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im politischen System der Schweiz

3. Von den Funktionen der Volksrechte im heutigen Politiksystem

Ist die Funktion des Gesetzesreferendums eine ganz andere geworden als es den seinerzeitigen Protagonisten vorschwebte, so gibt es einen wichtigen Bereich, in dem das Plebiszit weit weniger mediatisiert werden kann, auch mehr von seinem ursprünglich intendierten Charakter unmittelbarer Mit­

wirkung behalten hat. Es handelt sich um Verfassungsfragen, in denen die Volksabstimmung zwingend vorgeschrieben ist. Dabei sind zwei Situatio­

nen zu unterscheiden:

4 Zur näheren Begründung der These: Wolf Linder, Entwicklung, Strukturen und Funk­

tionen des Wirtschafts- und Sozialstaats in der Schweiz, in: Handbuch Politisches System der Schweiz I, Bern 1983, 255 ff.

5 Dazu vor allem: Peter J. Katzenstein, Corporatism and Change: Austria, Switzerland and the Politics of Industry, Ithaca 1984.

- Schlägt die Bundesversammlung z. B. die Übernahme einer neuen Bun­

desaufgabe oder eine Änderung der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen vor, so hat die Volksabstimmung auf jeden Fall den Charakter plebiszitärer Nachentscheidung, in der Zustimmung zum institutionellen Lösungsvorschlag gesucht wird.

- Gelangt eine Volksinitiative zur Abstimmung, so handelt es sich in der Regel um Vorstösse gering organisierter Oppos itionsgruppen, die im Konkordanz-Kompromiss zu kurz kommen. Die Träger der Konkor­

danzpolitik schlagen sich dabei gegen das Volksbegehren, Regierung und Parlament immer, Verbände und Parteien mehrheitlich.

Das obligatorische Verfassungsreferendum als Behördenvorschlag oder als Volksinitiative sind dah er von unterschiedlicher Bedeutung.

a) Zur Volksinitiative

Sie hat zunächst kaum grundlegende soziale Umwälzungen erbracht. Auch hier gingen Erwartungen des 19. Jahrhunderts nicht auf. Schrieb der Sozial­

reformer Bürkli 1869 mit Blick auf die Volksrechte: «Das Volk wird in der Freiheit den rechten Weg zur sozialen Erlösung schon instinktmässig füh­

len, eben weil es die Leiden tagtäglich empfindet, die ihm nötigen Ansporn auch geben, die Ursache und Abhilfe der Not kennen zu lernen», so will dieses Volk davon 25 Jahre später wenig wissen: Die erste Volksinitiative

«Recht auf Arbeit», eingereicht von den Sozialdemokraten und eine Vor­

läuferin keynesianischer Wirtschaftspolitik, wird wuchtig im Verhältnis 4:1 verworfen. Auch später bleibt der direkte Erfolg der Volksinitiativen mit rund 10% gering, trotz der Annahme einiger bedeutsamer Begehren wie die Einführung des Proporzwahlrechts oder der Eingrenzung des Dringlichkeitsrechts.

Indessen vermag die Volksinitiative indirekte Wirkung zu erzielen.6 Dies gilt zunächst für die Thematisierung dessen, was politisch bedeutsam und wichtig ist. Zwar steht das Initiativrecht nur für Verfassungsfragen offen.

Niemand kann aber hindern, dass die Errichtung von Wanderwegen durch den Bund oder die Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen über die Volksinitiative zur Verfassungsfrage, mithin also zu einer Frage grösster

6 Näheres bei: Hans Werder, Di e Bedeutung der Volksinitiative in der Nachkriegszeit, Bern 1978, sowie: Jean-Daniel Delley, Mythe et realite de la democratie directe, le cas de rinitiative populaire, Geneve 1977.

Wolf Linder

politischer Wichtigkeit gemacht wird. Die Volksinitiative ist damit ein Instrument des «agenda setting», gelegentlich aüch gesellschaftlicher Frühwarnung; sie kann Probleme wenigstens thematisieren, die das Kon­

kordanzsystem ausfiltert o der nicht wahrnimmt. Sodann vermag h art­

näckige Opposition, selbst wenn ihre Initiativen eine nach der andern ver­

worfen werden wie diejenigen der Uberfremdungsgegner, institutionelle Politik nachhaltig zu beeinflussen: Die Konkordanzkräfte präsentieren ab­

geschwächte Gegenvorschläge und versuchen damit gleichzeitig, den oppositionellen Gruppen den Wind aus den Segeln zu nehmen.7

Freilich ist gegenwärtig vie l Wind aus verschiedensten Richtungen zu spüren: Die plebiszitäre Öffnung des Systems h at das Aufkommen, die Mobilisierung und die Thematisierungsfähigkeit neuer sozialer Bewegun­

gen in der Schweiz früh und stärker als in andern europäischen Länd ern ermöglicht.8 Die gleichzeitig zu beobachtende Destabilisierung des Systems der klassischen Milieuparteien, aber auch der Umstand, dass Volksinitiati­

ven auf kantonaler Ebene weit erfolgreicher sind9, lassen vermuten, dass die Wirkungen basisdemokratischer Anstösse künftig auch zunehmen könn­

ten oder dass ihr Wirkungspotential bisher zumindest nicht voll ausge­

schöpft wurde.

b) Das obligatorische Verfassungsreferendum als Plebiszit für Behörden­

vorlagen

Es leuchtet ein, dass Verfassu ngsvorlagen der Behörden den Stempel des allseitigen Kompro misses tragen. Die Verhandlungssituation unter den Konkordanzpartnern ist allerdings in einem Pun kt verschieden, wenn es nicht um Gesetzes-, sondern Verfassungsvorlagen geht: Das Referendum findet in jedem Fal l statt. Es fehlt darum in pluralistischen Verhandlungs­

mustern das gemeinsame Interesse an der Vermeidung des Plebiszits, und

7 Ferner kann auch die Volksinitiative als Verhandlu ngspfand gebraucht werden, indem Initianten aufgrund eines angebotenen Gegenvorschlags des Parlaments die Initiative zu­

rückziehen. Dazu: Bruno Hofer, Die Volksinitiative als Verhandlungspfand, in: Abstim­

mungen und Wahlen, Schweizerisches Jahrbuch für Politische Wissenschaft, Bd. 27, Bern 1987.

8 Martin Dahinden (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen und ihre gesellschaftlichen Wirkun­

gen, Zürcher Hochschulforum, Bd. 10, Zürich 1987.

9 Christian Moser, Erfolge kantonaler Volksinitiativen nach formalen und inhaltlichen Ge­

sichtspunkten, in: Abstimmungen und Wahlen, Schweizerisches Jahrbuch für Politische Wissenschaft, Bd. 27, Bern 1987.

am stärksten ist darin der Partner, der keine Veränderung des status quo will. Nun ist aber der schweizerische Verfassungsföderalismus relativ rigide, d. h.: Jede neue Bundesaufgabe, jede Veränderung der Kompetenz­

verteilung zwischen Bund u nd Kantonen verlangt eine Verfassungsände­

rung unter Vorbehalt von Volk und Ständen. So gibt es Besonderheiten der aufgabenmässigen und der institutionellen Entwicklung, die wohl ohne die Rückbindung institutioneller Politik an das Plebiszit schwer erklärbar schei­

nen. Zu nennen sind etwa:

- der geringe Anteil von 30% des Zentralstaats am öffentlichen Gesamt­

budget sowie die im Vergleich zu andern entwickelten Industrienationen geringe Staatsquote von 30%;

- die provisorische, d. h. befristete Finanzordnung des Zentralstaats, dem es bisher nie gelang, seine Einnahmen aus Einkommenssteuern auf eine dauerhafte Verfassungsgrundlage zu stellen;

- die geringe Verflechtung und Mitwirkung der Schweiz in internationalen Organisationen;

- die seit Beginn des Bundesstaates praktisch unverändert gebliebene Milizstruktur des Parlaments;

- die späte und zurückhaltende Entwicklung wirtschafts- und sozialpoliti­

scher Intervention.

Die Verwerfung von rund 30 % der Verfassungsvorlagen der letzten Jahr­

zehnte geschah häufig unter pragmatischen Argumenten: «gegen die Zen­

tralmacht Berns», «gegen die Allmacht des Staats», «gegen den Verlust nationaler Unabhängigkeit». Man kann diese Motive deuten als Residuen alt- oder neoliberaler Alltagsideologie, die in einer Kleingesellschaft, ver­

schont von Sozialkatastrophen, eher überlebt haben. Luhmann würde sie sicher anders interpretieren: als Unmöglichkeit der Autonom-Setzung eines politischen Systems, dem die Abschottung von konkreten Forderun­

gen aus der Umwelt und die Entwicklung eigener oder interner Systembe­

dürfnisse weniger gelingt als etwa der parlamentarischen Demokratie.

c) Die Außerkraftsetzung der direkten Demokratie durch das Dringlichkeits­

recht

Die Ausreifung der Integrationsmechanismen der Konkordanz verlief bekanntlich nicht reibungsfrei, und sie funktionieren auch heute nicht pro­

blemlos. In den dreissiger Jahren, der Zeit von Weltwirtschafts- und politi­

Wolf Linder

scher Verfassungskrise, wurde die parlamentarische Politik durch Referen­

den von allen Seiten und durch die Uneinigkeit des bürgerlichen Lagers selbst buchstäblich zerrieben. Aber auch zu Beginn der siebziger Jahre, in einer Periode erhöhten Problemdrucks und steigenden Konfliktn iveaus, häuften sich die Referenden10 und die Misserfolge behördlicher Verfas­

sungspolitik. Man kann dies als Beleg dafür sehen, dass Konsens und Inter­

essenintegration im durchorganisierten Gruppenpluralismus der. Schweiz nach wie vor fragil und störbar sind.

Ist damit direkte Partizipation doch mit erheblichen Systemrisiken ver­

bunden - zwar nicht im Sinne eines revolutionären Potentials von unten, aber im Sinne der Blockierung und Handlungsunfähigkeit des politischen Systems? Hi er ist n un die institutionelle N otbremse des Dringlichkeits­

rechts nach Art. 89bis BV zu erwähnen: Zeitlich befristete Beschlüsse, die

«keinen Aufschub ertragen», kann das Parlament dem Referendum entzie­

hen. Vor allem in den dreissiger Jahren, dann aber auch zu Beginn der sieb­

ziger Jahr e haben Parlament und Bundesrat diese Möglichkeit häufig benutzt, um in besonderen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Die Partizipationsmöglichkeiten der direkten Demokratie werden damit im

«courant normal» nicht entwertet, aber sie stehen gewissermas sen unter Vormundschaft. Auch die Dringlichkeitsklausel ist ein Mechanismus, der das Spannungsfeld zwischen Partizipation und Integration zugunsten der letzteren löst, nämlich durch Vermeidung des Plebiszits zugunsten institu­

tioneller Handlungsfähigkeit.11

4. Zur Handlungsfähigkeit von Konkordanz und