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Urs Altermatt

Seit einiger Zeit mehren sich in der Schweiz die Stimmen, die vom Ende des helvetischen Sonderfalls sprechen. Am Ende des 20. Jahrhunderts geht in unserem Land eine Epoche dem Ende zu, in der die Schweizer die poli­

tisch-kulturelle Eigenart ihres Landes als Antithese zur europäischen Um­

welt heraushoben. Die fortschreitende europäische Integration, der zuneh­

mende materielle Wohlstand der westlichen Länder sowie die Festigung der demokratischen Ordnung lassen die Schweiz zum europäischen Nor­

malfall werden. Dazu kommen innere Identitätskrisen (Sprachenprobleme und Kopp-Affäre sind nur zwei Beispiele), die das Gefühl der helvetischen Malaise verstärken. Kann sich die Konkordanzdemokratie in dieser Situa­

tion noch halten?

Die schweizerische Konkordanzdemokratie baut in endogener Perspek­

tive auf dem Proporzdenken auf, das seit der Epoche der Reformation und Gegenreformation ein Strukturelement der eidgenössischen Politik dar ­ stellt. Ohne den «freiwilligen Proporz» wäre nicht die Garantie geboten gewesen, dass die konfessionellen und sprachlichen, politischen und sozia­

len Minderheiten im politischen System einigermassen gerecht zu Wort gekommen wären.

Das Proporzsystem setzt die interne Organisation der Minoritäten vor­

aus. Auf der (partei)politischen Ebene spielen die weltanschaulichen

«Milieus» eine zentrale Rolle, die die schweizerische Gesellschaft von 1850 bis 1950 verklammert und ihr eine ausserordentliche Kohäsion gegeben haben.

Schauen wir kurz in die Geschichte zurück. Die langen Wirtschaftswel­

len, die seit 1800 die Modernisierung des Landes vorantreiben, prägten das politische System. Die erste Welle führte von de r Zeit der Französischen Revolution mit dem Wendepunkt um 1815 bis zur Mitte des W.Jahrhun­

derts; die zweite mit dem Wellenscheitel von 1873 in die 1890er Jahre; die dritte mit der Wendezeit von 1914 bis zum Zweiten Weltkrieg; und die vierte schliesslich von 1940/45 über den Wellenscheitel von 1967/1973 bis in die Gegenwart hinein. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstan­

den die drei klassischen weltanschaulichen Milieus des Freisinns, des politi­

schen Katholizismus (Christdemokratie) un d der Sozialdemokratie.

War die Zeit vo n 1830 bis 1880 von kulturkämpferischen Konflikten zwischen dem Freisinn und dem politischen Katholizismus geprägt, verlor

das Kulturkampf-Paradigma nach der Mitte der 1880er Jahre an Bedeutung.

Freisinn und politischer Katholizismus näherten sich einander an und bilde­

ten in der Abwehr des Sozialismus ein Defensivbündnis. D ie freisinnig­

konservative Sammlungsbewegung führte 1891 zum Eintritt des ersten Christlichdemokraten in die freisinnig beherrschte Landesregierung. Die klassenkämpferischen Spannungen verstärkten nach der Jahrhundert­

wende von 1900 den Bürgerblock. Von 1900 bis Mitte d er 1930er Jahre prägte das Klassenkampf-Paradigma die Politik. I n den dreissiger Jahren zeichnete sich ein Konstellationswechsel ab. Sozialdemokraten u nd Bür­

gertum rückten unter dem äussern Druck des Faschismus vom Klassen­

kampf ab und bildeten einen nationalen Schulterschluss. Das neue Para­

digma der Konkordanz führte zu einer proportionalen Machtverteilung. In der Krisenzeit des Zweiten Weltkrieges trat 1943 der erste Sozialdemokrat in den Bundesrat ein. 1959 kam die heutige Zauberformel-Regierung zu­

sammen, die eine Allparteien-Koalition mit zwei Freisinningen, zwei Christlichdemokraten, zwei Sozialdemokraten und einem Vertreter der SVP brachte.

Für die Interpretation der modernen Schweizergeschichte ist es bedeutungsvoll, dass die drei weltanschaulichen Milieus den Bürgern ermöglichen, die politischen Fragen durch den Spiegel des jeweiligen Milieus zu sehen. Diese Interpretationshilfe führte zu einer Vereinfachung der komplexen Gesellschaftsordnung. In dem Masse, in dem sich die moderne Gesellschaft partikularisierte und die nationale Identität aus­

einanderbrach, wurden die Milieus zu wichtigen sozialpsychologi schen Klammern. Anders formuliert: Es brauchte die Ghetto-Mentalität der Milieus, um die einzelnen Minderheiten gleichsam kulturseparatistisch voneinander abzugrenzen. Die Milieus schufen vor 1960 ideologische Grenzen, damit sich die Mitglieder der drei Blöcke voneinander unterschei­

den konnten. Wie ich in meinem Buch «Katholizismus und Moderne»

(1989) aufgezeigt habe, bauten die drei weltanschaulichen Blöcke eine eigentliche Sondergesellschaft; auf, die dadurch funktionierte, dass sich die Mitglieder äusserst diszipliniert verhielten. Als sich die nationale Gesellschaft nach 1874 zentralisierte, entwickelten sich die Milieus zu eigentlichen Säulen, die die schweizerische Gesellschaft trugen. Ohne die intermediäre Funktion der Milieus zwischen Zentralstaat und gesell­

schaftlichen Fragmentationen und Formationen wäre die moderne Schweiz kaum zustande gekommen. Die Disziplin de r Basismitglieder ermöglichte es den Eliten, auf d er Ebene der Spitzen Kompromisse aus­

Urs Altermatt

zuhandeln, die den Modus vivendi zwischen den Sondergesellschaften zum Ziel hatten.

Der sich seit den späten 1960er Jahren abzeichnende Erosionsprozess der traditionellen Bindungen deutet auf einen Paradigmawech sel hin, der zu einem langsamen Zusammenbruch der trad itionellen Säulen fuhrt. Die geographische und soziale Mobilität, die der Modernisierungsschub nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst hatte, zerstörte die sozialen Grundlagen der Milieus. Damit geht eine lange Epoche dem Ende zu. Seit Mitte der sechziger Jahre zeichnet sich ein eigentlicher Umgruppierungsprozess ab.

Offen bleibt die Frage, ob es sich um einen normalen Zyklus in der Wellen­

bewegung der Industriegesellschaft oder um eine historische Wende han­

delt. Auch wenn das neue Paradigma vorläufig diffuse Konturen aufweist, steht eines fest: Die Sozialform der Milieus, die sich über alle sozioökono-mischen Wellenbewegungen hinweg von 1850 bis 1950 halten konnte, befindet sich in einem Auflösungsprozess.

In dem Masse, in dem die Milieus den einzelnen Bürgern nicht m ehr Orientierungshilfen in der komplex gewordenen Welt zur Verfügung stel­

len, nimmt die Unsicherheit und Desorientierung zu. Die Zahl der Wech­

selwähler steigt an. Damit beginnt das Lager der Regierungsparteien zu­

sammenzuschmelzen. Die 70 %-Grenze (= Summe der Wahlprozente von FDP, CVP, SPS und SVP) kann man als kritischen Punkt für den Weiterbe­

stand der heutigen Zauberformel in der Schweiz ansehen.

Fazit: Mit dem Zusammenbruch der Milieus zerfäl lt ein wesentliches Element des Konkordanzsystems. Man kann von einer eigentlichen Desta-bilisierung des Systems sprechen. Die Entideologisierung fördert nicht die Konkordanz; im Gegenteil, sie vergrössert in ihrer letzten Konsequenz die Polarisierung an den Rändern der Konkordanz. Der Druck auf die Kon­

kordanz erhöht sich.

Nun zu den exogenen Faktoren. Die Schweiz hatte in der bisherigen Ge­

schichte das Glück, nationale Integrationskonflikte im Vergleich zum umlie­

genden Europa ungleichzeitig durchzuleben. So fanden in der Schweiz die konfessionellen Bürgerkriege nicht zur selben Zeit wie im übrigen Europa statt. Während des Dreissigjährigen Krieges von 1618-1648 machte die Eid­

genossenschaft eine verhältnismässig ruhige Periode durch. Im W.Jahrhun­

dert hatte sich die mehrsprachige Schweiz bereits stabilisiert, als der Natio­

nalismus zentrifugale Kräfte auslöste. Im Ersten Weltkrieg blieb der Staat neutral, auch wenn die Welsch- u nd die Deutschschweizer mit unter­

schiedlichen Kriegsparteien sympathisierten. Unter der Bedrohung des

Faschismus gelang es der Schweiz, den internen Zusammenhang im Zei­

chen der geistigen Landesverteidigung zu fördern, so dass die ideologische Konkordanz schliesslich auf der politischen Ebene zur Allparteien-Regie-rung führte. Die Phase des Kalten Krieges förderte die innere Integration. In einem gewissen Sinne war der Kalte Krieg die Rahmenbedingung, um die Proporz- und Konkordanzdemokratie zu perfektionieren. Wenn man von der ausgegrenzten Minderheit der kommunistischen PdA absieht, besass die Mehrheit der Schweizer ein geschlossen antikommunistisches Weltbild.

Erst die osteuropäischen Revolutionen des Jahres 1989 lösten die tradi­

tionellen Feind- und Bedrohungsbilder auf. Da der äussere Druck nach-liess, lockerte sich der innere Zusammenhalt. Stärker als die inneren Krisen (Kopp-Affäre, Staatsschutzkrise usw.) bedroht langfristig der Wandel der gesamten europäischen Ordnung die politische Stabilität der Schweiz. Die eu­

ropäische Integration zwingt das Land, vom alten Sonderfall-Denken Abschied zu nehmen und sich als Normalfall in den Fluss der gewandelten europäischen Geschichte einzuordnen. Es ist anzunehmen, dass die Schweizer ähnlich wie die Osteuropäer in einer Krisensituation zuerst für den Wohlstand und nicht für versunkene ideologische Feindbilder votieren würden. Wenn die Neutralität in Europa funktionslos geworden ist, ist ihr Fortbestand gefährdet. Sollte sich die Frage «Wohlstand o der Isolationis­

mus?» als realpolitische Alternative stellen, ist kaum zu zweifeln, dass sich die Schweizer für die materielle Wohlfahrt entscheiden werden.

Wenn sich die endogenen und die exogenen Faktoren gegenseitig ver­

stärken, ist nicht auszuschliessen, dass sich auch die Institutionen des politi­

schen Systems rascher - als bisher angenommen - verändern. Vom Kolle­

gialsystem der Regierung bis hin zur bestehenden Zauberformel gerät dann vieles in Fluss. Wenn die europäischen Entwicklungen in beschleunigtem Tempo voranschreiten, kann das politische System in der bisherigen Form kaum überleben. Es kann durchaus sein, dass vor dem Ende des Jahres 2000 wichtige Traditionen, die wir in der Schweiz bisher als Tabus betrach­

tet haben, fast sang- und klanglos zusammenfallen. Zauberformel und Konkordanz, Kollegialsystem und extensive Referendumsdemokratie werden in vermehrtem Masse als Eigenarten des helvetischen Regierungs­

systems in Frage gestellt. Das ist für viele Schweizer ein schmerzlicher Pro-zess, denn niemand nimmt von der eigenen Geschichte gerne Abschied.

Die Zeit des europäischen Sonderfalls Schweiz geht - so sieht es wenigstens 1989 aus - allmählich vorbei. Die Schweiz normalisiert u nd europäisiert sich. Oder helvetozentrisch ausgedrückt: Europa verschweizert sich. Das ist dann aber sicher das Ende des Sonderfalles Schweiz.

Hans Peter Fagagnini

Integration und Partizipation im politischen System