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Hans Peter Fagagnini

1. Jedes politische System wird von zwei Stützen getragen: von einer als ausreichend erachteten Integration seiner Mitglieder und einer als genügend eingestuften Effizienz bei der Erfüllung der Aufgaben. Beides ist gleichzeitig nie maximal, meist nur optimal und hin und wieder n ur suboptimal zu erreichen.

Das schweizerische politische System setzt das Schwergewicht auf die integrative Verarbeitung der Probleme. Wer am Konsens interessiert ist, hat mehr als derjenige, der Probleme rasch und effizient gelöst haben will. Die alte Tagsatzung ist dabei fast so etwas wie ein politischer Archetyp. Aus der Zeit der alten Eidgenossensch aft hat sich die Idee der Selbstverwaltung erhalten. Nicht ein bestimmter Stand, alle sollen sich für alles verantwort­

lich betrachten. Diese Grundeinstellung wurde dadurch begünstigt, dass sich von Anfang an unterschiedliche Gebiete zusammenschlöss en: Land­

kantone, Stadtkantone, deutsch- und französischsprechende Gebiete. Spä­

ter kam die Glaubensspaltung hinzu; sie verhinderte ein fest strukturiertes System.

2. Die Schweiz ist im Grunde nur ein Anwendungsbeispiel der Theorie, wonach sich überkreuzende Spannungsfelder zu einem moderateren und auf Stabilität ausgerichteten politischen Leben führen kön nen. Die sozio-kulturelle Infrastruktur ist pluralistisch und fragmentiert. Die Schweiz besteht aus lauter Minderheiten, die auf Zusammenarbeit mit andern ange­

wiesen und gleichzeitig auf ihre Autonomie bedacht sind. Das fakultative Referendum zeigt dies ganz offenkundig: Mehrheiten kommen in einer Abstimmung nur zustande, wenn man sich zuvor im Parlament ausrei­

chend geeinigt hat. Das erklärt auch die Konkordanzmuster. Macht scheint damit auf Dauer angelegt. Jede in der Regierung beteiligte politische Kraft hat (bis heute) ihren Machtanteil einigermas sen auf sicher.

Dies ist auch der Grund, warum längst nicht alle Entscheide konsensuell getroffen werden. So wie andere politische Systeme auch nicht nur nach dem Konfliktmuster funktionieren, so stellen sich auc h in der Schweiz Konfliktlagen ein. Die Sparpolitik zu m Zwecke der Haushaltsanierung erfolgte gegen den Willen der Linken. Der Ausbau der sozialen Sicherheit stiess - vereinfacht gesagt - stets auf die erfolglose Opposition der Rechten.

3. Die schweizerische Konkordanzdemokratie hat ihre Vor- und Nach­

teile.

Die Vorteile liegen darin, dass weil Macht grundsätzlich verteilt ist -Probleme sachlich angegangen werden können. Das heisst, wichtige Sachentscheide beinhalten nicht ständig auch noch Machtentscheide. Trotz der derzeitigen Turbulenzen rund um die Kopp- und Fichenaffare ist auch über die Jahre hinweg eine relativ grosse Zufriedenheit gegenüber dem poli­

tischen System z u konstatieren.

Es zeigt sich auch, dass sich eine breite Partizipation über direktdemo­

kratische Einrichtungen durchaus mit einer angemessenen Problemlösung verbinden lässt. Der Stand der Aufgabenerfiillung darf sich mit internatio­

nalen Standards messen. Im Umweltschutz nimmt die Schweiz einen vor­

deren Rang ein, sozialpolitisch einen mitderen, und wirtschaftspolitisch hilft offenbar die Entscheid ungsstruktur vor schnellen Uberste uerungen.

Die Nachteile sind aber fast ebenso offenkundig. Trägh eitsmomente bestehen. Man kann dem System eine gewisse latente Innovations­

schwäche nachsagen. Oft reagiert es nur auf den Druck von eingereichten Volksinitiativen. Auch werden einmal getroffene Entscheide zwar als solche akzeptiert, aber auch rasch wieder mit neuen Initiativen in Frage gestellt.

Nachteile zeigen sich auch in einer komplizierten Interessenvermitdung.

Die Entscheidungsstrukturen erscheinen als wenig transparent. Man muss eine lange und oft auch langjährige Entscheidungskaskade durchlaufen, bis ein Entscheid z ustandekommt.

Vor allem aber - und dies wird m. E. viel zuwenig hervorgehoben - fehlt es an politischen Verantwortlichkeitsregeln. Das schweizerische politische System verteilt Macht und kontrolliert sie auch, aber nicht über Rechen­

schaftsablagen und Vertrauensentzüge. Die Konsequenzen treten derzeit mit aller Deutlichkeit zutage.

4. Zum politischen Alltagsleben gehört in der Schweiz das Wechselbad von Wahlen und Abstimmungen. Zwischen beiden bestehen immer wieder sichtbare Konkurrenzen. Bei der Wahl in die Regierungen und Parlamente gelten offenbar andere Kriterien als bei Abstimmung en über Sachfragen.

Markige oder progressive Persönlichkeiten, die bei Wahlen erfolgreich sind, können handkehrum mit ihren Ideen bei Abstimmungen Schiffbruch erlei­

den. Im fragmentierten Feld der schweizerischen Bürgerschaft heben sich offenbar viele Meinungen auf.

Hans Peter Fagagnini

Speziell hervorzuheben sind alte Phalanxen bei Abstimmungen.

Obwohl nie Vorkehren getroffen wurden, spielt eigentlich seit Einführung des Referendums eine Art Vetoachse zwischen der französischen West­

schweiz und der Innerschweiz. Das heisst, Vorlagen, die in diesen Gebieten auf Ablehnung stossen, erreichen auch keine nationale Mehrheit.

5. Die meisten schweizerischen Politologen scheinen sich übe r den Ver­

bandseinfluss in der Schweiz einig zu sein. S ie betrachten die Schweiz als von Verbänden dominiertes politisches System. D ie Drohung mit dem Referendum bildet dafür ein wichtiges Argument.

Zweifellos kann niemand den Verbandseinfluss leugnen. Die absolute Art der. Ergebnisse kontrastiert aber immer wieder mit den praktischen Erfahrungen. Die Verbände - auch die grössten - sind ebenso mit Abstim­

mungsniederlagen konfrontiert wie die politischen Parteien. Die Drohung, ein Referendum zu ergreifen oder eine Initiative zu lancieren, kann sich als zweischneidiges Schwert entpuppen. Der Erfolg ist nicht sicher. Grossor­

ganisationen wie die Gewerkschaften haben dies in den letzten Jahren mehrfach erfahren. Wenn sie sich heute über zuwenig politischen Einfluss aufhalten, so deshalb, weil eine Reihe ihrer Initiativen abgelehnt worden ist.

Darum ist auch der Verbandseinfluss zu relativieren. Das heisst nicht, dass die Parteien mit umso mehr Gewicht auszustatten wären. Die Parteien aber leisten me hr, als man wissenschaftlich wahrhaben will. Sie werden jedoch an einem zu idealen Organisationsmuster gemessen. Zudem sieht die Politologie auch nicht alles, was sie tun. Dies betrifft insbesondere den Bereich der Personalpolitik und die Vernetzung mit den Verbänden.

Alles in allem stimmt im Grunde eigentlich nur eines, dass nämlich die Macht tatsächlich verteilt ist und es letztlich immer nur zeitweilige Domi­

nanzen gibt. In einer Zeit, in der die Pluralisierung voranschreitet, wird diese Aussage wahrscheinlich noch auf absehbare Zeit empirisch unterlegt werden können.

6. Was bringt überhaupt die Zukunft? Werden die Institutionen die Jahr­

hundertwende überstehen? Die Antwort muss in einer Zeit fallen, da vor allem die Nachteile sichtbar sind und man weniger über die Vorteile spricht.

Trotzdem ist ein Stück weit Optimismus am Platz. Das Konkordanzmu­

sterist nicht veraltet. In einer immer pluralistischer werdenden Gesellschaft mit ausgesprochenen Partizipationsbedürfnissen bleibt es ein zukunftsge­

rechtes politisches Strickmuster. Das heisst aber nicht, dass die derzeitigen Akteure in der gleichen Zusammensetzung darin überleben werden.

Gewisse generelle Auflösungstendenzen im politischen Wahl- und Abstim­

mungsverhalten sind unübersehbar. Und dies heisst auch nicht, dass das institutionelle Gefüge keiner Reform bedürftig wäre. Reformen sollten in Richtung einer Festlegung von politischen Verantwortlichkeiten erfolgen und auch daraufhin angelegt werden, dass sich die Schweiz gegenüber Europa in der einen oder andern Art weiter öffnen muss.