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Vorstellungen und Erwartungen Niemöllers an die neue Landeskirche

I. VORBEDINGUNGEN ZUR GRÜNDUNG DER EKHN

3. M ARTIN N IEMÖLLER

3.1 Vorstellungen und Erwartungen Niemöllers an die neue Landeskirche

Für eine Reformation der evangelischen Kirche kämpfte Martin Niemöller seit 1934. Er forderte im Oktober 1934 von der Bekenntnissynode der DEK in Berlin-Dahlem: „Wir müssen darauf bestehen, dass die Rechtsnachfolge in der Bekennenden Gemeinde liegt und dass sie die rechtmäßige Kirche ist.“369 Als der Rat der DEK jedoch im November gestürzt wurde, trat Niemöller aus dem Reichsbruderrat aus. Diesen Schritt verteidigte er vor den Mitgliedern des Pfarrernotbundes: „Meine Meinung heute ist noch die, dass die Bekennende Kirche (…) ihren durch Barmen und Dahlem vorgezeichneten Weg unbeirrt gehen muss (…); denn die Rettung der Kirche wird in der Gemeinde und nicht im Kirchenregiment entschieden.“370

Auf Niemöllers Veranlassung erklärten 49 Notbundpfarrer am 30. Juli 1935:

„Geboten ist uns das klare, kompromisslose Nein gegenüber jedem Versuch, die Kirchenfrage im Widerspruch zu den Entscheidungen von Barmen und Dahlem zu lösen.“371

Es sollte auch nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft noch dauern, bis Niemöller an der Reformation der evangelischen Kirche bzw. nun ihrer Neuordnung mitwirken konnte. Ende April 1945 konnte er das KZ verlassen, nach Hause allerdings ließ man ihn noch nicht: Die SS transportierte ihn zusammen mit etwa 150 weiteren Häftlingen von Dachau nach Südtirol. Es ist davon auszugehen, dass zumindest ein Teil der Gefangenen liquidiert werden sollte, aber die SS traute sich vermutlich nicht, den Tötungsbefehl auszuführen. Nach wenigen Tagen wurden die Gefangenen zunächst durch deutsches, dann amerikanisches Militär befreit. Dieses brachte Niemöller zu ihrem Hauptquartier nach Neapel, wo er sechs Wochen bleiben musste. Schmidt nennt diese Zeit eine

„Gefangenschaft ohne Ketten“372. Niemöller sehnte sich nach seiner Familie und

369 Besier et al.: Treysa, S. 9.

370 Ebd., S. 9f.

371 Ebd., S. 10.

372 Vgl. D. Schmidt: Martin Niemöller (1983), S. 172.

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seiner Heimat. Von Neapel aus wurde er schließlich gemeinsam mit anderen ehemaligen „Sonderhäftlingen“ über Versailles nach Frankfurt gebracht, wo die meisten ihrer Wege gehen durften. Niemöller transportierte man jedoch erst einmal nach Wiesbaden und ließ ihn hier erst nach vier Tagen in einem

„Interrogation Camp“, einem Lager für Verhöre, nach konsequentem Hungerstreik am 20.6.45 frei.373 In Frankfurt traf er mit Asmussen zusammen und beide machten sich auf den Weg nach Bayern. In Leonie am Starnberger See kam er wieder mit seiner Familie zusammen. Allerdings hatte die Familie schon längere Zeit nichts von den beiden im Krieg kämpfenden Söhnen gehört und auch den Kontakt zur Tochter Brigitte verloren. Der zweitjüngste Sohn Johannes befand sich zwar seit 1944 in russischer Gefangenschaft, wurde aber als Sohn eines berühmten Vaters bevorzugt behandelt und hatte seinem Vater über Radio Moskau zur Befreiung gratulieren können. Martin Niemöller hatte sehr darunter gelitten, seine Familie nicht um sich haben zu können; sein Familienleben hatte für ihn immer große Bedeutung.374 Zudem trafen verschiedentliche Angriffe aus Deutschland und auch aus Amerika, die ihm Nähe zu Hitlers Nationalsozialismus unterstellten, den physisch wie geistig sehr erschöpften Niemöller tief, so dass er sich kurzzeitig in ein Sanatorium zurückzog.

Kurz nach seiner Ankunft am Starnberger See im Bistum München erhielt Niemöller in seinem familiären Übergangsquartier den Besuch des Bischofs Hans Meiser. Martin Niemöller und er unterhielten sich über das Verhältnis der beiden Kirchen untereinander in der Zeit nach Hitler. Meiser zeigte kein Interesse an einer Vereinigung der deutschen evangelischen Kirchen. Er war mehr daran interessiert, die lutherischen Kirchen, die sich mit calvinistischen Gemeinden vereinigt hatten, von diesen zu trennen, so dass eine große lutherische Kirche entstehe, an deren Spitze er möglicherweise eines Tages treten könnte. Von diesem Gespräch berichtete Niemöller später, Meiser sei ein „intoleranter und unbeirrbarer Lutheraner“375. Auf seine Bemerkung, dass man Karl Barth für den Wiederaufbau der evangelischen Kirchen brauchen werde, habe Meiser entgegnet,

373 Vgl. EKHN: 50 Jahre EKHN, S. 205.

374 Zwei ihrer sieben Kinder hatten Niemöller und seine Frau also verloren. Niemöllers adoptierten später zwei Kinder und nachdem seine erste Frau Else 1961 gestorben war, heiratete Niemöller 1971 Sybille von Sell, die er schon seit ihrer Schulzeit kannte.

375 Vgl. M. Niemöller in einem Gespräch mit James Bentley, in: Bentley: Martin Niemöller, S. 204.

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er, Niemöller, müsse doch „zugeben und anerkennen, dass wir den Katholiken näher stehen als den Calvinisten.“376 Er habe „Dankeschön“ gesagt und ihn hinausbegleitet. Hier kam Meisers grundsätzliche Abneigung gegen die Calvinisten zum Ausdruck.

Machtpolitische Schachzüge dieser Art empfand Niemöller als empörend. Für ihn war es nicht die Zeit konfessioneller Auseinandersetzungen, war er doch während seines gesamten Kampfes gegen Hitler und den Nationalsozialismus dafür eingetreten, Spaltungen innerhalb des deutschen Protestantismus zu überwinden um zusammen das große Ziel einer gemeinsamen evangelischen Kirche zu erreichen. Sein Bestreben war also schon während der Zeit des Nationalsozialismus konträr zu Meisers Plänen gewesen, und Meiser hätte seine Pläne auch jetzt gerne durchkreuzt.377

Otto Dibelius war sogar davon überzeugt, dass es Meiser in Wirklichkeit nach dem Sturz Hitlers darum ging, ein völliges Auseinanderfallen der vereinigten Kirchen herbeizuführen. Auf jeden Fall dachte Meiser nicht daran, sich in irgendeiner Weise für den von Niemöller angestrebten Wiederaufbau der Kirchen im Sinne und in der Tradition der Bekennenden Kirche zu verwenden.378

Niemöller stand den Vertretern der amtlichen Kirchen mit großem Misstrauen gegenüber. Er bezweifelte, dass „die evangelische Kirche aus sich heraus zu einem wirklichen Neubeginn fähig wäre“379 und warnte den Aliierten Kontrollrat,

„eine Nichteinmischung begünstige die gefährlicheren Neutralen („still more dangerous neutrals“), die mittlerweile in viele führende Positionen der Kirche aufgerückt seien.“380. Er fürchtete, dass sie die Kirchen mit einer ähnlich

„neutralen“ Einstellung leiten würden wie in der Hitlerzeit. Sein Hinweis richtete sich auch gegen die Bischöfe Meiser und Wurm. In der bayerischen Kirche, so führt Niemöller aus, habe man den Maßnahmen des NS-Regimes mehr oder weniger zugestimmt; in Württemberg sei man nach anfänglicher Zustimmung erst langsam zu einer ablehnenden Haltung gekommen. Eine Erneuerung könne

376 A.a.O.

377 Vgl. Bentley: Martin Niemöller, S. 204.

378 Vgl. v.a. a.a.O.

379 Benad: Wir klagen an, S. 183.

380 A.a.O.

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deshalb nur von den Bruderräten ausgehen.381 Somit komme es darauf an, dass die Bekennende Kirche eine Chance bekomme, die sie gegenwärtig nicht habe. „Ich bin überzeugt, dass der Weg der Bekennenden Kirche die einzige Möglichkeit bietet, auf evangelisch-kirchlicher Seite zu einer wahrhaften Neugestaltung des geistlichen Lebens in unserem Volk zu führen.“382 Hieraus spricht die Überzeugung, dass „die von einer Minderheit im Kirchenkampf gewonnenen Vorstellungen von der Ordnung der Kirche (…) ohne Weiteres auf die volkskirchliche Realität angewendet werden“ könnten.383

Auch Niemöller dachte über die kirchliche Neuordnung nach. Das Kirchliche Einigungswerk Wurms hatte 1943 dreizehn Leitsätze für seine künftige Arbeit aufgestellt, die nach Niemöllers Empfinden zu allgemein gehalten waren. Im Protokoll zur Bruderratstagung in Frankfurt ist aus Niemöllers Ansprache zum 21.

August 1945 festgehalten: „Die 13 Sätze hätten auch vor einigen hundert Jahren gesagt sein können. Nichts zum Heute gesagt, und jeder konnte herauslesen, was er wollte, und es verpflichtete niemanden. Also das Einigungswerk schon von vornherein verfehlt.“384

Niemöller selbst zählte sich noch nicht gleich zu den mit der Einigung betrauten Kirchenführern. Seine Hoffnung waren die kompromisslosen BK-Theologen, die bereit gewesen waren für ihre Haltung existenzielle Opfer zu bringen. Dies traute er nicht allen BK-Vertretern zu, die am Kirchlichen Einigungswerk mitarbeiteten.

In einem Memorandum für die US-Militärbehörden erklärte er, die Bekennende Kirche sei die Kirche der Front gewesen. Deshalb „müssten die Besatzungsmächte angegangen werden, uns die jungen antinazistischen Bekenntnispfarrer freizugeben, die noch in den Kriegsgefangenenlagern sitzen.“385 Niemöller stellte sich also statt eines Konzepts „von oben“ eine Neuordnung „von unten“ vor.

Tatsächlich hatten bereits in allen Landeskirchen, in denen eine Neubildung der Kirchenleitung notwendig geworden war, Vertreter der Bruderräte gemeinsam mit

381 Eingabe von Niemöller an den Alliierten Kontrollrat vom Juni 1945, zitiert nach Benad a.a.O.

382 D. Schmidt: Martin Niemöller (1983), S. 179.

383 Dienst: Erinnerungen eines Zeitzeugen und Zeitgeschichtlers, S. 246.

384 Protokoll von Otto Kröhnert, S. 6, zitiert in Besier et al.: Treysa, S. 88 (Dok. 11).

385 Besier et al.: Treysa, S. 11.

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Vertretern der „Mitte“ provisorische Kirchenleitungen gebildet.386 Niemöllers Anspruch, die Kirchenleitungen allein durch Vertreter der ehemaligen Bruderräte zu besetzen, sah Otto Dibelius, der neugewählte Bischof von Berlin und Brandenburg, als zu weitgehend an. „Die alleinige Verantwortung zu tragen, dazu ist der Kreis zu klein und hat viel zu wenig Persönlichkeiten mit geistlicher Führungsqualität.“387

Niemöller fühlte sich von diesen Entwicklungen etwas enttäuscht. Während er das gemeinsame Abendmahl in der Zelle von Dachau als Vorbild christlicher Bruderschaft empfunden hatte, sah er in einem Rückgriff auf die Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts die Gefahr einer Aufspaltung der evangelischen Christenheit:

„Die Bekenntnisse der Reformation, vorab die lutherischen Bekenntnisse, reichen heute einfach nicht mehr aus, weder um die Einheit, noch um die Zerstreuung der Kirche zu begründen (…). Da soll man uns mit dem Worte Gottes kommen und nicht mit 1529!“388 Zwar fühlte sich Niemöller selbst als Lutheraner. Aber seine Aussage, dass die Bekenntnisse der Reformation nicht ausreichten, wiederholte er unermüdlich immer wieder. Einen Ausschließlichkeitsanspruch eines Bekenntnisses, das aus unterschiedlichen geistigen Quellen schöpft, sich dabei aber auf Luther beruft, wollte er keinesfalls anerkennen.389 Seiner Ansicht nach war ein Protestant, der über Luther nachdenkt und es wagt, Kritik zu üben, dem Geist des Reformators näher als jemand, der Martin Luther zum Inhaber der alleinigen Wahrheit erhebt.390

Niemöllers Traum von einer Kirche, bei der die Mitgliedschaft nicht nur auf der Bereitschaft beruht, die Kirchensteuer zu entrichten, sondern auf wirklichem religiösem Engagement jedes einzelnen Gläubigen, erwies sich als realitätsfern.

Es gelang Meiser zwar nicht, die protestantischen Kirchen erneut zu spalten, aber die Lutheraner schweißte er tatsächlich zu einem imposanten Machtblock zusammen.391 Er hatte einen energischen Widersacher in dem württembergischen

386 Vgl. Benad: Protestant, S. 183.

387 Vgl. O. Dibelius am 17.7.1945 an Martin Niemöller, zitiert nach Benad: Wir klagen an, S.

183.

388 D. Schmidt: Martin Niemöller (1983), S. 180.

389 Vgl. a.a.O.

390 Vgl. ebd., S. 181.

391 Vgl. Bentley: Martin Niemöller, S. 204.

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Landesbischof Theophil Wurm. Diesem lag daran, im Sinne seines Kirchlichen Einigungswerkes auch innerhalb des deutschen Protestantismus ein möglichst breites Spektrum zu erreichen und einzubeziehen.392 So lud der greise Wurm alle erreichbaren Kirchenführer für den 27. August 1945 zu einer Konferenz in die hessische Stadt Treysa ein393. Niemöller erzählte seinem Biographen James Bentley, er sei erstaunt gewesen, Theophil Wurm an der Spitze einer Einigungs-bewegung zu sehen. Er habe sich nicht vorstellen können, dass es für Wurm wirklich eine höhere Autorität als den Staat geben könnte. Aber er charakterisierte ihn auch „als einen mutigen Mann, der über Pastoren der Bekennenden Kirche, die in die Schusslinie der Nazis geraten waren, seine schützende Hand gehalten hatte“394.

Für die neue Landeskirche wünschte sich Niemöller eine Zusammenarbeit aller protestantischen (Sonder-)Konfessionen. Unter den Gemeinden der neuen Landeskirche waren nicht nur „eine Vielzahl ehemals selbständiger Territorien mit einer jeweils speziellen kirchengeschichtlichen Entwicklung“

zusammengefasst, sondern es waren auch alle reformatorischen Bekenntnisse vertreten. „Ihr Bild ist ebenso von sehr unterschiedlicher Gestaltung wie von einem starken ökumenischen Willen beherrscht.“395 So schien der Weg zu dem Ziel einer Gesamtkirche noch weit; „die Gräben (waren) so breit und tief, als habe es nie ein „Barmen 1934‟ gegeben“.396

Als die Aktivitäten zur Neuordnung der Evangelischen Kirche einsetzten, war Niemöller trotz seiner Erschöpfung und einer gewissen Mutlosigkeit, die sich seiner ab und an bemächtigte, war Niemöller voller Unruhe und Tatendrang und wollte die Neuordnung selbst mit anpacken. Während seiner Eröffnungsansprache der Bruderratstagung in Frankfurt sagte er:

„Es kann durchaus sein, dass ich heute in Ihrer Mitte als ein Anachronismus stehe, als eine Art zum Leben zurückgekehrter Leichnam. Wenn es so ist und ich Sie nicht überzeugen kann, dann will ich versuchen, still beiseite zu treten und ohne eigenes Dazwischengreifen zuzusehen, was unser Herr mit der Kirche in unserm Volke vorhat; wenn es aber anders ist, dann will ich die Kräfte, die mir noch geblieben

392 Vgl. Benad: Wir klagen an, S. 183.

393 Siehe auch Kap. II. 1.

394 Bentley: Martin Niemöller, S. 204.

395 Helmut Hold in Steitz: Geschichte der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, S. V.

396 D. Schmidt: Martin Niemöller (1983), S. 180.

115 sind, gerne und ganz dafür einsetzen, dass wir wieder den Weg unter die Füße bekommen. Das ist freilich der Wunsch und das Gebet meines Herzens, weil ich nicht glauben kann, dass es ein anderer und nicht der Heilige Geist gewesen ist, der uns damals vor 12 Jahren in seinen Dienst nahm und zum Werke rief.“397

Niemöller war davon überzeugt, dass es seine persönliche Aufgabe war, sich für die Neuordnung der Kirche einzusetzen. Es ist kaum vorstellbar, dass er selbst es für möglich gehalten hätte, „still beiseite zu treten“ und „zuzusehen“. Sein Wunsch, das Nötige anzupacken, erwies sich als ungebrochen.