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konkrete Praxis der Dispensvergabe unterschied sich ebenfalls deutlich von jener

im katholischen Kontext. Zählte doch gerade das ‚Erkaufen‘ von Dispensen zu den von den Reformatoren erhobenen Kritikpunkten.68

Das kanonische Recht unterlag durch die Frühe Neuzeit hindurch und in der hier in Frage stehenden Zeit und Materie keinerlei Revisionen, doch verweist al-lein die steigende Zahl erteilter Dispensen in den nahen Graden der Verwandt-schaft und SchwägerVerwandt-schaft auf Veränderungen in der Praxis innerhalb eines starren normativen Rahmens. Die päpstlichen Positionen bezüglich der Dispens-vergabe wechselten im Laufe des 19. Jahrhunderts, in dem Sinn, dass auf gewisse Lockerungen erneut Verschärfungen folgten. Obwohl die katholische Kirche grundsätzlich zentralistisch dirigiert war, variierte zudem die Praxis in den ein-zelnen Diözesen deutlich. Die mit Dispensansuchen befassten Geistlichen auf den verschiedenen hierarchischen Ebenen – Pfarrer, Dekane, Generalvikare und Bi-schöfe – vertraten unterschiedliche Meinungen und agierten dem entsprechend.

Infolgedessen divergierten Bereitwilligkeit und Modus der Behandlung und Be-fürwortung von Dispensansuchen nicht nur diachron im Zeitverlauf, sondern auch synchron zwischen den Diözesen und innerhalb von Diözesen zum Teil be-trächtlich.69

3. VERWALTEN VON VERWANDTSCHAFT

Die politisch-administrativ-institutionelle Seite von Verwandtenheiraten stieß bislang kaum auf die Aufmerksamkeit von Historikern und Historikerinnen der Neuzeit.70 Der Zugang über das Verwalten von Verwandtschaft ist insofern

loh-lichen wollte. Das evangelische Konsistorium in Osnabrück erklärte solche Ehen aber für

„gänzlich verboten“; entsprechende Dispensgesuche sollten abgewiesen werden. Nur durch eine besondere, vom König erteilte Dispensation konnte das Paar 1814 schließlich heiraten.

Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe, 454f.

68 Vgl. Safley, Canon Law, 189; Siegrid Westphal, Kirchenzucht als Ehe- und Sittenzucht. Die Auswirkungen von lutherischer Konfessionalisierung auf das Geschlechterverhältnis, in:

Anne Conrad (Hg.), „In Christo ist weder man noch weyb“. Frauen in der Zeit der Reformati-on und der katholischen Reform, Münster 1999, 152–171, 156.

69 So verweist Edith Saurer in ihrem Vergleich der Ehedispenspraxis in Niederösterreich und Venezien im frühen 19. Jahrhundert darauf, dass sich trotz derselben Rechtslage, sowohl das Zivil- als auch das Strafrecht und die kirchlichen Vorschriften betreffend, aufgrund der

„unterschiedlichen politischen, rechtlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen […] unterschiedliche Normen und Praktiken von Verwandtschaftsbeziehungen“ zeigen.

Edith Saurer, Formen von Verwandtschaft und Liebe – Traditionen und Brüche. Venetien und Niederösterreich im frühen 19. Jahrhundert, in: Lanzinger/Saurer, Politiken der Ver-wandtschaft, 255–271, 256f.

70 Eine Ausnahme ist die auf einem Sample an Dispensansuchen der Stadt Rom aus der Mitte des 19. Jahrhunderts basierende Untersuchung von Margherita Pelaja, Marriage by

Excep-28 nend, als er Einblicke in Prozesse der Integration von Staat und Kirche sowie von Staat und Region71 eröffnet. Der Übergang von einer ständisch organisierten Welt zu einer modernen, von Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen getragenen Ge-sellschaft verlief keineswegs linear. In den hier analysierten Zusammenhängen konnte sich der ‚aufgeklärte‘ Staat über rechtliche Neuerungen, die Erleichterun-gen der Verwaltungsabläufe intendierten, geErleichterun-genüber der Kirche nicht wirklich erfolgreich positionieren, da diese de facto eine Reihe von Erschwernissen zur Folge hatten. Letztlich standen kirchliche und staatliche Logiken und Rechtsla-gen einander in der Sache relativ unversöhnlich geRechtsla-genüber und damit zugleich zwei Machtzentren mit ihren je eigenen Bürokratien und deren umfassenden Gel-tungsansprüchen.

Verwalten folgt in der Regel einem Ordnungsprogramm. Verwalten heißt, De-finitions-, Organisations- und Entscheidungsmacht auf klar umrissenen Sachge-bieten innezuhaben und nach bestimmten Kriterien in strukturierten Abläufen auszuüben. Verwaltung ist eng mit Politik verflochten: mit dem territorialen Durchsetzen von Herrschaft, mit Staatsbildung, mit dem Implementieren von Reformen und politischen Vorstellungen.72 Die Verwalter,73 die jeweiligen Reprä-sentanten von Kirche und Staat, fungierten jedoch nicht als marionettenhafte Umsetzer von Vorgabenskripts, sondern schufen sich eigene Handlungsräume.74 Sie sind in einer multiplen Rolle zu sehen, denn sie waren, wie Karin Gottschalk in Bezug auf Ortsbeamte geschrieben hat, „Vermittler, gleichzeitig Akteure und

Ad-tion: Marriage Dispensations and Ecclesiastical Policies in Nineteenth-Century Rome, in:

Journal of Modern Italian Studies 1, 2 (1996), 223–244.

71 Zum Konzept der Region als einem sozialen, je konkret zu definierenden Raum vgl. Axel Flü-gel, Der Ort der Regionalgeschichte in der neuzeitlichen Geschichte, in: Stefan Brakensiek u.

a. (Hg.), Kultur und Staat in der Provinz. Perspektiven und Erträge der Regionalgeschichte, Bielefeld 1992, 1–28; Stefan Brakensiek u. Axel Flügel (Hg.), Regionalgeschichte in Europa.

Methoden und Erträge der Forschung zum 16. bis 19. Jahrhundert, Paderborn 2000.

72 Vgl. dazu auch Peter Becker, Sprachvollzug: Kommunikation und Verwaltung, in: ders. (Hg.), Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhun-derts, Bielefeld 2011, 9–42.

73 Die Akteure der Verwaltung kommen jeweils in konkreten Handlungszusammenhängen vor. Rekonstruktionen von biografischen Verläufen oder Ämterprofilen können im Rah-men dieser Arbeit nicht geleistet werden. Vgl. dazu Michaela Hohkamp, Herrschaft in der Herrschaft. Die vorderösterreichische Obervogtei Triberg von 1737–1780, Göttingen 1998;

Joachim Eibach, Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens, Frankfurt a. M. 1994; Rüdiger von Krosigk, Bürger in die Verwaltung! Bürokratiekri-tik und Bürgerbeteiligung in Baden. Zur Geschichte moderner Staatlichkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 2010.

74 Vgl. dazu die Studie von Waltraud Heindl, Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780 bis 1848, Wien/Köln/Graz 1991 (eine durchgesehene zweite Auflage des Bu-ches ist 2013 erschienen).

29 3. Verwalten von Verwandtschaft ressaten“.75 Welche Position sie in einem Entscheidungsprozess einnahmen, das

lässt sich nicht allein aus ihrer beruflichen Sozialisation und ihrer Amtsfunktion ableiten, denn auch persönliche Züge konnten dabei zum Tragen kommen. Ihre Haltung war integrativer Bestandteil der Verwaltungsmaschinerie, die sich ihrer-seits aus einem Netzwerk von Akteuren zusammensetzte.

Verwalten setzt Institutionen voraus. Institutionen können ganz allgemein als Regeln gefasst werden,76 als gesellschaftlich verankerte Ordnungs- und Orientie-rungsstrukturen. Zur Umsetzung von Reglements und Ordnungsvorstellungen im sozialen Raum braucht es Repräsentanten, die in den hier behandelten Räumen und Zeiten von Verwaltungsapparaten aus agiert und darüber ihre Legitimität in der Sache zugesprochen erhalten haben. Bürokratien stellten historisch gesehen ein von männlichen Akteuren verkörpertes Beziehungsgefüge und Handlungsfeld dar. Was die administrativen von informellen Handlungsfeldern und Beziehungsge-fügen unterscheidet, ist der sie umspannende, über Autorität, Legitimität und be-stimmte Zuständigkeiten definierte Bezugsrahmen, der auf einen übergeordneten – territorialen, staatlichen, kirchlichen – Herrschaftskontext hin ausgerichtet ist.

Amtsinhaber interagierten im Inneren, das heißt, sowohl innerhalb der ei-genen Institution als auch mit unter- und übergeordneten Stellen und zugleich nach außen, mit jenen Personen, die sich an sie als Träger der entsprechenden Institution mit Fragen und Bitten, mit Ansuchen und Beschwerden wandten. Die Handlungsräume von geistlichen und zivilen Amtsinhabern verknüpfen sich in dieser Studie auf den verschiedenen Stufen der Hierarchien mit jenen der nahe verwandten und verschwägerten Brautpaare. Diese Interaktionen waren von un-terschiedlichen Machtgefällen geprägt.77 Sie erfolgten über verschiedene Medien,

75 Karin Gottschalk, Herrschaftsvermittlung als kultureller Transfer? Lokalverwaltung und Verwaltungskultur in der Landgrafschaft Hessen-Kassel im 18. Jahrhundert, in: Michael North (Hg.), Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln/Weimar/Wien 2009, 175–191, 188.

76 So der Institutionenbegriff bei Douglas C. North, Institutions, Institutional Change and Eco-nomic Performance, Cambridge 1990, 3: „Institutions are the rules of the game in a society or, more formally, are the humanly devised constraints that shape human interaction.“ Da-mit lässt sich operieren, auch ohne seinem institutionenökonomischen Ansatz zu folgen.

Für eine kritische Auseinandersetzung damit, die sich insbesondere auf die darin angelegte Trennung zwischen Gesellschaft und Akteuren bezieht, vgl. Thomas Edeling, Organisatio-nen als InstitutioOrganisatio-nen, in: Andrea Maurer u. Michael Schmid (Hg.), Neuer Institutionalismus.

Zur soziologischen Erklärung von Organisation, Moral und Vertrauen, Frankfurt a. M. 2002, 219–235, 220–225.

77 Auf die Notwendigkeit einer Perspektive, die diese verschiedenen Interaktionsräume in den Blick nimmt, hat Alf Lüdtke bereits Anfang der 1990er Jahre hingewiesen – er spricht von

„Mehrdeutigkeit des Beherrschtseins“. Alf Lüdtke, Einleitung. Herrschaft als soziale Praxis, in: ders. (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studi-en, Göttingen 1991, 9–63, 13.

30 über mündliche Kommunikation oder schriftliche Dokumente, über persönliche Präsenz oder über Vermittler. Regeln – Abmachungen, Konventionen, Erlässe, Statuten, Gesetze etc. – strukturierten Interaktion und Kommunikation sowie die sequenzierten Abläufe der Verwaltungsverfahren. Wiewohl die Regelwerke und deren Administration auf Dauer angelegt waren, blieben sie nicht unverän-dert. Auf neue Macht- und Herrschaftsverhältnisse, auf neue Rechtslagen und in-stitutionelle Kontexte mussten sich die Verwalter ebenso einstellen wie die von ihnen Verwalteten. Unabhängig davon galt es, beim Umsetzen von Normen und Verfahrensweisen in die Praxis stets Anpassungen zu leisten. Nach Aneignungen und Umdeutungen, nach Uneindeutigkeiten und Inkohärenzen zu fragen, ist seit geraumer Zeit Bestandteil geschichtswissenschaftlichen Arbeitens.78 Verwalten ist daher prozesshaft zu verstehen, und Verwaltung als ein Raum der Kommu-nikation. Neuere, in den letzten Jahren dezidiert auf die Kultur des Verwaltens gerichtete Forschungsperspektiven heben zudem den Konstruktionscharakter des „Organisierens und Ordnens von Wirklichkeit“ hervor.79 Dieses Organisieren und Ordnen vollzog sich im Rahmen der jeweiligen institutionellen Abläufe, die sich in den benachbarten Diözesen Brixen, Chur, Salzburg und Trient recht unter-schiedlich gestalteten und sich so auch in relativ heterogenen Archivbeständen materialisiert haben.

Lokale und regionale, kirchliche und staatliche Interaktionsräume waren eng miteinander verflochten. Denn der Weg über das Lokale hinaus kann nicht, wie Francesca Trivellato betont hat, in Form hierarchisch angeordneter konzen-trischer Kreise, die sich vom Kleinen zum Großen erweitern, gefasst werden.80 Vielmehr geht es, wie in Bruno Latours actor-network-theory ausgeführt, um die Rekonstruktion der „kontinuierlichen Verbindungen […] von einer lokalen Inter-aktion zu anderen Orten, Zeiten und Aktanten“,81 die daran anknüpfend ihrerseits Handlungen und Interaktionen setzten. Zentrale Aufgabe einer so verstandenen

78 Vgl. Levi, On Microhistory.

79 Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800–

1848, Frankfurt a. M./New York 2005, 12. Mit Luhmann als Referenz arbeitet der Band von Barbara Stolberg-Rilinger u. André Krischer (Hg.), Herstellung und Darstellung von Ent-scheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne, Berlin 2010, insbes.

die Einleitung von Barbara Stolberg-Rilinger, 9–31.

80 Francesca Trivellato, Is There a Future for Italian Microhistory in the Age of Global History?, in: California Italian Studies 2, 1 (2011), auf http://escholarship.org/uc/item/0z94n9hq (Zu-griff: April 2012), [ohne Seiten, 15].

81 Dem Begriff „Aktanten“ liegt die Vorstellung einer von Objekten ausgehenden Wirkmacht zugrunde. Er bezeichnet das Zusammenwirken von menschlichen Akteuren, Akteurinnen und Dingen in Netzwerken von Handlungszusammenhängen. Aktanten als Objekte besitzen insofern agency, als sie Akteure und Akteurinnen zum Reagieren, zum Handeln herausfor-dern, sie bisweilen dazu zwingen.

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