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Die letzte Gruppe von Bemerkungen ist nicht theoretischer oder methodi­

scher Natur. Sie bezieht sich vielmehr auf die Einschätzung von an sich empirisch beobachtbaren Fakten. Hans Geser stützt seine Theorie vorwie­

gend auf illustrative Beispiele, die der schweizerischen politischen Land­

Diskussionsbeitrag

schalt entnommen sind. In wenigstens drei Punkten sehe ich die schweize­

rische politische Realität etwas anders als er.

1) Der erste Punkt, in dem sich unsere Einschätzungen nicht decken, betrifft die Nutzung der personellen Ressourcen. Zwar trifft es zu, dass das Rekrutierungsfeld für politisch-administratives Führungspersonal in Kleinstaaten prinzipiell schmaler ist als in bevölkerungsstarken Ländern.

Hingegen stimmt es wenigstens auf Bundesebene in der Schweiz nicht (mehr), dass die Konkordanz zu einer besseren Auswahl der politisch­

administrativen Eliten führe. In der engeren Bundesverwaltung be­

wirken die verschiedenen Proporzregeln vor allem, dass fähige junge Leute aus dem Staatsdienst abwandern, weil ihnen dort keine Karriere­

planung angeboten wird. Das ist deshalb nicht möglich, weil man im entscheidenen Augenblick nicht auf Fähigkeit und Eignung, sondern auf Parteizugehörigkeit, Muttersprache und regionale Herkunft achtet.

Damit werden zwar vielleicht in der Tat breitere Kreise einbezogen.

Ob es sich dann auch um eine qualitative Elite handelt, ist eine andere Frage.

Die zahllosen Gremien und Interventionspunkte in den extraparlamen­

tarischen Entscheidungsprozessen machen einen hohen Organisations­

grad der Interessengruppen und Verbände notwendig. Je ausgeprägter neokorporatistische Aushandlungsmechanismen eingesetzt werden, desto mehr politisches Führungspersonal wird auf Seiten der Interessen­

organisationen gebunden. Konkordante Strukturen sind personal­

intensiver als der reine Lobbyismus in Konkurrenzmodellen. Gerade Kleinstaaten könnten es sich an sich nicht leisten, so viele Führungskräfte in die Entscheidfindung auf politischer Ebene einzubinden. Das gilt insbesondere für föderalistische Bundesstaaten, in denen es auf drei Ebe­

nen wichtige Positionen im politisch-administrativen System zu besetzen gilt. Die schweizerische Situation zeichnet sich jedenfalls überhaupt nicht durch eine optimale Rek rutierung der politisch-administrativen Eliten aus. Die konkordanzmässige und föderalistische Ausdifferenzierung hat vielmehr dazu geführt, dass Führungspositionen immer häufiger nicht mehr mit geeigneten Persönlichkeiten besetzt werden können. Das gilt nicht zuletzt auch für die milizmässig zu versehenden Ämter.

2) Ein zweiter Punkt, in dem sich die Einschätzungen der Lage nicht decken, betrifft das nach Geser mangelnde stabilisierende Eigengewicht der Verwaltung. Dieser These zufolge dürfte die schweizerische

Bundesverwaltung keine genügende Stabilität gewährleisten. Wer einige Zeit als teilnehmender Beobachter und als beobachtender Teilnehmer diese Verwaltung kennengelernt hat, ist ob dieser Folgerung erstaunt.

Entweder ist in diesem Punkt die Theorie nicht anwendbar, weil in der Schweiz die Kleinstaatlichkeit gesprengt wird, oder die schweizerische Bundesverwaltung ist ein atypischer Fall. Jedenfalls ist sie wohl eines der beharrendsten Elemente im Regierungssystem auf Bundesebene. Noch schwerer von Neuerungen zu überzeugen ist höchstens noch das Volk.

Ohne oder gar gegen die Verwaltung geht in Bern wenig.

3) Eine letzte Nuance in der Beurteilung betrifft die Konfliktminimierung.

Hier ist nicht zu bestreiten, dass die konkordante Schweiz seit 1950 er­

folgreich die Schwelle des Konfliktausbruchs höher gelegt hat als andere Staaten. Hingegen gewinnt die These an Bedeutung, dass seit etwa 1980 neue Konflikte aufgebrochen sind, die sich nicht in Konkordanzverfah­

ren werden lösen lassen. Vielmehr werden sie wie Geser auch antönt -so grundsätzlicher Natur sein, dass eine offene Konfliktaustragung un­

umgänglich wird. In der Verkehrs-, Energie- und Umweltpolitik ist dies bereits abzusehen. Neue Fronten sind gesteckt. Der nächste Bereich, der konkurrenzmässig aufgebrochen werden dürfte, ist die Agrarpolitik. Die Sicherheits- und die Neutralitätspolitik sind mit zunehmender europä­

ischer Integration ebenfalls in diesen Sog geraten. Das hat nun aber kei­

neswegs zwingend zur Folge, dass die Schweiz ihr Konkordanzmodell verabschieden wird oder gar dass sie - weil Konflikte in Kleinstaaten offenbar so schwer zu ertragen seien - in die Brüche gehen wird. Die ent­

scheidende Folge wird sein, dass während einer Ubergangszeit die im System durchaus angelegten Konkurrenzelemente ein etwas stärkeres Gewicht erhalten werden. Es stehen der Schweiz ein paar heisse und emotionale Abstimmungsschlachten und möglicherweise zwei oder drei polarisierende Wahlen ins Haus, bis ein neues Gleichgewicht gefunden sein wird. Dann werden die Konkordanzstrukturen möglicherweise wieder ihren Dienst versehen können.

Dies führt zu einem relativ optimistischen Schluss: die Schweiz wird diese Konflikte - auch als Kleinstaat - aushalten und beilegen. Dies wird ihr gelin­

gen, nicht weil sie als Kleinstaat so gut beraten war, ein Konkordanzmodell entwickelt zu haben, sondern weil der Mix der Institutionen es erlaubt, ein­

zelne Konflikte zu minimieren, andere zu verdrängen, einzelne Konflikte aber auch auszutragen und beizulegen. In Kleinstaaten ist nicht einfach

Diskussionsbeitrag

Konkordanz gefragt. Entscheidend ist eine angemessene Mischung v on Konkordanz- und Konkurrenzelementen, auf die das politische System je nach Sachfrage und politischer Konstellation zurückgreifen kann. Dieser optimale Mix kann nicht in jedem Staat und in jeder Situation der gleiche sein. Politikwissenschafder werden deshalb stärker ausdifferenzierte Typo­

logien für politische Systeme bereitstellen müssen, um die Realitäten theo­

retisch besser in d en Griff zu bekommen.

Gesers Versuch, eine allgem eine Theorie der Konkordanzdemokratie zu entwickeln, wurde als elegant und anregend gewürdigt. In der Diskussion wurden zum einen theoretische Einwände und Differenzierungen formu­

liert und zum andern empirische Illustrationen zu zentralen Kategorien und Argumentationsfiguren Gesers vorgetragen.

Anton Pelinka kn üpfte an die Gegenüberstellung von exklusiven und inklusiven Systemen an und argumentierte, die den inklusiven Systemen zugeschriebene «niedrige Profilierung der Politik» gelte nur für die Eliten.

Es gehöre gerade zur Dialektik von Konkordanzsystemen, dass die Eliten eine niedrige Profilierung der Politik betrieben, diese aber vor der eigenen Basis verheimlichten. Solle die Loyalität der Basis erhalten bleiben, müsse diese an die hohe Profilierung glauben, was stabile Feindbilder voraussetze.

Nach aussen werde folglich eine Uberdramatisierung von Politik betrieben.

Werde dieser Widerspruch aufgedeckt, so würden dadurch Loyalitäten untergraben und Legitimationsprobleme heraufbeschworen. Ferner machte Pelinka darauf aufmerksam, dass die Parteien in diesen Systemen an den Rändern des politischen Spektrums geringe Integrationskraft: be-sässen. Dadurch würden Angriffe von aussen auf das Machtkartell ermu­

tigt.

Lehmbrüch bezweifelte, «dass es einen zwingenden Zusammenhang zwischen Rollendifferenzi erung, Rollenkumulation und inklusiven poli­

tischen Regimen gibt». Da Rollendif ferenzierung nach der soziologischen Theorie ein Entwicklungsphänomen sei, müsste man zeigen können, «dass höher entwickelte Kleinstaaten stärker dazu tendieren, inklusive politische Systeme... zu entwickeln» als Kleinstaaten in der Anfangsphase ihrer Ent­

wicklung. Hierfür sehe er jedoch keine empirische Evidenz. Linder führte die Untersuchungen von Windisch zu Walliser Gemeinden als Beleg dafür an, dass es in kleinen Gesellschaften der Schweiz auch ganz andere Politik­

muster geben könne. Dort bestehe ein System von Familien-Clans, die sich zumindest in Wahlzeiten heftig bekämpften. Der politische Konflikt werde dabei zwar in erster Linie auf der symbolischen Ebene ausgetragen, doch erlaube dies auch, dass Konflikte, über die im Konkordanzsystem geschwiegen werde, mit zum Austrag kämen. Unter Berufung auf den Bei­

trag von Klöti warf Kreile das Problem der Grösse auf und meinte, dass das elitensoziologische Argument Gesers auf Gemeinden vielleicht eher anwendbar sei als auf Kleinstaaten von mehreren Millionen Einwohnern.

Zusammenfassung der Diskussion

Altermatt hob die Fragmentierung einer Gesellschaft als Faktor für die Ent­

stehung von Konkordanzsystemen hervor. Der Fall des Kantons Jura zeige, dass die Verweigerung von Konkordanzpolitik letztlich zur Separa­

tion führen könne. Hätte der Kanton Bern, so seine These, rechtzeitig fran­

zösischsprachige, katholische und der CVP angehörende Nordjurassier in die Regierung integriert, wäre es nicht zur Bildung des Kantons Jura gekommen. Geser äusserte dazu, dass Fragmentierungen, die zur Entste­

hung struktureller Minderheiten führen, wohl Konflikte produzieren, die in kleineren Systemen weniger tragbar oder kontrollierbar sind als in grossen.

Wenn man die Frage der Grösse komplexer behandle, finde man vielleicht optimale Bedingungen für Konkordanz bei intermediären Grössenordnun-gen.

Bezüge zwischen dem Erklärungsmodell Gesers und der österreichi­

schen Situation stellte Peter Gerlich her. In der österreichischen Diskussion setze sich immer mehr der Gedanke durch, «dass Konfliktvermeidung um jeden Preis eigentlich kontraproduktiv ist». Helga Michalsky zeigte die Anwendbarkeit des Geserschen Ansatzes für Liechtenstein auf. Hier werde in der Tat eine Steigerung der Legitimität durch möglichst breite Mitwir­

kung erzielt. Ebenso lasse sich eine ausgeprägte Tendenz zur Konfliktver­

meidung beobachten. Ihr Hinweis auf die auch in Liechtenstein wirksamen Ausschliessungsmechanismen der Konkordanzdemokratie wurde von Herbert Dachs aufgegriffen, der nach den Eintrittshürden für neue poli­

tische Gruppierungen fragte und in diesem Zusammenhang auch die Struktur des Medienbereichs ansprach. Geser machte darauf aufmerksam, dass Konkordanzsysteme eine Selbstorganisation von Gruppen auf der Basis vertikaler Binnendifferenzierung voraussetzen. Weil basisdemokra­

tische Organisationen damit Schwierigkeiten hätten, seien für sie auch die Zugangsschwellen höher. Klöti argumentierte, dass Zugangsschwellen vor allem auch f ür die ausserparlamentarischen korporatistischen Stru kturen bestehen. Zutritt zu diesem Bereich gewinne eine Gruppe in der Schweiz dann, wenn sie ihre Referendumsfahigkeit beweise bzw. demonstriere,

«dass sie den einmal gefundenen Kompromiss über das Referendum emp­

findlich stören kann».

Im Rückblick auf die Geschichte des schweizerischen Konkordaiizsy-stems betonte Fagagnini, dass in den Gemeinden ursprünglich die «gröss-ten und gröbs«gröss-ten Kämpfe» ausgetragen wurden. Erst nachdem sich Kon­

kordanzmuster auf kantonaler und auf Bundesebene herausgebildet hätten, seien diese auch auf die Gemeinden übertragen worden. Die These von der

Rollenkumulierung wollte er für die Schweiz relativiert wissen. Anders als etwa in der Bundesrepublik Deutschland, wo der Kanzler auch Parteivor­

sitzender sein könne, sei es in der Schweiz undenkbar, dass ein neugewähl­

ter Bundesrat Parteipräsident bleibe. Das Unbehagen an der Konkordanz­

demokratie ist nach Fagagnini nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass alle wichtigen politischen Kräfte an der Macht beteiligt sind und daher Fehl­

entwicklungen und Mängel nicht einer Regierungspartei, sondern dem System als Ganzem angelastet werden.

Liechtenstein: Konkordanzdemokratie