thomas

1 Einleitung 4 S. Kuhn zugrunde. Kuhn zeigt auf, dass sich Wissenschaftsgeschichte nicht kumulativ, sondern aufgrund von wissenschaftlichen Revolutionen verän-dert, die unter anderem durch gesellschaftliche Umbrüche gekennzeichnet sind. Die vorliegende Untersuchung nimmt an, dass die (Sprach-) Wissen-schaft der Epoche der Aufklärung durch die Säkularisierungsprozesse einer solchen Krise unterworfen ist, da die bewährten Erklärungsmodelle, die eine göttliche Instanz zugrunde legen, nicht weiter greifen. Bisher hat sich noch kein uns bekannter Sprachwissenschaftler der Herder’schen Abhandlung unter Berücksichtigung eines Paradigmenwechsels genähert. Lediglich Ed-mund Braun (1996) bindet Herder in den Kontext eines größeren Paradig-menwechsels mit ein, indem er einen generellen Überblick über die Para-digmenwechsel der Sprachphilosophie über mehrere Jahrhunderte hinweg aufzuzeigen versucht. Die ausführliche Untersuchung Herders in einem sprachphilosophischen Paradigmenwechsel steht bei der genannten Arbeit allerdings nicht im Mittelpunkt des Forschungsinteresses.

Für die vorliegende Arbeit sollen angesichts der fast gänzlich ausblei-benden Einordnung Herders in einen Paradigmenwechsel der Sprachwissen-schaft sowie die häufig fehlende kritische Einordnung in den wissenSprachwissen-schaft- wissenschaft-lichen Zeitgeist vornehmlich die Primärtexte für sich selbst sprechen. Cor-dula Neis wird uns mit ihrer rezeptionsgeschichtlichen Mahnung durch die Arbeit begleiten. Auch werden Astrid Gesches (1993) Gedanken zur Anth-ropologie innerhalb Herders Sprachursprungstheorie immer wieder durch-schimmern. Doch der Hauptteil der Untersuchung erfolgt durch ein deskrip-tiv-analytisches Verfahren, das den distanzierten Blick wahren soll. Dabei gliedert sich die Untersuchung in insgesamt vier große Kapitel, denn ein etwaiger Paradigmenwechsel kann nur dann beschrieben werden, wenn Herder selbst im eigenen Zeitgeschehen kontextualisiert wird. Dazu werden zu Beginn die zwei größten Kontrahenten Herders ins Feld geführt: Etienne Bonnot de Condillac und Johann Peter Süßmilch.

Es folgt eine theoretische Analyse der Abhandlung über den Ursprung der Sprache, die maßgeblich die Kritik Herders an Condillac und Süßmilch in den Blick nimmt, um anschließend seine eigene Sprachursprungstheorie herauszuarbeiten. In den Fokus treten für die weitere Analyse eines Para-digmenwechsels die Aspekte der Historizität von Sprache, Sprache als

1 Einleitung 5 menschliches Merkmal und die theologischen Elemente der Herder’schen Abhandlung. Das Verständnis von Historizität und Geschichtlichkeit, das heißt Herders eigenes Verständnis von Sprachgeschichte, sind dabei von besonderem Interesse. Mit der Veränderung des Historizitätsbegriffs der Sprache verändert sich auch die Wahrnehmung menschlicher Entwick-lungsprozesse und somit auch das Bild des menschlichen Daseins selbst.

Als konzeptionelle Grundlage der Untersuchung wird dann Thomas S.

Kuhns Theorie Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1976) heran-gezogen. Anhand des von ihm geprägten Begriffs des Paradigmenwechsels soll die Entstehung moderner wissenschaftlicher Ansätze im Zeitgeist der traditionellen Erklärungsmuster untersucht werden. Es erscheint sinnvoll, in diesem Kontext kurz auf die Dichotomie von Tradition und Moderne als stereotypes Begriffspaar des 18. Jahrhunderts einzugehen und dieses kri-tisch zu beleuchten. Als Ausgangspunkt für die Entwicklung der Sprachwis-senschaft wird außerdem skizzenhaft Bezug auf das sich ausprägende Ge-schichtsverständnis des 18. Jahrhunderts genommen.

Im letzten Schritt werden Herders Argumente, die auf einen Paradig-menwechsel hindeuten, in den Kontext der modernen Sprachwissenschaft gesetzt. Als Referenz hierzu wird Jacob Grimms Vortrag vor der Berliner Akademie der Wissenschaften Über den Ursprung der Sprache (1852) an-geführt. Grimm bezieht sich innerhalb des Vortrags explizit auf Johann Gottfried Herders Abhandlung und verhandelt dabei die wichtigsten Kern-punkte im Kontext seiner Zeit. Hinzu tritt Grimms Reflexion über die Ent-wicklung der Sprachwissenschaft von der Mitte des 18. bis hin zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die hohe Reflexionsebene, die Herders Arbeit im Kontext seiner Zeit betrachtet und seine Ergebnisse als richtig, die Beweise jedoch aufgrund der fehlenden Forschungsergebnisse als nicht weiter haltbar dar-legt, dient als Grundlage, um Grimms Vortrag hier als Referenztext anzu-führen.

Die Arbeit entpuppt sich letztlich in zweierlei Aspekten als notwendig für die historische Sprachwissenschaft: Zum einen verweist sie auf einen blin-den Fleck innerhalb der Rezeptionsgeschichte Herders, blin-den es für die zu-künftige Forschung zu bearbeiten gilt: Die Forschung zu Herders Schriften

1 Einleitung 6 ist durch ihre außerordentlich positive Rezeption gehemmt in ihrem kriti-schen Blick. Zum anderen offenbart sie, dass in der Geschichte der Sprach-wissenschaft der Aspekt aufkeimender, moderner sprachSprach-wissenschaftlicher Elemente im 18. Jahrhundert – speziell mit dem Fokus auf Johann Gottfried Herder – noch nicht ausreichend beleuchtet und untersucht worden ist. Ihr Ziel besteht folglich darin, die existierende Lücke in der Geschichte der Sprachwissenschaft teilweise zu ergänzen und Johann Gottfried Herders Sprachursprungstheorie im Kontext einer beginnenden modernen Sprach-wissenschaft würdigend einzuordnen.