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Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache als Ansatz einer modernen Sprachwissenschaft?

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Universiteit van Amsterdam

Faculteit der Geesteswetenschappen Duitse taal- en letterkunde

Sommersemester 2015

Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache als Ansatz einer modernen Sprachwissenschaft?

Eine sprachhistorische Untersuchung des Paradigmenwechsels im 18. Jahrhundert

Masterarbeit zur Erlangung des Grades Master of Arts Erstgutachter: Dr. Ansgar Mohnkern

Zweitgutachter: Dr. Nina Bartsch

Abgabe: 01. Juni 2015

Verfasserin: Nora Schönfelder

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung ... 2

2 Vorbemerkung zur modernen Sprachwissenschaft ... 7

3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert ... 10

3.1 Condillac: Die sensualistische Sprachphilosophie ... 12

3.2 Süßmilch: Die theologische Sprachphilosophie ... 15

4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung ... 19

4.1 Herders Kritik ... 20

4.2 Herders Sprachursprungstheorie ... 24

4.2.1 Historizität von Sprache ... 27

4.2.2 Sprache als menschliches Merkmal ... 30

4.2.3 Theologische Aspekte ... 32

5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert ... 37

5.1 Die Krise ... 40

5.2 Die wissenschaftliche Revolution ... 41

6 Das Erbe: Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert ... 46

6.1 Jacob Grimm: Über den Ursprung der Sprache ... 46

6.2 Ansätze Herders als Ursprung der modernen Sprachwissenschaft? ... 50

7 Fazit ... 55

8 Literaturverzeichnis ... 61

9 Anhang ... 63

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1 Einleitung 2

1 Einleitung

Das Interesse an Sprache in ihrer Entwicklung, Struktur sowie in ihrem Wirken ist ein genuin menschliches und reizt die Aufmerksamkeit jeglicher wissenschaftlicher Disziplin. Abhängig vom wissenschaftlichen Zeitgeist sowie der Disziplin selbst variieren die Forschungsfelder stark. Konstituiert sich beispielsweise mittlerweile ein ganzes Forschungsfeld wie das der Genderforschung um den Bereich Sprache, Identität und Geschlecht, gilt das Interesse der deutschen sprachphilosophischen Forschung im 18. Jahr- hundert vornehmlich dem Ursprung der Sprache.

Eine Diversität von neuen sprachwissenschaftlichen Ansätzen keimt auf, die den Ursprung der menschlichen Sprache zu erklären suchen und, um mit Kant zu sprechen, eine kopernikanische Wende einläuten. Die Epoche der Aufklärung als Zeit des Umbruchs sowie der Paradigmenwechsel steht ste- reotyp für die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Ansätze, die wiederum auf traditionelle Denk- und Argumentationsstrukturen treffen. Die Vielfalt der hier aufkeimenden sprachursprungstheoretischen Ansätze kann wohl im Zeitgeist der Säkularisierung seine Begründung finden.

Auch Johann Gottfried Herder gehört zu jenen Sprachphilosophen, die den Diskurs um den Sprachursprung vorantreiben. Seine These, die er 1771 in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache darlegt, besagt, dass die Sprache des Menschen nicht durch eine göttliche Instanz gegeben sei, son- dern durch den Menschen selbst erfunden worden ist. Sie tritt wohl bis heu- te als prägnanteste und meistzitierte aus dieser Zeit hervor und wird als Wegbereiter für die Entwicklung anthropologisch ausgerichteter Theorien gewertet, die den Menschen selbst im Mittelpunkt von Entwicklungsprozes- sen sehen. Die Abkehr von theologisch begründeten Argumentationsstruktu- ren ändert gleichzeitig die Richtung der Argumentation: Alle entwickelten Gedankengänge entstehen mit der Referenz auf den Menschen selbst. In ihm reifen Denkprozesse heran – unabhängig von einer göttlichen Instanz.

Doch auch andere Sprachursprungstheorien finden ihren Weg in den Diskurs. So entwickeln beispielsweise Johann Peter Süßmilch oder Etienne Bonnot de Condillac, die in Herders eigener Schrift maßgeblich als Kontra-

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1 Einleitung 3 henten ins Feld geführt werden, weitere Thesen des Sprachursprungs. Wäh- rend Süßmilch die Theorie eines göttlichen Sprachursprungs nahelegt, ar- beitet Etienne Bonnot de Condillac basierend auf John Lockes Theorie ei- nen sensualistischen sprachtheoretischen Ansatz heraus. Die Diversität der Beantwortung der Sprachursprungsfrage deutet auf eine Zeit des Umbruchs hin, die auch in der Geschichte der Sprachwissenschaft eine besondere Rol- le übernimmt. Das 18. Jahrhundert wird in der Rezeptionsgeschichte häufig mit positiven Konnotationen bewertet: Es tritt als ‚aufklärerisch’ und ‚fort- schrittlich’ aus dem Schatten der Tradition hervor. Eine ähnliche Rezeption erfährt auch die Abhandlung Herders, die bis heute fast als Synonym des

‚revolutionären’, von Gott losgelösten Sprachursprungs gelesen wird. Hier werden zweierlei Probleme der Rezeption Herders deutlich, die aufeinander aufbauen: Herders Abhandlung wird in ihrer Rezeptionsgeschichte selten in Bezug zu anderen Sprachursprungstheorien des 18. Jahrhunderts gelesen, wodurch eine einseitige, verzerrende Darstellung der Herder’schen Schrift und ihrer Auswirkungen entsteht. Daraus wiederum resultierend tendiert die Forschung dazu, Herders Theorie auf einen einzigen Standpunkt zu reduzie- ren: auf die Annahme eines menschlichen Sprachursprungs.

Cordula Neis verweist in ihrer Arbeit Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts (2003) auf die idealisierte Rezeptionsgeschichte der Herder’schen Abhandlung. Herder werde bis in die heutige Sprachwissen- schaft hinein als ‚Revolutionär’ der Sprachursprungsfrage verhandelt, wodurch andere Sprachursprungstheorien ins Hintertreffen geraten. Es scheint, als löse die Rezeptionsgeschichte Herder fast gänzlich aus seinem Zeitgeschehen heraus, um seine Theorie zu untersuchen. Durch die fehlende Kontextualisierung Herders rückt nicht in den Fokus, dass die gesamte Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts im Wandel begriffen ist. Die Fra- ge, die sich für die vorliegende Arbeit auftut, ist, ob neben der Ablehnung eines theologisch motivierten Sprachursprungs weitere ‚moderne’ sprach- philosophische Ansätze in Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache auszumachen sind, die Auswirkungen auf die spätere Sprachwis- senschaft haben.

Um dieser Frage nachzugehen legt die Arbeit die Annahme eines Para- digmenwechsels der Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts nach Thomas

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1 Einleitung 4 S. Kuhn zugrunde. Kuhn zeigt auf, dass sich Wissenschaftsgeschichte nicht kumulativ, sondern aufgrund von wissenschaftlichen Revolutionen verän- dert, die unter anderem durch gesellschaftliche Umbrüche gekennzeichnet sind. Die vorliegende Untersuchung nimmt an, dass die (Sprach-) Wissen- schaft der Epoche der Aufklärung durch die Säkularisierungsprozesse einer solchen Krise unterworfen ist, da die bewährten Erklärungsmodelle, die eine göttliche Instanz zugrunde legen, nicht weiter greifen. Bisher hat sich noch kein uns bekannter Sprachwissenschaftler der Herder’schen Abhandlung unter Berücksichtigung eines Paradigmenwechsels genähert. Lediglich Ed- mund Braun (1996) bindet Herder in den Kontext eines größeren Paradig- menwechsels mit ein, indem er einen generellen Überblick über die Para- digmenwechsel der Sprachphilosophie über mehrere Jahrhunderte hinweg aufzuzeigen versucht. Die ausführliche Untersuchung Herders in einem sprachphilosophischen Paradigmenwechsel steht bei der genannten Arbeit allerdings nicht im Mittelpunkt des Forschungsinteresses.

Für die vorliegende Arbeit sollen angesichts der fast gänzlich ausblei- benden Einordnung Herders in einen Paradigmenwechsel der Sprachwissen- schaft sowie die häufig fehlende kritische Einordnung in den wissenschaft- lichen Zeitgeist vornehmlich die Primärtexte für sich selbst sprechen. Cor- dula Neis wird uns mit ihrer rezeptionsgeschichtlichen Mahnung durch die Arbeit begleiten. Auch werden Astrid Gesches (1993) Gedanken zur Anth- ropologie innerhalb Herders Sprachursprungstheorie immer wieder durch- schimmern. Doch der Hauptteil der Untersuchung erfolgt durch ein deskrip- tiv-analytisches Verfahren, das den distanzierten Blick wahren soll. Dabei gliedert sich die Untersuchung in insgesamt vier große Kapitel, denn ein etwaiger Paradigmenwechsel kann nur dann beschrieben werden, wenn Herder selbst im eigenen Zeitgeschehen kontextualisiert wird. Dazu werden zu Beginn die zwei größten Kontrahenten Herders ins Feld geführt: Etienne Bonnot de Condillac und Johann Peter Süßmilch.

Es folgt eine theoretische Analyse der Abhandlung über den Ursprung der Sprache, die maßgeblich die Kritik Herders an Condillac und Süßmilch in den Blick nimmt, um anschließend seine eigene Sprachursprungstheorie herauszuarbeiten. In den Fokus treten für die weitere Analyse eines Para- digmenwechsels die Aspekte der Historizität von Sprache, Sprache als

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1 Einleitung 5 menschliches Merkmal und die theologischen Elemente der Herder’schen Abhandlung. Das Verständnis von Historizität und Geschichtlichkeit, das heißt Herders eigenes Verständnis von Sprachgeschichte, sind dabei von besonderem Interesse. Mit der Veränderung des Historizitätsbegriffs der Sprache verändert sich auch die Wahrnehmung menschlicher Entwick- lungsprozesse und somit auch das Bild des menschlichen Daseins selbst.

Als konzeptionelle Grundlage der Untersuchung wird dann Thomas S.

Kuhns Theorie Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1976) heran- gezogen. Anhand des von ihm geprägten Begriffs des Paradigmenwechsels soll die Entstehung moderner wissenschaftlicher Ansätze im Zeitgeist der traditionellen Erklärungsmuster untersucht werden. Es erscheint sinnvoll, in diesem Kontext kurz auf die Dichotomie von Tradition und Moderne als stereotypes Begriffspaar des 18. Jahrhunderts einzugehen und dieses kri- tisch zu beleuchten. Als Ausgangspunkt für die Entwicklung der Sprachwis- senschaft wird außerdem skizzenhaft Bezug auf das sich ausprägende Ge- schichtsverständnis des 18. Jahrhunderts genommen.

Im letzten Schritt werden Herders Argumente, die auf einen Paradig- menwechsel hindeuten, in den Kontext der modernen Sprachwissenschaft gesetzt. Als Referenz hierzu wird Jacob Grimms Vortrag vor der Berliner Akademie der Wissenschaften Über den Ursprung der Sprache (1852) an- geführt. Grimm bezieht sich innerhalb des Vortrags explizit auf Johann Gottfried Herders Abhandlung und verhandelt dabei die wichtigsten Kern- punkte im Kontext seiner Zeit. Hinzu tritt Grimms Reflexion über die Ent- wicklung der Sprachwissenschaft von der Mitte des 18. bis hin zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die hohe Reflexionsebene, die Herders Arbeit im Kontext seiner Zeit betrachtet und seine Ergebnisse als richtig, die Beweise jedoch aufgrund der fehlenden Forschungsergebnisse als nicht weiter haltbar dar- legt, dient als Grundlage, um Grimms Vortrag hier als Referenztext anzu- führen.

Die Arbeit entpuppt sich letztlich in zweierlei Aspekten als notwendig für die historische Sprachwissenschaft: Zum einen verweist sie auf einen blin- den Fleck innerhalb der Rezeptionsgeschichte Herders, den es für die zu- künftige Forschung zu bearbeiten gilt: Die Forschung zu Herders Schriften

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1 Einleitung 6 ist durch ihre außerordentlich positive Rezeption gehemmt in ihrem kriti- schen Blick. Zum anderen offenbart sie, dass in der Geschichte der Sprach- wissenschaft der Aspekt aufkeimender, moderner sprachwissenschaftlicher Elemente im 18. Jahrhundert – speziell mit dem Fokus auf Johann Gottfried Herder – noch nicht ausreichend beleuchtet und untersucht worden ist. Ihr Ziel besteht folglich darin, die existierende Lücke in der Geschichte der Sprachwissenschaft teilweise zu ergänzen und Johann Gottfried Herders Sprachursprungstheorie im Kontext einer beginnenden modernen Sprach- wissenschaft würdigend einzuordnen.

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2 Vorbemerkung zur modernen Sprachwissenschaft 7

2 Vorbemerkung zur modernen Sprachwissenschaft

Die vorliegende Arbeit verhandelt Herder im Kontext der Terminus einer

‚modernen Sprachwissenschaft’. Bevor dazu in die Analyse der Primärtexte eingestiegen wird, soll dieses Kapitel eine kurze Erläuterung dazu bieten, was in unserem Verständnis den zugrundeliegenden Begriff der ‚modernen Sprachwissenschaft’ kennzeichnet.

Die Linguistik verwendet den Ausdruck der Moderne im eigentlichen Sinne als Epochenschwelle von der diachronen hin zur synchronen Sprach- wissenschaft, deren Ursprünge in den Arbeiten Ferdinand de Saussures lie- gen. In Abgrenzung zur Moderne als Epochenbegriff wird in der anschlie- ßenden Untersuchung die Moderne in ihrer Ursprünglichkeit des Wortes begriffen: Moderne als Gegensatz zur bewahrenden Tradition; Moderne als Neubeginn losgelöst vom bisher Bestehenden.1

In ihrer Tradition gehört die Sprachwissenschaft bis ins 19. Jahrhundert hinein als Teilgebiet der Philosophie an: Sie heißt deswegen auch Sprach- philosophie. Durch die Jahrtausende hinweg zeichnet sich immer ein sprachliches Interesse der Philosophen ab: Während der ersten Ergründung der Grammatik von Sprache vor mehr als 2000 Jahren offenbart sich nach und nach auch eine Begeisterung für die Etymologie von Wörtern, um an- hand dieser den Ursprung der Wörter aufzuspüren. (vgl. Lyon 1975: 4ff.) Die Idee, Einzelwörter und Sprache in ihren Verweisen auf den Ursprung zu erforschen, scheint eine lange Tradition innerhalb der Philosophie zu haben, in der auch die Sprachphilosophen des 18. Jahrhunderts, wenn auch mit an- deren Vorzeichen, stehen. Die Sprachphilosophen der Aufklärung befinden sich, so die These, gerade im Aufbruch eines neuen und eigenständigen Verständnisses von Sprachwissenschaft. Im ausgehenden 18. und beginnen- den 19. Jahrhundert gründen sich dann die Ursprüngen der „wissenschaftli- chen Linguistik des Abendlandes“, wie Lyons sie nennt (ebd.: 23). Der Be- ginn der wissenschaftlichen Linguistik wird für die vorliegende Arbeit ent-

1 Die Diversität der Definition des Begriffs ‚Moderne’, die beispielsweise anhand des His- torischen Wörterbuchs der Philosophie nachvollzogen werden kann, veranlasst zu dem Schluss, eine eigene Definition von ‚Moderne’ liefern zu müssen, um das Bestreben der Arbeit verständlich zu machen. Für zeitgeschichtliche Definitionen von ‚Moderne’ vgl.

auch Historisches Wörterbuch der Philosophie.

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2 Vorbemerkung zur modernen Sprachwissenschaft 8 scheidend sein und zurückgekoppelt an den Begriff der ‚modernen Sprach- wissenschaft’.

Die Ursachen der Annahme, dass genau im 19. Jahrhundert der Beginn der Linguistik zu finden ist, liegen grundsätzlich in der Verbreitung evoluti- onärer Theorien und naturwissenschaftlicher Entdeckungen begründet. Das Verständnis der Evolutionstheorie fordert ein Bewusstsein für eine prozess- hafte Entwicklung von Organismen. Es folgt eine Übertragung der Evoluti- onstheorie auf weitere wissenschaftliche Disziplinen außerhalb der Biolo- gie. So übernehmen auch die Soziologie und, wie wir im weiteren Verlauf auch als Einflüsse wahrnehmen können, die Sprachforschung die Idee der Evolution als Paradigma, um Sprache nicht weiter apriorisch, sondern aus einem langen Entwicklungsprozess entstanden zu erklären.

Man beobachtete, daß alle menschlichen Einrichtungen – Gesetze, Bräuche, religiöse Übungen, wirtschaftliche und soziale Gruppen und Sprachen – einem unaufhörlichen Wandel unterlagen, und man begnügte sich nicht mehr damit, ihren Stand in einem be- stimmten Augenblick mithilfe abstrakter Prinzipien zu erklären; vielmehr bemühte man sich, einen bestimmten Zustand im Zusammenhang mit seiner Entwicklung aus einem früheren Zustand aufgrund von Anpassung an veränderte äußere Gegebenheiten zu se- hen. Die ‚providenzielle’ Geschichtstheorie aus christlicher Tradition war immer mehr infrage gestellt worden und wurde schließlich durch die evolutionären und säkularen Theorien menschlicher Entwicklung ersetzt. (ebd: 23f.)

Wie in einem Zirkel bedingen sich Säkularisierungsprozesse und naturwis- senschaftliche Erkenntnisse gegenseitig und führen auch zu methodologi- schen Entwicklungen im Gros der Wissenschaften.

In eben diesem 19. Jahrhundert verortet auch Jacob Grimm das erste Mal die Entstehung der Sprachwissenschaft. In seiner Rede vor der Berliner Akademie Über den Ursprung der Sprache sagt er: „Alle sprachstudien finden sich nun heutzutage ungleich vorteilhafter gestellt und ausgerüstet, als zu jener zeit, ja sie sind, kann man sagen, erst in unserem jahrhundert zur wahren wissenschaft gediehen“ (Grimm 1852: 6). Hier findet eine Re- flexion und Verortung der eigenen Wissenschaft statt, die mit einem voran- geschrittenen historischen Verständnis einhergeht. Grimm verweist dabei auf einen Entwicklungsprozess der Sprachwissenschaft der letzten hundert Jahre, der scheinbar auch mit der Weiterentwicklung von wissenschaftli- chen Grundlagen verbunden ist.

Für die vorliegende Arbeit ist von besonderem Interesse, die Funktion von Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache für den Entwick- lungsprozess zu einer wissenschaftlichen Linguistik hin herauszuarbeiten.

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2 Vorbemerkung zur modernen Sprachwissenschaft 9 Dazu soll nach der Vorstellung ausgewählter Sprachtheorien des 18. Jahr- hunderts zuerst der Frage nachgegangen werden, in welchem sprachphilo- sophischen Kontext sich Johann Gottfried Herders moderner Ansatz zum Ursprung der Sprache positioniert. Und wie sich dieser dann in der Entwick- lung der modernen Sprachwissenschaft situiert.

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3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 10

3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert

Das vorangehende Kapitel dient als fokussierter Überblick über die Theo- rien der Herder’schen Antagonisten Condillac und Süßmilch, um Herders Abhandlung einen ausgewählten historischen Rahmen zu ermöglichen.

Das 18. Jahrhundert bildet bekanntermaßen einen Punkt in der Geschich- te, an dem sich im Zuge von Säkularisierungsprozessen langsam wissen- schaftliche Theorien aus dem Umfeld des kirchlichen Einflusses rausschälen und autark werden. Diese Entwicklung trifft auch auf die Sprachphilosophie zu, in deren Abhandlungen und Traktaten jener Zeit deutlich zu erkennen ist, wie sehr die Wissenschaft zerrissen ist zwischen dem erklärbaren, visu- ell sichtbaren Jetzt und der Unerklärbarkeit des Ursprungs. Der Ursprung als für den Menschen ungreif- und unerfahrbarer Moment wird zum mysti- fizierten Faszinationsmoment der Sprachursprungsdiskurses. In diesem zeit- lichen Rahmen ist die Entstehung der Sprachursprungsfrage zu verorten, in dem unterschiedlichste wissenschaftliche Disziplinen eine Vielzahl von Theorien, wie der Mensch zur Sprache gekommen sein könnte, entwickeln.

Ist der eine Teil der Sprachphilosophie, wie beispielsweise bei Johann Peter Süßmilch zu erkennen, noch von dem Gedanken eines göttlichen Sprachursprungs, der in so mancher Sprachursprungstheorie durch die Ge- nesis bewiesen wird, geprägt, beginnt der andere Teil der Sprachphiloso- phen Beweise für einen natürlichen, menschlichen Sprachursprung darzule- gen.

Den Sprachursprung mit dem biblischen Genesistext zu begründen, ge- hört bereits zu einer abendländischen Tradition, die bis ins Mittelalter hin- einreicht. Die zentrale Stelle der theologischen Argumentation des Sprach- ursprungs liegt in der Passage des Schöpfungsberichtes, in der Adam die Tiere mit Namen benennt. Adam spricht hier, nachdem er lange Zeit stumm gewesen ist, das erste Wort in der Gesellschaft Evas und der Tiere. Wie Adam jedoch die Sprache erlernt, das heißt, ob er von Gott die Sprache oder eine Sprachfähigkeit zugeteilt bekommen habe, findet keine Erwähnung.

(vgl. Neis 2003: 14f.) Die zweite wichtige Passage für eine Argumentation des göttlichen Sprachursprungs ist die vom Turmbau zu Babel und der

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3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 11 Sprachverwirrung. Hatten die Menschen einst eine gemeinsame Sprache, verwirrte Gott sie zur Strafe, als die Menschen sich durch den Turmbau bis zum Himmel hinaufschwingen wollten. Durch die Sprachverwirrung ent- standen unzählige Sprachen sodass die Verständigung der Menschen unter- einander nicht weiter möglich war und auch der Turmbau aufgrund fehlen- der Kommunikationsmöglichkeit abrupt endete. Aus dieser Passage resul- tiert die bis ins 18. Jahrhundert hinein gefestigte Annahme, dass der Ur- sprung der Sprache in einer gemeinsamen Ursprache liegt.2 (vgl. ebd.: 15) An dieser These halten viele Theorien auch nach der Ablösung vom göttli- chen Sprachursprung weiterhin fest. (vgl. dazu Kap. 4)

Andere Sprachphilosophen bemühen sich um den Beweis eines rein menschlichen Sprachursprungs. Dieser Versuch kann ungewollt allerdings auch politische Aufmerksamkeit auf sich ziehen. So wird beispielsweise Etienne Bonnot de Condillac angeführt als der „schuldigste aller modernen Verschwörer“ (Ricken 1988: 288), da er den Sprachursprung einzig im Menschen zu finden sucht und nicht in einer göttlichen Instanz. Dies verlei- tet einige Kritiker seiner Zeit in ihm einen Mittäter der Französischen Revo- lution zu sehen,

weil seine Erklärung des menschlichen Sprachursprungs den natürlichen Gesellschafts- zustand als Ausdruck göttlichen Willens in Frage gestellt und damit die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft vorbereitet hatte. (ebd.: 306)

Der wissenschaftliche Zeitgeist befindet sich also nicht nur in einem Kon- flikt zwischen Wissenschaft und Kirche, sondern auch in einem politischen Widerstreit. Die ungeheure Vielfalt an Sprachursprungstheorien ist jedoch durch solcherlei Spannungen nicht aufzuhalten. Im Gegenteil: Sie scheint gerade dadurch noch ermutigt zu werden.

Im Folgenden sollen nun die Sprachursprungstheorien Etienne Bonnot de Condillacs und Johann Peter Süßmilchs als zwei Vertreter gänzlich gegen- sätzlicher Strömungen angeführt werden.

2 Neis verweist an dieser Stelle darauf, dass die Erzählung von der Völkertafel, die auch die Diversität von Sprachen thematisiert und vor der Sprachverwirrung in Babel geschah, in der Rezeption vollkommen vernachlässigt wird. Durch diese Passage müsste die „Episode von Babylon im Hinblick auf Diversifizierung der Einzelsprachen als obsolet erscheinen“

(Neis 2003: 16).

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3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 12 3.1 Condillac: Die sensualistische Sprachphilosophie

Bereits zu Beginn der Arbeit wurden kurz die Beweggründe skizziert, wa- rum Condillac als Referenz in die folgende Untersuchung eingehen wird:

Herder selbst bezieht ihn explizit in seine Kritik mit ein. Dem geht voran, dass Etienne Bonnot de Condillac im 18. Jahrhundert aufgrund seines Essai sur l’origine des connaissances humaines Bekanntheit erlangt, in dem er die sensualistische Theorie John Lockes kritisch weiterentwickelt. Er genießt außerdem in der Berliner Akademie den Status des ‚auswärtigen Mitglie- des’, zu dem er vom Vorstand der Akademie, Pierre-Louis Moerau de Mau- pertuis, ernannt wird. So erstaunt es auch nicht, dass Condillacs sensualisti- sche Sprachphilosophie ebenfalls Johann Gottfried Herder, der bestens mit der Berliner Akademie bekannt ist, ein Begriff ist und er ihr gegenüber in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache Stellung bezieht. (vgl.

Neis 2003: 74) Um Herders Positionierung gegenüber Condillacs Sprachur- sprungstheorie verständlich darlegen zu können, folgt nun eine Skizzierung der sensualistischen Sprachursprungstheorie Condillacs.

Während Herder einen genuin menschlichen Sprachursprung fokussiert und diesen innerhalb seiner Abhandlung zu beweisen sucht, schwingt in Condillacs Essay das philosophische Ergründen der menschlichen Erkennt- nis mit, wie der Titel Versuch über den Ursprung der menschlichen Er- kenntnis (2006) bereits nahelegt. Dabei verfolgt Condillac, im Gegensatz zu Herder, nicht das Herausstellen der Dichotomie zwischen Mensch und Tier, vielmehr sucht er allein aus dem Menschen heraus den Sprachursprung zu ergründen. Bezüge zur Sprache der Tiere bemüht Condillac in seiner Argu- mentationsreihe nicht, denn im Vordergrund seiner Überlegungen steht die Entwicklung der menschlichen Sprache.3 Dies wird ihm innerhalb Herders Abhandlung noch harsche Kritik einhandeln.

Condillacs Grundgedanke fußt auf der Idee, dass die Erkenntnis nur auf dem Fundament von Sinneseindrücken entstehen kann. Demnach nimmt der Mensch bereits in den ersten Augenblicken seiner Existenz die ihn umge- bende Umwelt wahr. Im Prozess der Wahrnehmung dringt die Umwelt an-

3 Herder und Condillac vertreten gänzlich unterschiedliche Auffassungen von menschlicher und tierischer Sprache. Während Herder den Tieren die Fähigkeit zur Sprache, wie der Mensch sie besitzt, abspricht, gesteht Condillac ihnen sowohl eine Seele als auch eine Art Denkvermögen und Sprachfähigkeit zu.

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3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 13 hand von Sinneseindrücken auf den Menschen ein, die dann im zweiten Schritt verarbeitet werden. Die ursprünglichen Eindrücke werden zu Ideen und Vorstellungen. Doch Vorstellungen existieren nicht separiert voneinan- der, sondern sie werden anhand der Reflexion untereinander verknüpft und in Beziehung zueinander gesetzt. In diese Überlegung fließt letztlich auch die Funktion des sprachlichen Zeichens ein: Das sprachliche Zeichen, so der Kern der Überlegung, ist notwendig, um Sinneseindrücke festzuhalten, zu kombinieren und über das Wahrgenommene zu reflektieren. Nur aus diesem Prozess heraus kann der Mensch zur Erkenntnis gelangen. (vgl. Condillac 2006: 65f.)

Eine Auseinandersetzung mit dem Ursprung der Erkenntnis fordert dem- entsprechend auch eine eingehende Beschäftigung mit dem Ursprung der Sprache. Denn erst wenn Condillac ihre Anfänge ergründet, können sich seine bisherigen Überlegungen zur Erkenntnis verdichten.

In seiner Annäherung an die Sprachursprungsfrage entwirft Condillac ein gedankliches Szenario einer vorsprachlichen Welt: Die Rolle der Protago- nisten seiner Überlegung wird durch zwei Kinder unterschiedlichen Ge- schlechts übernommen, die sich nach der Sintflut in der Wüste verlaufen haben. Markant an dieser Stelle, die Bemerkung sei erlaubt, ist, dass Con- dillac absichtlich nicht das bereits durch die Genesis vorgegebene Bild von Adam und Eva für seine Beweisführung anführt, sondern bewusst zu einem Zeitpunkt nach der Sintflut einsetzt. Adam und Eva, so seine Begründung, die erst in seinem Verweis auf Warburton deutlich wird, haben ihre Sprache durch Gott erfahren, da er sie auch die Religion lehrte. Condillac stellt die These auf, dass diese Sprache nicht über die Grundbedürfnisse hinausgeht.

Seinen philosophischen Ansprüchen, wie er selbst formuliert, genüge es nicht, sich mit der Vorstellung zufrieden zu geben, dass Sprache auf einem außergewöhnlichen Wege entstanden sei. (vgl. ebd.: 173, Fußnote 51)

Die Kinder, die sich nach der Sintflut in der Wüste verlaufen haben, sind, so Condillacs Überlegungen, räumlich voneinander getrennt und ihnen sind keine Vorkenntnisse über sprachliche Zeichen eigen. (vgl. ebd.: 173) Aus dem Aspekt der räumlichen Trennung resultiert für Condillac, dass die Kin- der zwar Wahrnehmung und Bewusstsein ausbilden, jedoch noch keine Sprache. Sprache realisiert sich erst in Verständigungsversuchen und wird

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3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 14 dementsprechend frühestens sichtbar, wenn die Kinder nicht mehr räumlich voneinander getrennt sind. Treffen sie dann aufeinander, sind ihre Handlun- gen anfangs noch instinkthaft und bedürfnisorientiert geleitet. Doch ihr Mit- teilungsbedürfnis gepaart mit Gestik und ersten Lautäußerungen führt zu ersten Verknüpfungen von Handlungen und Zeichen. Allerdings sind die Kinder zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur (Selbst-)Reflexion fähig. (vgl.

ebd.: 174f.) Erst mit der Zeit entwickelt sich eine Verstandeskraft, die nach und nach in der Lage ist, Zeichen und damit zugleich die sprachlichen Fä- higkeiten zu erweitern. Es entsteht eine erste Gebärdensprache, die sich in überschwänglichem Einsatz von Gestik und Mimik manifestiert. (vgl. ebd.:

176)

Erste Zeichen beziehen sich bald auf Dinge, die bestimmte Emotionen hervorrufen. So ist es wahrscheinlich, dass gerade gefährliche Tiere eher in die Gebärdensprache aufgenommen werden, als Objekte der alltäglich um- gebenden Welt. (vgl. ebd.: 216)

Die Menschen beginnen zur Unterstützung der Gebärdensprache auch Laute, Condillac bezeichnet sie selbst gleichermaßen als Schreie, einzuset- zen. Diese Sprache nennt er auch langage d’action. Die Lautsprache prägt sich zunehmend aus und setzt sich gegen die Gebärdensprache durch. (vgl.

ebd.) In ihrer Entwicklung schreitet sie einen ähnlichen Weg wie die Gebär- densprache ab. So werden zuerst Namen von Tieren, Flüssen und Wetterge- gebenheiten erzeugt, da diese durch Nachahmung der ihnen eigenen Laute am einfachsten widerzugeben sind. (vgl. ebd.: 181)

Die weitere Genese der Sprache – gerade im Hinblick auf ihre Diversität – ist unter anderem auch durch klimatische Bedingungen beeinflusst. Inte- ressant scheint an dieser Stelle der Aspekt, dass auch hier, in einer einheitli- chen Linie der Argumentation, die Sinneswahrnehmungen eine wichtige Rolle spielen:

Nicht in jeder Sprache entfernt sich die Prosodie gleichermaßen vom Gesang: sie sucht mehr oder weniger die Akzente, verwendet sie sogar im Überfluß oder vermeidet sie vollkommen, weil die Verschiedenheit des Temperamentes es den Völkern unterschied- licher Klimazonen nicht erlaubt, auf gleiche Weise zu empfinden. Deshalb erfordern die Sprachen je nach ihrem Charakter eine unterschiedliche Art der Deklamation und der Musik. So sagt man zum Beispiel, daß der Tonfall, mit dem die Engländer ihren Zorn ausdrücken, in Italien nur Erstaunen zum Ausdruck bringt. (ebd.: 207)

Je nach klimatischer Umgebung, das heißt auch je nach Lebensraum des Volkes, prägt sich die sinnliche Wahrnehmung anders aus. Die Entwicklung

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3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 15 der Sprache geht unmittelbar einher mit der räumlichen Umgebung.

Dadurch entsteht nicht nur eine Vielfalt von Sprachen, sondern ebenso eine Vielfalt von Wegen der Erkenntnis. Condillac bringt hiermit ein grundsätz- liches Verständnis von Erkenntnisprozessen zum Ausdruck: Erkenntnis re- sultiert aus Wahrnehmung. Durch die Übersetzung der Wahrnehmung in die eigene Sprache können abhängig von der räumlichen Dimension die Er- kenntnisse voneinander variieren. Condillac deutet an dieser Stelle auf den Zusammenhang von Wahrnehmung, Sprache und Denken in Abhängigkeit vom Lebensraum hin und verweist damit auf eine wichtige Komponente der Sprachursprungstheorie.

3.2 Süßmilch: Die theologische Sprachphilosophie

Auch Johann Peter Süßmilch setzt sich mit der Frage nach dem Sprachur- sprung auseinander. Anders als Condillac wählt er einen theologisch moti- vierten Ansatz seiner Überlegungen: Er geht von der These aus, dass die Sprache dem Menschen von Gott gegeben sei. Dieses Diktum gilt es für ihn in seiner Abhandlung zu beweisen.

Seine Argumentation geht bereits, wie der Titel Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe (1766) nahelegt, von dem Schluss aus, dass die Sprache allein durch Gott gegeben sein kann. Die Sprache, so Süßmilch, ist

„das einzige Mittel [...], zum Gebrauch der Vernunft zu gelangen [...]“

(Süßmilch 1766: 3v). Sie dient also dazu, die Vernunft gebrauchen zu kön- nen. Damit ist sie Ursache für die Vernunft, die wiederum Wirkung der Sprache ist. Wenn also Vernunft erst durch Sprache entstehen kann, kann kein Mensch die Sprache erfunden haben, denn dafür hätte er bereits Ver- nunft besitzen müssen. Dem hier auftretenden Zirkelschluss kann Süßmilch einzig durch die Argumentation einer höheren Macht, in diesem Falle in der Annahme eines Gottes, entgehen. Süßmilch ist die Problematik des Zirkel- schlusses durchaus bewusst und so versucht er, aus verschiedenen Perspek- tiven an die Frage nach dem Sprachursprung heranzutreten.

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3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 16 Auch er stellt sich, wie die meisten Sprachphilosophen, die sich mit der Sprachursprungsfrage auseinandersetzen, der gedanklichen Herausforderung einer Welt, in deren Ursprung der Mensch keine Sprache besitzt. Süßmilch reiht sich jedoch nicht in die Methodik der theologisch begründeten Sprach- ursprungsschriften ein, die den göttlichen Sprachursprung auf Grundlage des Genesistextes zu erklären suchen. Im Gegenteil, er postuliert bewusst, sich der Frage aus philosophischer Perspektive zu nähern.

Süßmilch schlussfolgert letztlich aus seinen Überlegungen, dass der sprachlose Mensch der tierischen Existenz nahestehe. Vermutet man also einen natürlichen Ursprung der Sprache und keinen gottgegebenen, so führt dies unweigerlich dazu, dass der Mensch sich aus seinen Instinkten heraus die Sprache erfunden haben muss. Dann wiederum würde sich die Sprache allerdings nicht weiter von den ebenso instinktgeleiteten Tieren abheben und beide Sprachen müssten sich in ihren Lauten ähnlich sein. Die Tiere, so Süßmilch, haben eine gleichförmige, unveränderte Sprache. Er führt als Unterstützung seiner Argumentation an, dass die Hunde in China genauso klingen wie die Hunde im deutschen Sprachraum. Die menschliche Sprache hingegen zeichnet sich durch ihre Verschiedenartigkeit aus. Aus genau die- sem Grund kann keine Sprache mit einem menschlichen, das heißt natürli- chen, Ursprung angenommen, sondern allein anhand einer göttlichen In- stanz begründet werden. (vgl. ebd.: 14)

Darauf beruhend entwirft Süßmilch letztlich seine Argumentation, wie sich die Sprache dann, ist sie einmal von Gott gegeben, entwickelt und wo- rin ihre Zwecke liegen. Dem Zweck scheint in diesem Zusammenhang eine besondere Stellung zugutezukommen, denn er appelliert an eine moralische Instanz. So formuliert Süßmilch: „Der Zweck der Sprache ist, daß man sich durch Schalle die Gedanken einander mittheile, damit man einen vernünfti- gen Umgang mit einander haben könne“ (ebd.: 20). Diese moralische In- stanz unterstützt seine göttliche Sprachursprungstheorie, denn es vermittelt den Eindruck, als wurde dem Menschen die Sprache zweckgebunden von einer göttlichen Instanz gegeben.

Ironischerweise ähnelt der Fortgang der Argumentation derer Condillacs:

Süßmilch führt aus, dass, je öfter Zeichen und Bezeichnetes miteinander in Verbindung gebracht werden, die Erinnerung daran umso leichter fällt. Dies

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3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 17 ähnelt stark dem Condillac’schen Bild der zwei Kinder, die mithilfe der Verbindung von Zeichen und Bezeichnetem dazu in der Lage sind, die lan- gage d’action auszubilden. Süßmilch nimmt also zwar einen göttlichen Sprachursprung an, scheint jedoch eher eine Art göttlich gegebene Sprach- fähigkeit zu postulieren, aus der die Sprache durch den Menschen erwach- sen muss. Weiter merkt er an, dass erst die Reflexion zur Abstraktion führt.

Die durch die Abstraktion gebildeten Begriffe sind ein Zeichen des Ver- standes und führen zu Urteilen der Vernunft:

So bald nun der Mensch sich der Zeichen zu bedienen anfängt, und zu deutlichen und abgesonderten Begriffen gelanget, so bald fängt er an aus den Orden der Thiere auszu- gehen, und ein Mensch zu werden, als dessen wesentlicher Unterschied in dem Ge- brauch der Vernunft bestehet. (ebd.: 43)

Die Vernunft bildet dann das Unterscheidungsmerkmal zum Tier. Der hier verwendete Reflexions- und Vernunftbegriff wird uns später auch bei Her- der begegnen. Es fällt auf, dass Süßmilch trotz jeglicher Abwehr gegen ei- nen menschlichen Sprachursprung scheinbar eine Sprachfähigkeit annimmt, aus der heraus der Mensch sich dann selbst die Sprache erschaffen hat. Wi- dersprüchlich scheint jedoch, dass die Sprache gerade durch ihre Vollkom- menheit Gott gegeben sein muss. Süßmilchs Schrift muss sich zwangsläufig mit der Frage konfrontiert sehen, wie eine sich entwickelnde Sprache bereits zu Beginn vollkommen sein kann, wenn sie sich eigentlich noch im Ent- wicklungsprozess befindet.

Im letzten Schritt seines Versuchs bittet Johann Peter Süßmilch seinen Beschreibungen nach zufolge einen Freund, ihm eine Argumentation für den menschlichen Sprachursprung zu offerieren. Der Freund, so Süßmilch, führt an, dass Menschen sich auch durch Nachahmung die Sprache erfunden haben könnten. Es sei denkbar, dass die ersten Menschen Hühner beobach- tet haben könnten, die mit ihrem ‚Mund’ Laute von sich geben, die wiede- rum zu einer Art Kommunikation dienlich sind. Die durch den ‚Mund’ pro- duzierten Laute probierten die Menschen dann nachzuahmen, da sie in sich die Notwendigkeit verspürten, sich mitzuteilen. (vgl. ebd.: 64ff.) Süßmilch hält diese Argumentation für wenig hilfreich. Zum einen sei der Mensch ohne Sprache nicht dazu in der Lage, zu begreifen, dass die Töne der Tiere zu einer Art Kommunikation führen. Zum anderen muss zu der Entwicklung von Sprache zuerst Vernunft bestehen, die die Dringlichkeit der Sprache

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3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 18 reflektieren kann. Nachahmung schließt letztlich auch die Entwicklung von Sprache aus und führe nur zu einem unüberschaubaren Gemisch verschie- dener nachgeahmter Tiersprachen. (vgl. ebd.: 71) Letztlich müsse sich doch die heutige Sprache in der ursprünglichen Sprache wiederfinden lassen.

Es lässt sich resümieren, dass Johann Peter Süßmilchs Argumentation auf zwei Sätzen fußt: Der erste charakterisiert die Funktion von Sprache. Er besagt: „Die Sprache ist das Mittel zum Gebrauch der Vernunft zu gelan- gen, ohne Sprache oder andere gleichgültige Zeichen ist keine Vernunft“

(ebd.: 5v). Der zweite Satz geht näher auf die vollkommenen Charakteristi- ka der Sprache ein, die ihn zu dem Schluss führen, dass der Mensch eine solch durchdachte Ordnung nicht ohne Vernunft hätte erfinden können.

(vgl. ebd.: 5 v/r) Die Argumentation, dass die Vernunft auf der Sprache auf- baue, durchzieht die gesamte Abhandlung und entkräftet jegliches Argu- ment, das sich gegen seine Theorie stellt und für die Annahmen eines menschlichen Sprachursprungs argumentiert.

Es wurde außerdem dargelegt, dass Süßmilchs Begriff von einer durch Gott gegebenen Sprache differenziert betrachtet werden muss. Es handelt sich eher um eine Art Sprachfähigkeit, die dem Menschen aufgrund seiner Vernunft zur Sprachentwicklung verhilft. Letztlich wurde dann Süßmilchs Beweisführung gegen eine Sprache der Nachahmung skizziert. Diese bein- haltete das Argument, dass der Mensch auch zu nachahmender Agitation Vernunft benötige, da sonst die Nachahmung nicht zielgerichtet und dem- nach nicht durchführbar wäre.

Im Folgenden wird nun explizit auf Johann Gottfried Herders Sprachur- sprungstheorie eingegangen. Das vorangegangene Kapitel ermöglicht zum einen eine Einordnung Herders in ausgewählte sprachphilosophische Positi- onen des 18. Jahrhunderts. Zum anderen werden diese Positionen als Ver- gleichsschriften dienen, um im Anschluss die Bewertung der Herder’schen Abhandlung im Kontext einer modernen Sprachwissenschaft herausarbeiten zu können.

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4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 19

4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachur- sprung

Eine der nachhaltigsten Auseinandersetzungen mit der Sprachursprungs- problematik erfolgt 1769 in Deutschland im Rahmen der durch die Berliner Akademie gestellten Preisfrage: „Haben die Menschen, ihrer Naturfähigkeit überlassen, sich Sprache erfinden können? Und auf welchem Wege wären sie am füglichsten dazu gelangt?“ (Ricken 1984: 302). Eine der insgesamt 31 Einsendungen stammt von Johann Gottfried Herder, dessen Abhandlung über den Ursprung der Sprache letztlich die gekürte Preisschrift wird.

Dass alles in allem 31 Schriften zur Frage des Sprachursprungs einge- gangen sind, spricht für ein außerordentlich hohes Interesse an der ‚Lösung’

des Sprachursprungsproblems. (vgl. Neis 2003: 100). Die nun immer popu- lärer werdende Perspektive eines natürlichen Sprachursprungs zieht sich durch einige der eingesandten Schriften.4 Das Aufeinanderprallen theolo- gisch und anthropologisch motivierter Sichtweisen in diesem institutionel- len Kontext der Berliner Akademie scheint ein Spiegel seiner Zeit zu sein und den Zwiespalt des 18. Jahrhunderts widerzugeben. Da das Jahrhundert sich zwischen Tradition und Moderne bewegt, soll vorab kurz skizziert werden, wie sich die Begriffe von ‚Tradition’ und ‚Moderne’ im 18. Jahr- hundert zueinander verhalten.

Um den Zeitgeist der Epoche der Aufklärung besser einfangen zu kön- nen, sei hier dargelegt, dass sich dieses Jahrhundert in einem sich verän- dernden Geschichtsverständnis bewegt. Im 18. Jahrhundert wird die Viel- zahl an Geschichten der Vergangenheit zu einer einzigen Geschichte ver- bunden. (vgl. Koselleck 1979: 142) Mit dem neu generierten Wissen über die Vergangenheit entwickeln sich zeitgleich Furcht und Neugier vor der Zukunft. Tradition wird also als etwas begriffen, das bekannt und vertraut ist, wohingegen Moderne auch immer eine Ablösung der Tradition aufgrund von Krise bedeutet und Ungewissheit mit sich bringt.

4 Für eine ausführliche Gegenüberstellung der Preisschriften vgl. auch: Neis, Cordula (2003): Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771). Berlin/New York: De Gruyter.

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4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 20 Johann Gottfried Herder reiht sich in die sich von der Tradition loslösen- de Kategorie, die anthropologisch motivierte Perspektive, ein und bejaht in seiner Preisschrift die Frage nach einem menschlichen Sprachursprung, wenngleich er auch nicht gänzlich eine göttliche Wirkmacht aus seiner Ar- gumentation verbannt (vgl. hierzu auch Kap. 4.2.3).

Im ersten Teil seiner Abhandlung entwirft Herder vor allem in Bezug auf Etienne Bonnot de Condillac, Johann Peter Süßmilch sowie Jean-Jaques Rousseau seine eigene Sprachursprungstheorie. In den Mittelpunkt rückt dabei die Frage, ob der Mensch aus seinen natürlichen Fähigkeiten heraus überhaupt Sprache erfinden konnte. Innerhalb seiner Ausführungen, dies sei vorweggenommen, kommt es zum Teil zu so starken Diffamierungen der benannten wissenschaftlichen Annahmen, dass gerade die Theorien Süß- milchs und Condillacs lange Zeit von der Sprachphilosophie unbeachtet blieben.

Im zweiten Teil dann stützt er sich auf die im ersten Teil gewonnen Er- gebnisse und zeigt anhand vierer Naturgesetze den Menschen als besonne- nes und deshalb sprachinnehabendes Wesen, den Menschen als Gesell- schaftswesen sowie die Entwicklung der Familien- und Nationalsprachen auf.

Im Weiteren erfolgt nun die Darstellung der Herder’schen Kritik an Süß- milch und Condillac, wodurch im Anschluss ex negativo Herders eigene Sprachursprungstheorie herausgearbeitet wird. Im zweiten Teil dieses Kapi- tels wird schließlich auf die drei Kernpunkte von Historizität von Sprache, Sprache als menschliches Merkmal und die theologischen Aspekte einge- gangen, die im Hinblick auf die Frage eines Paradigmenwechsels von be- sonderem Interesse sein werden.

4.1 Herders Kritik

Herder entwickelt also seine Argumentation in Abgrenzung zu bereits exis- tierenden Sprachursprungstheorien seiner Zeit. Er geht dabei im Besonderen auf Condillacs Theorie einer aus den Urlauten entwickelten menschlichen

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4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 21 Sprache sowie auf die von Süßmilch hervorgehobene göttliche Ordnung innerhalb der menschlichen Sprache ein. In seiner Kritik wird Herders Ar- gumentation dabei häufig Inkonsequenz vorgeworfen: Er verleiht seinen Kontrahenten Condillac und Süßmilch immer wieder eine Stimme innerhalb seiner eigenen Argumentation, um ihre Position zu verdeutlichen und diese im nächsten Schritt durch seine eigene These wiederum zu entkräften. Diese Methodologie spricht jedoch nicht für einen inkonsequenten Argumentati- onsgang Herders, sondern für einen starken Einbezug des Rezipienten.

Durch die Strategie des dialogischen Philosophierens verhilft er der Argu- mentation in Bewegung zu bleiben und nicht zu erstarren. (vgl. Gaier 1988:

80)

Dieses Kapitel wird im Folgenden Herders Kritik an Condillac und Süß- milch in seinem dialogischen Charakter herausarbeiten, um anschließend Herders eigenem Standpunkt Gesicht zu verleihen.

So beginnt er in scheinbarer Einigkeit mit Condillac seine Abhandlung mit der Analogie: „Schon als Thier, hat der Mensch Sprache“ (Herder 1978:

9). Die Analogie manifestiert sich in Condillacs Annahme, dass sowohl der Mensch als auch das Tier zu einem Seelenleben und ebenso zur Sprache fähig sind. Das Tier wird in Herders Formulierung als eine vorevolutionäre Stufe des Menschen angenommen. Er provoziert eine abwehrende Reaktion des Rezipienten, der sich nicht in einer Evolutionskette mit dem Tier einge- reiht sehen will. Herder kreiert absichtlich ein sympathisierenden Stand- punkt zu Condillac, um umso stärker seine eigentliche Position herausarbei- ten zu können: Er argumentiert im weiteren Verlauf für eine absolute Tren- nung von menschlicher und animalischer Lebensform. Während Condillac für ein Seelenleben von Tieren plädiert, verbirgt sich in Herders Verständnis der tierischen Lebensform ein eher mechanisch gefärbtes Weltbild.5 So schreibt er:

Selbst die feinsten Saiten des thierischen Gefühls (ich muß mich dieses Gleichnißes be- dienen, weil ich für die Mechanik fühlender Körper kein beßeres weiß!) selbst die Sai- ten, deren Klang und Anstrengung gar nicht von Willkühr und langsamen Bedacht her- rühret, ja deren Natur noch von aller forschenden Vernunft nicht hat erforscht werden können, selbst die sind in ihrem ganzen Spiele, auch ohne das Bewußtsein fremder Sympathie zu einer Äußerung auf andre Geschöpfe gerichtet. (ebd.)

5 Cordula Neis verneint die Annahme, dass Herder einem cartesianischen Tierverständnis unterliegt (Neis 2003: 565f.) Es sei dennoch angemerkt, dass der Bezug von Tier und Ma- schine zumindest auf eine Färbung der Argumentation durch ein cartesianisches Verständ- nis verweist.

(23)

4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 22 In dieser Aussage liegen drei Aspekte verborgen, die allesamt als Unter- scheidungskriterium zur menschlichen Gattung dienen sollen: Zum einen die Annahme, dass der fühlende Körper des Tieres und die durch Empfin- dungen erzeugten Laute nach einer Art Mechanik, gemeint ist wohl eine Art Zwang, funktionieren. Zum zweiten verbirgt sich hierin auch – als deutliche Unterscheidung zum Menschen – die Unfähigkeit des Tieres zur Vernunft.

Und im letzten Punkt eine Art Zusammenschluss der zuvor benannten As- pekte: Das Tier produziert trotz fehlender Vernunft Laute, die auf andere Lebewesen bezogen sind. Ob jedoch eine Art Kommunikation aus Herders Perspektive angenommen werden kann, scheint zweifelhaft, denn diese würde die Fähigkeit zur Vernunft voraussetzen.

Neben den Ausführungen zur Unterscheidung von Mensch und Tier, die, dies kann als Zwischenfazit festgehalten werden, sich in Sprache und Ver- nunft manifestieren, geht Herder aber auch auf Gemeinsamkeiten beider Lebensformen ein und tritt somit wieder in einen positiven Dialog mit Con- dillac. Mensch und Tier verbindet im Ursprung, dass ihnen das Produzieren von Lauten aufgrund von Empfindungen gemein ist. Der Unterschied liegt allerdings in den Schlussfolgerungen Condillacs und Herders. Während Condillac hierin die Ursprünge der menschlichen Sprache begründet sieht, formuliert Herder die Annahme, dass diese Sprache gänzlich von der menschlichen zu unterscheiden sei. Hier liegt eine andere Sprache vor, die nicht den Ursprung der menschlichen Sprache bildet. In den Tönen der Empfindungen sieht Herder eher „die Säfte, die die Wurzeln der Sprache beleben“ (ebd.: 12). Die Sprache der Empfindungen, aber auch die Ur- sprünglichkeit der menschlichen Sprache, erfährt bei Herder somit eine ab- solut positive Konnotation. Aus dem gerade zitierten Passus geht hervor, dass die unartikulierten Laute durchaus als kreatives Potential der späteren, menschlichen Sprache gewertet werden können. Zugleich führt Herder im weiteren Verlauf aus, dass die Sprache, je näher sie sich am Sprachursprung befindet, umso unartikulierter und kreativer wird. Er verweist auf das Heb- räische, das mehr Töne artikuliert als schreibt und sich dadurch näher am Sprachursprung befinde als andere Sprachen:

Nehmet die sogenannte Göttliche, erste Sprache, die Hebräische, von der der gröste Teil der Welt die Buchstaben geerbet: daß sie in ihrem Anfange so lebendigtönen, so un- schreibbar gewesen, daß sie nur sehr unvollkommen geschrieben werden konnte, dies

(24)

4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 23

zeigt offenbar der ganze Bau ihrer Grammatik, ihre so vielfachen Verwechslungen ähn- licher Buchstaben, ja am allermeisten der völlige Mangel ihrer Vokale. (ebd.)

Er stellt diesen Aspekt im besonderen Maße heraus und kreiert im eigentli- chen Bedürfnis, das Mystische des Sprachursprungs durch wissenschaftliche Arbeit aufzuklären, gleichzeitig wiederum eine Mystifizierung der positiv betonten Ursprachen.6 Unbewusst verweist Herder hier auf die Motivation der Sprachursprungsdebatte und unterstreicht zugleich seine Annahme, dass vor der nun bekannten menschlichen Sprache Menschen bereits eine andere Art der Sprache besessen haben.7 Hier rückt eine Periodisierung von Spra- chen in den Fokus, die später auch noch einmal bei Jacob Grimm aufgegrif- fen werden wird.

Doch Herder tritt nicht nur mit Condillacs Thesen in einen Dialog, auch Süßmilchs These eines göttlichen Sprachursprungs unterzieht sich der Her- der’schen Kritik. Herder referiert dabei auf Johann Peter Süßmilchs An- nahme, dass Sprache aufgrund ihrer vollkommenen Ordnung durch Gott gegeben sein muss. Der Mensch kann ein so durchdachtes Werk, das sich beispielsweise in der Vollkommenheit der Grammatik äußert, also nicht erfunden haben. Herder hingegen verweist darauf, dass die Zeichensysteme der Sprachen allerdings nicht dazu fähig seien, die lautliche Sprache abzu- bilden. (vgl. ebd: 16)

Beiden Sprachphilosophen zeigen dabei ein unterschiedliches Verständ- nis von Sprache und Vernunft, das sich auch in ihren Theorien manifestiert.

Während Herder den Begriff der ‚Sprache’, wenn auch nicht gänzlich kohä- rent, sowohl als innere als auch als äußere Sprache begreift, geht Süßmilch ausschließlich von einer sich äußernden Sprache aus. (vgl. Gesche 1993: 13) Daher rührt auch der Zirkelschluss seiner Schrift, der auf der Tatsache be- ruht, dass er die inneren Prozesse menschlicher Entwicklung nicht verhan-

6 Die Mystifizierung der Ursprachen resultiert aus dem Fakt, dass keine dieser Ursprachen mehr existiert. Die positive Konnotation der Ursprachen tritt besonders durch die Abwer- tung der ‚künstlichen’ Sprache in den Vordergrund:

Unsre künstliche Sprache mag die Sprache der Natur so verdränget: unsre bürgerliche Lebensart und gesellschaftliche Artigkeit mag die Fluth und das Meer der Leidenschaf- ten so gedämmet, so ausgetrocknet und abgeleitet haben, als man will; der heftigste Au- genblick der Empfindung, wo? und wie selten er sich finde? nimmt noch immer sein Recht wieder, und tönt in seiner mütterlichen Sprache unmittelbar durch Accente. (Her- der 1978: 10)

7 Für die vorliegende Arbeit scheint die Unterscheidung dieser beiden Sprachen von beson- derem Interesse zu sein. Andere Theorien gehen von bis zu sechs unterschiedlichen Spra- chen innerhalb der Abhandlung aus. (vgl. hierzu auch Gaier 1988)

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4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 24 delt. Mit dem Verständnis von Sprache und Sprachursprung äußert sich aber auch ein grundsätzlich anderes Verständnis von Vernunft beider Sprachphi- losophen: Süßmilch argumentiert auf der Grundlage, dass der Mensch erst dann Vernunft besitzt, wenn diese sich auch äußert. Herder hingegen nimmt eine bereits innere Vernunft des Menschen an, der die Sprache nicht als äu- ßeres Merkmal vorausgehen muss. Die Vernunft wird dann als Disposition des Menschen verstanden und nicht als Wirkung sprachlicher Prozesse.

(vgl. ebd.: 18)

Letztlich mündet Herders hier umrissene Kritik in der grundständigen Erkenntnis, dass der Mensch sich aufgrund seiner Disposition zur inneren Vernunft durch seine menschliche Sprache vom Tier unterscheidet. Daraus folgt, dass die Sprache des Menschen nur in ihren Unterschieden zum Tier näher untersucht werden kann, um Schlüsse auf den Ursprung der Sprache herausarbeiten zu können. Dieser Prämisse folgt Herder und entwickelt dar- aus eine eigene Konzeption der ‚Lösung’ der Sprachursprungsproblematik.

4.2 Herders Sprachursprungstheorie

Wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt worden ist, geht Herder grund- legend von der Vernunft als eine Disposition des Menschen aus, die, ähnlich wie die Entwicklung von Sprache, ein genuin menschliches Merkmal ist, denn „[d]iese Besonnenheit ist ihm charakteristisch eigen, und seiner Gat- tung wesentlich: so auch Sprache und eigne Erfindung der Sprache“ (Herder 1978: 31).

Der Ursache der menschlichen Disposition widmet sich Herder zu Be- ginn seiner Sprachursprungstheorie, in der er auf den ersten Part der Preis- frage Bezug nimmt: „Haben die Menschen, ihrer Naturfähigkeit überlassen, sich Sprache erfinden können?“ (Ricken 1984: 302). Dabei untersucht er die Unterschiede zwischen menschlicher und tierischer Lebensform, um daraus resultierend Rückschlüsse auf den menschlichen Sprachursprung ziehen zu können.

Herders Beobachtungen richten sich auf die natürliche Abfolge von Handlungsmustern bei Tieren. Sie bewegen sich in ihrem eigenen Lebens-

(26)

4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 25 raum ohne jegliches Anzeichen des Nachdenkens über die eigenen Hand- lungen. Die Bewegungsmuster sind in Herders Augen so artifiziell, dass er sie auch als „Kunsttrieb[e]“ bezeichnet (Herder 1978: 22). Der Instinkt des Tieres befähigt es, in seinem eigenen Lebensraum Gefahren zu bemerken und auf Grundlage instinktgeleiteter Handlungsmuster das Überleben der Gattung zu sichern.

Der Mensch hingegen verfügt, so Herder, von Natur aus über keinen Ins- tinkt. Seine Instinktlosigkeit macht ihn zwar freier in der Wahl seines Le- bensraumes, gleichzeitig aber auch angreifbarer als alle anderen Lebewesen.

Die Instinkt- und Schutzlosigkeit wird auf natürliche Weise durch seine Fähigkeit zur Vernunft und Sprache wieder ausgeglichen. Vernunft und Sprache befähigen den Menschen, Gefahrensituationen (wieder) zu erken- nen und vernünftig, das meint reflektiert, zu handeln. Die Vernunft ist das Merkmal der menschlichen Gattung, durch diese erst Sprache möglich wird.

Herders Argumentationsstrang bindet in das Gerüst von Sprache und Vernunft des Weiteren die Komponente der Seele mit ein. Sie bildet im Zu- sammenspiel mit dem Sinnesorgan des Gehörs die Verbindung zwischen Vernunft und Sprache und erklärt, wie erste sprachliche Zeichen entstehen:

Die tönende Welt, die den Menschen umgibt, prägt ein Abbild auf der See- le, das wiederum in sprachliche Zeichen transponiert. Er exemplifiziert ei- nen Gedankengang wie folgt: Wenn ein Kind einem Schaf begegnet, so prägt sich das Blöken des Schafes als Merkmal in die Seele des Kindes ein.

Das Kind wird das Schaf an diesem Merkmal wiedererkennen und nennt es

‚das Blökende’. (vgl. ebd.: 45)

Und an dieser Stelle beginnt in Herders Augen der Ursprung der Spra- che: Sobald sich Merkmale der Umwelt auf der menschlichen Seele abbil- den und der Mensch den Objekten seiner Umgebung Namen geben kann, ist der Grundstein der Sprache gelegt.

Der zweite Teil gliedert sich dann in vier Naturgesetze, die alle auf der Prämisse gründen, dass der Mensch ein „freidenkendes, thätiges Wesen“ ist, dessen natürliches Streben in der Progression liegt, „darum sei er ein Ge- schöpf der Sprache!“ (ebd.: 73). Unter Progression wiederum versteht Her- der durch Vernunft einsetzende Reflexionsprozesse. Dabei werden Erinne-

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4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 26 rungen bereits durchlebter Ereignisse als Referenz für zukünftige Erlebnisse herangezogen. Herder nimmt dabei grundsätzlich an, „daß nicht die mindes- te Handlung seines Verstandes, ohne Merkwort, geschehen konnte: so war auch das erste Moment der Besinnung Moment zu innerer Entstehung der Sprache“ (ebd.: 74). Die Sprache als inneres Merkmal ist folglich gleichzei- tig Ursache und Wirkung menschlicher Handlungen.

Der Prämisse, dass die menschliche Gattung nach Progression strebt, fol- gend, entwickelt er sein erstes Naturgesetz: Die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier äußert sich letztlich in der fehlenden Vernunft des Tieres.

Dieses kann sich aufgrund seines Instinktes nur sinnlich, nicht jedoch ver- nünftig erinnern. Herder resümiert, dass das Tier zwar eine bestimmte Be- wegung wie die einer schlagenden oder streichelnden Hand identifizieren, jedoch nicht reflektieren kann. Die Erkenntnis, wie es zu der anschließenden Handlung gekommen ist, bleibt aus. Die fehlende Vernunft und darauf ba- sierend auch die fehlende Reflexion stellen außerdem die Ursache für die ausbleibende Progression der tierischen Gattung dar. (vgl. ebd.: 75)

Das zweite Naturgesetz betont den sprachsoziologischen Kontext, denn Herder postuliert, dass der Mensch „ein Geschöpf der Heerde, der Gesell- schaft“ sei (ebd.: 85). Aufgrund dieser Charakteristik und seinem instinktlo- sen Wesen erscheint das Ausbilden der Sprache außerordentlich notwendig.

Herder hebt hier besonders hervor, dass der Mensch eben deswegen das hilfloseste Wesen der Natur ist, damit es aufgrund seiner Verbundenheit zur Gemeinschaft durch Erziehung ein Teil von ihr werden kann. So bildet sich eine spezielle Verbundenheit der Menschen untereinander aus, die sich dann in einer eigenen sogenannten Familiendenkart und Familiensprache nieder- schlägt. (vgl. ebd.: 87ff.) Herder verweist an dieser Stelle auf eine Art Ge- setzmäßigkeit, die sich in der Natur des menschlichen Geschlechts nieder- schlägt. Dieser Aspekt wird in Kapitel 4.2.2 unter dem Gesichtspunkt einer genuin menschlichen Sprache noch näher beleuchtet.

Das dritte Naturgesetz dann beschreibt die weitere Entwicklung des menschlichen Geschlechts, in der deutlich wird, das Progression auch Auf- spaltung des menschlichen Geschlechts in unterschiedlichen Familien be- deutet. Das Zusammenleben zu vieler Menschen innerhalb einer Gruppe forciert die Aufspaltung in mehrere kleine Gruppen. Die Familie teilt sich

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4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 27 aufgrund von entstehendem Familienhass, der aus einem Eifersuchtsgefühl aufkeimt, auf, wodurch wiederum aus den Familiensprachen eigene Natio- nalsprachen werden. Hier verbindet sich bald die neue Sprache mit anderem Denken und ebenso einer anderen Lebensart. (vgl. ebd.: 97)

Und schließlich im vierten und letzten Naturgesetz führt Herder alle be- reits benannten Aspekte noch einmal zusammen: Durch das natürliche Stre- ben nach Progression und durch Erziehung entwickelt sich in der Familie eine einheitliche Sprache sowie aufgrund der Vernunft ein Reflexionsver- mögen. Der Mensch besinnt sich darauf, dass er sich in einer Reihe von Ge- nerationen befindet und gibt sein Wissen an die nächste weiter. Nur so ist es ihm möglich, im Gegensatz zum Tier, das eigene Geschlecht weiterzuentwi- ckeln. (vgl. ebd.: 100f.)

Johann Gottfried Herders Abhandlung grenzt sich also im ersten Teil von bereits bestehenden Theorien, wie die Condillacs und Süßmilchs, ab, und entwickelt aus dieser Abgrenzung heraus seine eigene Argumentation, in Bezug auf die Frage, warum die Sprache von Menschen selbst ausgehen muss. Im zweiten Teil baut er auf dieser Grundlage ein stark anthropolo- gisch motiviertes Argumentationsgebäude auf, das Sprache im Kontext von Gesellschaft und ihrer Progression situiert.

Im Weiteren soll das historische Verständnis, das in der Abhandlung zum Vorschein kommt, beleuchtet werden. Es beinhaltet letztlich den Grundstein der Herder’schen Sprachursprungstheorie.

4.2.1 Historizität von Sprache

Da das 18. Jahrhundert stärker als die Jahrhunderte zuvor eine Einordnung seiner selbst in den geschichtlichen Kontext offenbart, ist es unbedingt not- wendig, das historische Verständnis Herders in seiner Abhandlung in den Blick zu nehmen. Die vorliegende sprachhistorische Untersuchung referiert auf das geschichtliche Verständnis der untersuchten Zeit, weshalb im Fol- genden der Begriff der Historizität in Herders Abhandlung über den Ur- sprung der Sprache untersucht werden soll.

(29)

4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 28 Eine Veränderung der Auffassung von ‚Geschichte’ und ‚Geschichtlichkeit’

steht im 18. Jahrhundert in enger Verbindung mit dem aufkeimenden Inte- resse an der Frage nach dem Ursprung der Sprache. Es soll hier allerdings nicht der Eindruck vermittelt werden, dass vor dem 18. Jahrhundert keine Auseinandersetzung mit dem Sprachursprung stattgefunden hat, doch eine solche Masse an Sprachursprungstheorien fällt im besonderen Maße in die- sem Jahrhundert auf. Dabei treffen zwei Punkte aufeinander: die Verortung des Selbst in der Geschichte und gleichzeitig – aufgrund von Säkularisie- rungsprozessen – die denkbare Möglichkeit, dass die Sprache nicht von Gott gegeben ist.

Herder verarbeitet beide Aspekte in seiner Abhandlung, dennoch soll sich vorerst auf den Begriff der Historizität gestützt werden, um danach sowohl auf die anthropologische als auch auf die theologische Perspektive in Her- ders Argumentation einzugehen.

Herders Verständnis von Sprache und Sprachursprung erweitert die sprachphilosophische Perspektive kaleidoskopartig: Bereits vorhandene sprachphilosophische Ansätze werden in eine andere Formation gebracht, sodass ein neuer historischer Ansatz entsteht. Herder sucht also nach dem Ursprung der Sprache wie bereits andere Sprachphilosophen vor und in sei- ner Zeit auch, jedoch fragt er nicht nach einem Fakt, das die Sprache be- gründet, sondern er fügt ihr eine Funktion zu. (vgl. Heise 2006: 23) Sprache als Funktion, dem Menschen das Leben in seiner Sphäre zu ermöglichen.

Sprache als Funktion, um Gedanken zu ordnen und den Menschen sich in seiner eigenen Welt verorten lassen zu können. Diese neue Perspektive auf den Sprachursprung scheint ein besonderes Novum seiner Theorie zu sein, denn Sprache benötigt in dieser Argumentation keinen mythischen Überbau, sondern sie existiert, da der Mensch existiert.

Herders Argumentationskette, so Heise, verortet den Menschen in seiner Sphäre als stummes Wesen, das aufgrund seiner ihm natürlich gegebenen Vernunft wahrnimmt, diese Wahrnehmungen durch ihre Merkmale verar- beitet, sortiert und letztlich durch die Sprache verbalisieren und in einem größeren Kontext – in seiner Welt – verorten kann. „Diese Welt hat sich der Mensch ebenso erschließen müssen wie die Sprache. Beides sind Erzeugnis- se der Vernunft, aber ihrerseits ist Vernunft an Sprache, Geschichte und

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4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 29 Empfindung gebunden“ (ebd.: 22). Das bedeutet, dass sich der Mensch nicht nur die Sprache zu Nutze macht und erfindet, um in seiner Sphäre überleben zu können, sondern dass durch Sprache, Wahrnehmung und Emp- findung auch diese Welt erst konstruiert wird. Dieser Blick auf Sprache er- öffnet der Sprachphilosophie eine neue historische und zugleich zukunfts- bezogene Perspektive, denn sich eine eigene Sprache und ebenso die eigene Welt zu erfinden bedeutet auch, sich selbst in dieser Welt zu erfinden. (vgl.

ebd.: 22f.)

Bezüglich des Konstruktionsprozesses der eigenen Welt nimmt gerade die Besonnenheit ein außergewöhnliches Glied in der Kette von Sprache, Seele und Wahrnehmung beziehungsweise Empfindung ein. Jede Handlung des Menschen ist immer die Folge von Besonnenheit. Dies bedeutet, dass die Handlung zwar nicht seiner Besinnung entsprungen sein muss, so Her- der, doch die Besonnenheit macht ihn zu dem, was er ist: zu einem Men- schen.

Konnte nun der erste Zustand der Besinnung des Menschen nicht ohne Worte der Seele würklich werden, so werden alle Zustände der Besonnenheit in ihm Sprachmäßig: seine Kette von Gedanken wird eine Kette von Worten. (Herder 1978: 77)

Dieses Vermögen, Handlungen in Worte zu kleiden und ebenfalls Gedanken in Worten auszudrücken, wie es im ersten Naturgesetz von Herder definiert wird, führt zu einem Bewusstsein von Historizität. Nur durch ein Bewusst- sein sowie die Fähigkeit zur Reflexion ist überhaupt die Möglichkeit ge- schaffen, dass der Mensch sich nicht nur in seiner ihm selbst erfundenen Welt, sondern auch in einem größeren geschichtlichen Kontext verorten kann.

Die geschichtliche Verortung seiner selbst mit dem von Herder beson- ders herausgearbeiteten Streben nach Progression sowie der Sprache und seiner Vernunft, die alle dem Menschen innewohnen, ermöglichen es über- haupt erst, dass der Mensch in einer Sphäre überleben kann.

Der Mensch teilt seine eigene Historie nun nicht mehr in ein Bewusstsein von Geschichten ein, sondern in eine Geschichte. (Koselleck 1979: 142) Es schließt sich hier die Frage an, ob der Mensch anhand des neuen Sprachur- sprungsbildes nicht auch ein neues Bild der Menschheit in ihren Ursprüngen kreiert und der umfassende Säkularisierungsprozess die Wissenschaften ergreift.

(31)

4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 30 Diese Art einer kopernikanischen Wende muss auch Auswirkungen auf die Sprachphilosophie selbst haben: Mit dem Perspektivwechsel hin zu einem funktionsbehafteten Sprachursprung scheint auch eine Fokussierung der Anthropologie innerhalb der Sprachphilosophie einherzugehen. Die meta- physische Dimension schwingt zwar noch in Herders Theorie mit, jedoch nicht, wenn es explizit um den Sprachursprung geht – dort überwiegen anth- ropologische Argumentationsreihen.

4.2.2 Sprache als menschliches Merkmal

Herders Überlegungen zur Sprache als genuin menschliches Merkmal resul- tieren aus den bisher gewonnenen Ergebnissen. Wie bereits dargelegt wor- den ist, unterscheidet Herder Mensch und Tier grundsätzlich in den Charak- teristika Triebhaftigkeit, Vernunft, Reflexionsvermögen und Sprache. Wäh- rend dem Tier die Triebhaftigkeit eigen ist, verfügt es nicht über Vernunft, Reflexionsvermögen oder eine dem Menschen ähnliche Sprache. Die menschliche Trieb- und Instinktlosigkeit hingegen wird durch seine Ver- nunft, sein Reflexionsvermögen und seine Fähigkeit, sich Sprache anzueig- nen, wieder ausgeglichen.

Die Annahme eines menschlichen Sprachursprungs unterstellt jedoch nicht, dass der Mensch von seiner Geburt an fähig ist, zu sprechen: Viel- mehr wird er als sprachloses Geschöpf geboren, das durch Empfindungs- schreie erste Versuche der Kommunikation unternimmt. Erst mit der Zeit kann der Mensch sich die Sprache aneignen, die nicht nur Laute, sondern Wort-Objekt-Beziehungen generiert und die Wahrnehmungen widergeben kann. Tieren hingegen ist ihre Sprache – die sich gänzlich von der mensch- lichen unterscheidet – von Natur aus eigen. Die Biene summt, der Vogel singt „– aber wie spricht der Mensch von Natur“? Herder beantwortet die Frage prompt: „gar nicht, so wie er wenig oder nichts durch völligen Ins- tinkt, als Thier thut“ (ebd.: 25). Dieses Postulat offenbart dem Rezipienten, wie bereits schon in Grundzügen bei Süßmilch mit der angedachten Sprach- fähigkeit und weiter ausgebaut bei Condillac deutlich wird, dass der menschlichen Sprache ein Entwicklungsprozess zugrunde liegt, der offenbar

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