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4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung

4.2 Herders Sprachursprungstheorie

4.2.1 Historizität von Sprache

Da das 18. Jahrhundert stärker als die Jahrhunderte zuvor eine Einordnung seiner selbst in den geschichtlichen Kontext offenbart, ist es unbedingt not-wendig, das historische Verständnis Herders in seiner Abhandlung in den Blick zu nehmen. Die vorliegende sprachhistorische Untersuchung referiert auf das geschichtliche Verständnis der untersuchten Zeit, weshalb im Fol-genden der Begriff der Historizität in Herders Abhandlung über den Ur-sprung der Sprache untersucht werden soll.

4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 28 Eine Veränderung der Auffassung von ‚Geschichte’ und ‚Geschichtlichkeit’

steht im 18. Jahrhundert in enger Verbindung mit dem aufkeimenden Inte-resse an der Frage nach dem Ursprung der Sprache. Es soll hier allerdings nicht der Eindruck vermittelt werden, dass vor dem 18. Jahrhundert keine Auseinandersetzung mit dem Sprachursprung stattgefunden hat, doch eine solche Masse an Sprachursprungstheorien fällt im besonderen Maße in die-sem Jahrhundert auf. Dabei treffen zwei Punkte aufeinander: die Verortung des Selbst in der Geschichte und gleichzeitig – aufgrund von Säkularisie-rungsprozessen – die denkbare Möglichkeit, dass die Sprache nicht von Gott gegeben ist.

Herder verarbeitet beide Aspekte in seiner Abhandlung, dennoch soll sich vorerst auf den Begriff der Historizität gestützt werden, um danach sowohl auf die anthropologische als auch auf die theologische Perspektive in Her-ders Argumentation einzugehen.

Herders Verständnis von Sprache und Sprachursprung erweitert die sprachphilosophische Perspektive kaleidoskopartig: Bereits vorhandene sprachphilosophische Ansätze werden in eine andere Formation gebracht, sodass ein neuer historischer Ansatz entsteht. Herder sucht also nach dem Ursprung der Sprache wie bereits andere Sprachphilosophen vor und in sei-ner Zeit auch, jedoch fragt er nicht nach einem Fakt, das die Sprache be-gründet, sondern er fügt ihr eine Funktion zu. (vgl. Heise 2006: 23) Sprache als Funktion, dem Menschen das Leben in seiner Sphäre zu ermöglichen.

Sprache als Funktion, um Gedanken zu ordnen und den Menschen sich in seiner eigenen Welt verorten lassen zu können. Diese neue Perspektive auf den Sprachursprung scheint ein besonderes Novum seiner Theorie zu sein, denn Sprache benötigt in dieser Argumentation keinen mythischen Überbau, sondern sie existiert, da der Mensch existiert.

Herders Argumentationskette, so Heise, verortet den Menschen in seiner Sphäre als stummes Wesen, das aufgrund seiner ihm natürlich gegebenen Vernunft wahrnimmt, diese Wahrnehmungen durch ihre Merkmale verar-beitet, sortiert und letztlich durch die Sprache verbalisieren und in einem größeren Kontext – in seiner Welt – verorten kann. „Diese Welt hat sich der Mensch ebenso erschließen müssen wie die Sprache. Beides sind Erzeugnis-se der Vernunft, aber ihrerErzeugnis-seits ist Vernunft an Sprache, Geschichte und

4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 29 Empfindung gebunden“ (ebd.: 22). Das bedeutet, dass sich der Mensch nicht nur die Sprache zu Nutze macht und erfindet, um in seiner Sphäre überleben zu können, sondern dass durch Sprache, Wahrnehmung und Emp-findung auch diese Welt erst konstruiert wird. Dieser Blick auf Sprache er-öffnet der Sprachphilosophie eine neue historische und zugleich zukunfts-bezogene Perspektive, denn sich eine eigene Sprache und ebenso die eigene Welt zu erfinden bedeutet auch, sich selbst in dieser Welt zu erfinden. (vgl.

ebd.: 22f.)

Bezüglich des Konstruktionsprozesses der eigenen Welt nimmt gerade die Besonnenheit ein außergewöhnliches Glied in der Kette von Sprache, Seele und Wahrnehmung beziehungsweise Empfindung ein. Jede Handlung des Menschen ist immer die Folge von Besonnenheit. Dies bedeutet, dass die Handlung zwar nicht seiner Besinnung entsprungen sein muss, so Her-der, doch die Besonnenheit macht ihn zu dem, was er ist: zu einem Men-schen.

Konnte nun der erste Zustand der Besinnung des Menschen nicht ohne Worte der Seele würklich werden, so werden alle Zustände der Besonnenheit in ihm Sprachmäßig: seine Kette von Gedanken wird eine Kette von Worten. (Herder 1978: 77)

Dieses Vermögen, Handlungen in Worte zu kleiden und ebenfalls Gedanken in Worten auszudrücken, wie es im ersten Naturgesetz von Herder definiert wird, führt zu einem Bewusstsein von Historizität. Nur durch ein Bewusst-sein sowie die Fähigkeit zur Reflexion ist überhaupt die Möglichkeit ge-schaffen, dass der Mensch sich nicht nur in seiner ihm selbst erfundenen Welt, sondern auch in einem größeren geschichtlichen Kontext verorten kann.

Die geschichtliche Verortung seiner selbst mit dem von Herder beson-ders herausgearbeiteten Streben nach Progression sowie der Sprache und seiner Vernunft, die alle dem Menschen innewohnen, ermöglichen es über-haupt erst, dass der Mensch in einer Sphäre überleben kann.

Der Mensch teilt seine eigene Historie nun nicht mehr in ein Bewusstsein von Geschichten ein, sondern in eine Geschichte. (Koselleck 1979: 142) Es schließt sich hier die Frage an, ob der Mensch anhand des neuen Sprachur-sprungsbildes nicht auch ein neues Bild der Menschheit in ihren Ursprüngen kreiert und der umfassende Säkularisierungsprozess die Wissenschaften ergreift.

4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 30 Diese Art einer kopernikanischen Wende muss auch Auswirkungen auf die Sprachphilosophie selbst haben: Mit dem Perspektivwechsel hin zu einem funktionsbehafteten Sprachursprung scheint auch eine Fokussierung der Anthropologie innerhalb der Sprachphilosophie einherzugehen. Die meta-physische Dimension schwingt zwar noch in Herders Theorie mit, jedoch nicht, wenn es explizit um den Sprachursprung geht – dort überwiegen anth-ropologische Argumentationsreihen.