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I. VORBEDINGUNGEN ZUR GRÜNDUNG DER EKHN

1. K IRCHENORDNUNG UND K IRCHENVERFASSUNG

1.2 Kirchenordnungen in Hessen

Landgraf Philipp der Großmütige versuchte 1529, im Marburger Religionsgespräch Luther und Zwingli zu einigen. Sein Ideal war ein europäischer Bund gegen den katholischen Kaiser. Wann immer er in die Angelegenheiten der Kirche eingriff, vertrat er die Einheit des Protestantismus und rief zur Hilfe für unterdrückte Glaubensbrüder auf.35 Er strebte zwar in seinem Land Lehreinheit im Sinne der Reformation an, sah aber die Confessio Augustana (nachfolgend CA) nicht als allgemein verbindliches Bekenntnis und führte sie nicht in Hessen ein. Erst 1567 wurde sie dann schließlich doch für verbindlich erklärt - aber mit der Einschränkung der Wittenberger Konkordie, in der gegenüber der CA vor allem die Abendmahlslehre im Sinne von Bucer und Melanchthon so formuliert wurde, dass sich die wittenbergische und die zwinglisch-oberdeutsche Tradition dort wiederfinden konnten.

34 Vgl. Kall et al.: Kirchen im Dritten Reich, S. 1.

35 Vgl. Heynemann: Philipp, Landgraf von Hessen, (Bd. 5, S. 332), S. 25368, und: Müller:

Philipp, Landgraf von Hessen, RGG4, Bd. 6, S. 1270.

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In die frühen hessischen Kirchenordnungen (1539), die Straßburger Kirchenordnung und in die Kölnische Reformation haben im Wesentlichen theologische Gedanken des Reformators Martin Bucer Eingang gefunden. In Hessen war Bucer nach Adam Krafft der zweite Reformator. 1539 wurde mit der Ziegenhainer Zuchtordnung die Konfirmation eingeführt, die zum Vorbild für alle evangelischen Kirchen wurde.

Das im Augsburger Religionsfrieden und später auch im Westfälischen Frieden niedergelegte Rechtsprinzip „Cuius regio, eius religio“ verstand Philipp als Möglichkeit zur Loslösung der Glaubensfrage aus der Aufsicht Roms und sah es unter den Schutz des Landesherrn gestellt: Er achtete die Gewissensentscheidung des Einzelnen. So kam es zu einer Krise im Verhältnis zwischen vielen Gläubigen und der Kirche. Dennoch setzte Philipp nicht durch, wozu er autorisiert war, sondern er und Martin Bucer waren daran interessiert, die Krise allein durch Information und Belehrung zu überwinden.36

Nach dem Tod Philipp von Hessens 1567 wurde die Landgrafschaft geteilt.

Obwohl sich die hessischen Kirchen 1574 noch eine gemeinsame Kirchenordnung gaben, entwickelten sie sich in der Folgezeit auseinander. In Hessen-Kassel nahmen unter Einfluss des Herrscherhauses etliche Gemeinden das reformierte Bekenntnis an; an der Universität Marburg wurde die reformierte Linie maßgeblich gelehrt.

Die Kirchenordnung von 1574, die aus einem Auszug einer 1566 vorgelegten Kirchenordnung bestand und in Hessen-Darmstadt 1662 und 1724 erneuert wurde37, sah als geistliches Aufsichtsamt Superintendenten vor, für die kirchliche Ordnung war die Synode zuständig. Die Generalsynode wurde von sechs Superintendenten, zehn Pfarrern und einigen Räten gebildet, die einzelnen Diözesen wurden durch Spezialsynoden unter der Leitung ihres jeweiligen Superintendenten vertreten.38

Als Reaktion auf die unterschiedliche Entwicklung in Hessen gründete Darmstadt 1607 die lutherische Universität Gießen als Landesuniversität.

36 Vgl. Heynemeyer: Philipp, Landgraf von Hessen, RGG3, S. 25368 (Bd. 5, S. 332).

37 Vgl. Dienst: Kleine Geschichte der EKHN, S. 17.

38 Vgl. a.a.O.

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Darmstadt und insbesondere die Universität Gießen entwickelten sich in der Folgezeit zu Hochburgen der lutherischen Orthodoxie.

Unter napoleonischem Einfluss wurde 1803 die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt in ein Großherzogtum umgewandelt, das dem Rheinbund beitrat. 1816 wurde es nach der Niederlage Napoleons um die Provinz Rheinhessen erweitert. Da es insbesondere in Rheinhessen eine große Zahl reformierter Gemeinden gab, bemühte man sich anlässlich des 300-jährigen Reformationsjubiläums 1817 um eine Union zwischen Lutheranern und Reformierten. Die Erfolge hierbei blieben gering. Hilfreich wäre die Unterstützung des Großherzogs Ludwig I. gewesen, dieser hatte jedoch andere Interessen. Auch außerhalb Rheinhessens gab es zwar einzelne Gemeinden, die sich zu einem Unionsbekenntnis entschlossen, die Mehrheit aber blieb lutherisch oder reformiert. 1832 wurde für alle Gemeinden ein gemeinsames Oberkonsistorium in Darmstadt gebildet. Auch dieses brachte lediglich die organisatorische Einheit der Konfessionen.

Die Rheinisch-Westfälische Kirche gab sich 1835 eine Kirchenordnung mit presbyterial-synodalen Elementen, die zu einem Vorbild für die hessische Landeskirche wurde: Wie auf Dekanatsebene Dekanatssynoden eingerichtet wurden, entstanden auf Gemeindeebene Gemeindevertretungen und Kirchenvorstände. Die kirchliche Gesetzgebung lag bei der Landessynode,

"Summus episcopus" blieb hier der Landesherr. An dieser Kirchenordnung orientierte sich in Hessen eine verfassungsgebende Landessynode, die in Folge der 1848er-Bewegung 1873 zusammentrat. 1874 wurde ihr Verfassungsentwurf mit Genehmigung des Großherzogs vorgelegt und übernommen.

In dieser ersten Kirchenverfassung Hessens wurde das Verhältnis zum Staat so bestimmt, dass sich Kirche und Staat voneinander abgrenzten; anders als beim rheinisch-westfälischen Vorbild wurde die Verbindung der Kirche mit dem Landesherrn im Summepiskopat gelöst. Kirchenverfassungen regelten nun Ordnung und Verwaltung der Kirche. Die Kirche galt als öffentliche Körperschaft, der Staat übte ihr gegenüber Schutzrecht und Schutzpflicht aus. So

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hatte die evangelische Kirche in Hessen ihr eigenes Recht, mit dem sie sich selbst verwaltete - etwas bis dahin Unbekanntes.39

Das Bekenntnis lag nach wie vor bei der Gemeinde, so dass es innerhalb der Gemeinschaft Gemeinden mit unterschiedlichen Bekenntnissen gab. Dies fand in der hessischen Kirchenverfassung von 1874 darin Ausdruck, dass kein klares Bekenntnis festgelegt wurde und dies auch 1922 und 1949 nicht geschah, wenn man auch ab 1947 versuchte, in die Grundlage der Landeskirche ein allgemeines Bekenntnis einzubinden (s.u. zur Barmer Theologische Erklärung und zum Grundartikel der Kirchenordnung der EKHN). Das höchste Amt in der Verfassung von 1874 war das des Prälaten, ein geistliches Amt.

Der Erste Weltkrieg brachte große Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge mit sich, deren Auswirkungen sich auch im Bereich der Kirche und des Glaubens zeigten. Vor allem durch die Blockade seitens der Siegermächte ab 191840 und die daraus resultierende Hungersnot und Armut auf der einen und die vielen Gefallenen und die Sorge um die noch nicht entlassenen Kriegsgefangenen auf der anderen Seite befand sich das Volk in einer großen Notlage. Nicht nur im Gebiet der heutigen EKHN versammelten sich in dieser Zeit die Gläubigen in den Gottesdiensten, ohne dass unterschiedliche Bekenntnisse noch von Belang gewesen wären: Mit großer Selbstverständlichkeit kam man als „evangelische Christen“ zusammen. In dieser nach Jahrhunderten plötzlich veränderten Grundhaltung kam der allen gemeinsame Wunsch nach Zuflucht und Anleitung zum Ausdruck.41

In dieser Zeit kamen Überlegungen zu einer kirchlichen Neuordnung auf: Über Bekenntnisgrenzen hinweg plante man einen Verbund, dessen Benennung dem Phänomen Ausdruck verleihen sollte: eine „Volkskirche“, die die höchsten Werte vermittelt und die Gläubigen helfend in Krisensituationen und an Wendepunkten des Lebens begleitet42, oder sogar zusammen mit den anderen Landeskirchen eine

„Nationalkirche“.43 Man empfand eine starke Gemeinschaft über die alten

39 Vgl. Steitz: Die Rechtsgrundlage der evangelischen Kirche in Hessen, Artikel 39, S. 43f.

40 Politischer Umsturz: 21.11.1918.

41 Vgl. Steitz: Geschichte der EKHN, S. 451.

42 Vgl. Dienst: Aus der Anfangszeit des GKA, S. 37.

43 Vgl. Steitz: Geschichte der EKHN, S. 452.

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Grenzen hinweg.44 So wurde 1922 in Wittenberg der Deutsche Evangelische Kirchenbund gegründet (s.o.).45

In der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.8.1919 war festgelegt, dass keine Staatskirche bestehe (Art. 137). Mit dem Wegfall des landesherrlichen Kirchenregiments hatte die evangelische Kirche erstmalig die Möglichkeit, ihr Kirchenrecht ihrem wirklichen Wesen entsprechend zu gestalten, gestützt auf Bibel und Bekenntnis. Denn mit der Möglichkeit der Neuordnung der Kirche fiel zeitlich eine Neubearbeitung der reformationstheologischen Grundlagen des evangelischen Glaubens zusammen. Als federführende Theologen müssen hier Karl Holl, Karl Heim, Karl Barth und Rudolph Bultmann genannt werden. Sie entwickelten die bisherige Vorstellung von Kirche weiter, indem sie sich entschieden von der mehrheitlich anthropozentrischen Theologie des 19.

Jahrhunderts abwandten. Karl Holl (1866-1926) befasste sich eingehend mit Luthers Religions- und Gottesverständnis, das er als „Gewissensreligion“ ansah, und stellte Luthers Rechtfertigungslehre in den Mittelpunkt der Theologie. Eines der größten Bestrebungen Karl Heims (1874-1958) war es, den christlichen Glauben, den er durch die neuzeitlichen Geistesströmungen und Weltbilder angefochten sah, auf eine sichere Grundlage zu stellen. Auch Karl Barth (1886-1968) fand Gottes Wort für den Menschen allein in der Bibel bezeugt und studierte sorgfältig die altkirchliche Dogmengeschichte und die Reformatoren.

Rudolf Bultmann (1884-1976), bis in die zwanziger Jahre hinein ein Vertreter der liberalen Theologie, befasste sich mit der Exegese der neutestamentlichen Schriften. Mit Barth und anderen Vertretern der dialektischen Theologie stimmt er damit überein, dass der Mensch Gott nicht aus eigener Kraft erkennen könne, sondern Gott sich dem Menschen nur aus seiner Gnade heraus in der Offenbarung zu erkennen gebe. Diesen vier Theologen war es ein Anliegen, dass die Über-lieferung und Verkündigung des Neuen Testamentes im Zentrum des kirchlichen Lebens und der kirchlichen Arbeit für die Gläubigen zu stehen habe.46 Diese Haltung musste sich natürlich auch in der Kirchenordnung widerspiegeln.

Die kirchlichen Oberbehörden übernahmen ihre Aufgabe, eine Kirchenordnung zu entwickeln, sehr gewissenhaft und bewiesen großes Verantwortungsbewusstsein.

44 Vgl. ebd., S. 453.

45 Vgl. ebd., S. 453 und S. 520.

46 Vgl. ebd., S. 570, u. ö.

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Hinzu kam, dass das Preußische Staatsministerium am 8.4.1924 sein

„Staatsgesetz, betreffend die Kirchenverfassungen der evangelischen Landeskirchen“ verkündete, nach dem die Verpflichtung aufgehoben wurde, dass alle „Änderungen früherer kirchengesetzlicher Bestimmungen einer staatlichen Genehmigung“47 bedurften - bis dahin hatte man bei Änderungen vor ihrem Inkrafttreten die Bestätigung durch das Staatsministerium abwarten müssen.48 In den Jahren 1919 bis 1925 entstanden in 26 der 28 evangelischen Landeskirchen Kirchenverfassungen.49

Zufrieden mit ihren selbst gegebenen Kirchenordnungen herrschte innerhalb der Kirche weitgehend Ruhe, die erst mit dem Infragestellen der Lehrgrundlagen durch die Deutschen Christen gestört wurde.

Im Bereich der heutigen EKHN werden die drei dortigen Kirchen in kirchenpolitischer Hinsicht in der Literatur mitunter so charakterisiert: Die Hessen-Darmstädtische Landeskirche sei eine etwa in der Mitte anzusiedelnde

„Heimat-Kirche“, in der die Kirche auf ihrer geschichtlichen Tradition aufbauend möglichst gegenwartsnah gestaltet sein sollte, bei der Nassauischen handele es sich um eine eher rechts orientierte „Gemeinde-Kirche“50, in der das Bekenntnis bestimmende Bedeutung hatte, und die Frankfurter Landeskirche stehe für eine eher links angesiedelte „Laien-Kirche“, in der sich das mündig gewordene Volk nicht an die von den Pfarrern vertretenen Überlieferungen und Bekenntnisse binden sollte.51

Trotz ihrer Verschiedenheit planten diese drei Kirchen schon Mitte der zwanziger Jahre einen Zusammenschluss. Die Unterschiede wogen angesichts der Tatsache nicht schwer, dass sie sich aufgrund der gemeinsamen Erfahrungen und Erfordernisse in ihrem Interesse und Bemühen einig waren, die Zugehörigkeit zum am 1922 gegründeten „Deutschen Evangelischen Kirchenbund“ zu pflegen.

47 Ebd., S. 477.

48 Vgl. ebd., S. 478.

49 Vgl. ebd., S. 551.

50 Vgl. ebd., S. 495: „Die kleinste kirchenpolitische Gruppe – die Linke – errang in Nassau den größten Einfluss; das hatte der Wiesbadener Pfarrer Martin Schmidt erreicht.“

51 Vgl. Braun: Definition, Leitung und Aufbau der Gemeinde, S. 36, und: Steitz: Geschichte der EKHN, S. 453.

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1.3 Kirchenordnungen als Vorgänger-Ordnungen von 1922 auf dem Gebiet