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Die strafrechtliche Liberalisierung dürfte dazu beigetragen haben, die

Wirk-macht der ausgedehnten Inzestvorstellungen zu relativieren. Sie steht so in einer Wechselbeziehung zur Verbreitung des Phänomens der Verwandtenheiraten und den seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert feststellbaren radikalen Tabubrüchen in Hinblick auf Heiratsvorhaben. Dennoch hat die katholische Kirche weiterhin mit Macht versucht, Sexualität und damit verbundene Liebe und Leidenschaft aus dem Umfeld der sozialen Nähe, die sich über Verwandtschaft und Schwägerschaft konstituierte, zu verbannen.

3. LIEBE UND LEIDENSCHAFT

Die Frage nach Wirkung und Gestaltungsmacht von Emotionen als „historische Aktivposten“53 ist seit einiger Zeit en vogue.54 Die Forderung von Lucien Febvre an die Geschichtswissenschaften, sich dieser wenngleich „unendlich schwierige[n]

Aufgabe“ nicht zu entziehen, datiert bereits Jahrzehnte zurück,55 doch bleibt noch viel zu tun auf diesem Feld. Das Bemühen neuerer Forschungen gilt einer diffe-renzierten Perspektive, die sich kritisch von plakativen Zuschreibungen und fort-schrittsgläubigen Vorstellungen abhebt.56 Ein so konzipierter Zugang verwehrt sich grundsätzlich gegen allzu dichotome Sichtweisen. Dies gilt vor allem für das Narrativ, das „der affektiven Moderne“ eine „affektionslose kalte Vormoderne“

gegenüberstellt und Letztere damit „im Licht unterdrückter, minderer und auch minderwertiger Emotionalität“ erscheinen lässt.57

Geschwister und die „Ehegenossen“ von Eltern, Kindern und Geschwistern zählten zu die-ser Personengruppe. Kaidie-serliches Patent vom 27. Mai 1852 mit Wirksamkeit ab 1. September 1852.

53 Ute Frevert, Angst vor Gefühlen? Die Geschichtsmächtigkeit von Emotionen im 20. Jahr-hundert, in: Paul Nolte u. a. (Hg.), Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, München 2000, 95–111, 106.

54 Einen ausführlichen Forschungsüberblick gibt Bettina Hitzer, Emotionengeschichte – ein Anfang mit Folgen, in: H-Soz-u-Kult 23.11.2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/fo-rum/2011-11-001 (Zugriff: Juli 2014).

55 Lucien Febvre, Sensibilität und Geschichte. Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen, in: Claudia Honegger (Hg.), M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u. a. Schrift und Materie der Ge-schichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt a. M.

1977, 313–334, 323. Wörtlich: „Freilich ist der Versuch der Rekonstruktion des affektiven Le-bens einer bestimmten Epoche eine zugleich faszinierende und unendlich schwierige Auf-gabe. Doch der Historiker hat kein Recht zu desertieren.“

56 Vgl. beispielsweise Anthony Giddens, Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1993.

57 Anne-Charlott Trepp, Gefühl oder kulturelle Konstruktion? Überlegungen zur Geschichte der Emotionen, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 7 (2002), 86–103, 88. Die kriti-sche Sicht richtet sich auf die Klassiker Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, München/

Wien 1975; Shorter, Die Geburt der modernen Familie; Lawrence Stone, The Family, Sex and

58 In den Dispensakten kommt eine breite Palette an Emotionen zum Ausdruck:

von Seiten jener Frauen und Männer, die um eine Dispens angesucht haben und, im Sprechen über diese, von deren Verwandten, Nachbarn, Bekannten, von Sei-ten der Zeugen und der Geistlichen. Liebe und Leidenschaft sind immer wieder Thema. Die Rede ist aber auch von Angst, Glück, Traurigkeit, Scham, Ungeduld, Verzagtheit und Verzweiflung, vom drohenden Ausbruch von „Schwermuth“ oder von ärztlich attestierter Melancholie. Des Öfteren wird ein Selbstmord infolge ei-nes abgewiesenen Ansuchens angedroht. Die Geschlechtergeschichte hat das am Übergang vom 18. in das 19. Jahrhundert von Intellektuellen propagierte Kon-zept der romantischen Liebe als ambivalent identifiziert. Zwar brach dieses mit Sachzwängen, verwarf sozioökonomische Schranken der Partnerwahl und stellte dem die Forderung entgegen, Ehe und Familie sollten auf Liebe und Kompatibili-tät der Gemüter gründen. In dieser radikalen Form, in der die Liebe als „subver-sive Macht gegen die rechtliche und moralische Ordnung der Ständegesellschaft“

fungieren konnte, weil sie „die Souveränität des Individuums, der individuellen Partnerwahl und der individuellen Leidenschaft gegen die Forderungen der Gruppe geltend machte“,58 kam dieses Postulat einem Angriff auf die gesellschaft-liche Ordnung gleich. Doch blieben Hierarchie und Ungleichheit zwischen den Ge-schlechtern im Inneren der Beziehung zugleich integrativer Teil des romantisch geprägten Paarkonzepts.

Vor allem gilt es, zwischen Vorstellungen und Diskursen und dem, was Männer und Frauen leben konnten, zu differenzieren. Die „romantische Liebe“ war in ih-rer Umsetzung zunächst ein Experiment bürgerlich-intellektueller Kreise. Deren Strahlkraft wirkte jedoch weit darüber hinaus, bot eine Grundlage für Ehekritik, für alternative Gesellschaftsentwürfe und kann bis in die Gegenwart als Leitbild von Paarbeziehungen angesehen werden. Trotzdem beeinflussten Vermögensfra-gen und sachliche Kriterien weiterhin die Wahl des Ehepartners, der Ehepartne-rin.59 Ökonomische Erwägungen und emotionale Nähe sollten, wie Hans Medick und David Sabean bereits in den 1980er Jahren gefordert haben, einander nicht als unversöhnlich gegenübergestellt, sondern vielmehr zusammengedacht wer-den.60 In der historischen Forschung der letzten Jahre richtete sich die Suche des-Marriage in England 1500–1800, London 1977; zu beiden Letzteren vgl. auch Alan MacFar-lane, Review Essay, in: History and Theory 18 (1979), 103–126, 106f. Zur Alterität von Emo-tionskulturen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit vgl. Ingrid Casten, Gesa Stedman u. Margarete Zimmermann, Einleitung: Lucien Febvre und die Folgen. Zu einer Geschichte der Gefühle und ihrer Erforschung, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 7 (2002), 9–25, 17.

58 Cornelia Koppetsch, Liebesökonomie. Ambivalenzen moderner Paarbeziehungen, in: West-end. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2, 1 (2005), 96–107, 98.

59 Vgl. Borscheid, Geld und Liebe, 124–134.

60 Hans Medick u. David Sabean, Emotionen und materielle Interessen in Familie und

Ver-59 3. Liebe und Leidenschaft halb nicht länger, wie klassisch noch bei Lawrence Stone und Edward Shorter, auf den Ursprung der „modernen Liebesheirat“.61 Gefragt wird vielmehr nach den je zeitspezifischen Repräsentationen von Gefühlen. Das Augenmerk liegt dabei auf Gewichtungen, Überlappungen und Gleichzeitigkeiten unterschiedlicher Vorstel-lungen und Erwartungen sowie auf deren Ausdrucksformen.62

Das Sprechen über Liebe und Leidenschaft findet sich in den Dispensakten der Diözese Brixen vornehmlich in den Befragungen der Zeugen, von Bräutigam und Braut im Zuge des so genannten Matrimonialexamens, aber auch in Bittbriefen.

Nicht nur die von einem Geistlichen protokollierten Aussagen der Matrimonial-examen, die beeidet werden mussten,63 sondern auch die Bittbriefe stammen mit wenigen Ausnahmen aus der Feder kirchlicher Repräsentanten. Da wie dort ent-haltene Äußerungen über Gefühlslagen sind daher nicht als ‚authentische‘ Stim-men zu werten. Der Kontext ihrer Performanz war zudem von Autorität und Hie-rarchie sowie von statusadäquaten Verhaltenserwartungen geprägt. Was in den Matrimonialexamen und Bittbriefen begegnet, sind Repräsentationen von Gefüh-len in einer gefilterten Kommunikation. Insofern als Dispensansuchen mit ganz bestimmten Logiken verbunden waren, ist der Zusammenhang zwischen der Dar-stellung und dem spezifischen DarDar-stellungsmedium als zentral anzusehen.64 In Hinblick auf positive Emotionen ist zunächst zu berücksichtigen, dass in diesem Frage-Antwort-Verfahren des Matrimonialexamens Befindlichkeiten verbalisiert wurden oder werden mussten, die sonst vielleicht nicht sprachlich expliziert wandtschaft: Überlegungen zu neuen Wegen und Bereichen einer historischen und sozi-alanthropologischen Familienforschung, in: dies., Emotionen und materielle Interessen, 27–54. Über das breit angelegte Konzept von Pierre Bourdieu, das Kapital als „akkumulierte Arbeit“ definiert, sowohl in materieller als auch in verinnerlichter Form, ließe sich ebenfalls beides integrieren, da das Knüpfen von Beziehungen und das Pflegen von Bekanntschafts- und Verwandtschaftsnetzen mit eingeschlossen ist. Pierre Bourdieu, Die verborgenen Me-chanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1, Hamburg 1992, 49.

61 Stone vertrat die Ansicht, die Liebesheirat sei in der puritanischen Gefühlskultur der ge-bildeten englischen Mittelschicht im 17. Jahrhundert zu verorten. Shorter sah die Voraus-setzung dafür in der kapitalistischen Lohnarbeit, die Männer und Frauen von den Eltern in ihrer Partnerwahl unabhängig machte, da sie ihre Existenz auch kaum auf ererbtes Vermö-gen gründen konnten. Shorter, Die Geburt der modernen Familie; Stone, The Family, Sex and Marriage.

62 Vgl. beispielsweise Guzzi-Heeb, Donne, uomini, parentela, 329–345. Er verweist unter ande-rem darauf, dass romantische Leidenschaft und arrangierte Ehen nur zwei Modelle unter unzähligen möglichen Varianten der Liebe seien (ebd., 332).

63 Adriano Prosperi spricht vom „valore magico“, dem magischen Rang eines Eides. Adriano Prosperi, Fede, giuramento, inquisizione, in: Paolo Prodi (Hg.), Glaube und Eid. Treuefor-meln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit, Oldenburg 1993, 157–171, 158f.

64 Vgl. Claudia Benthien, Anne Flaig u. Ingrid Kasten, Einleitung, in: dies. (Hg.), Emotionalität.

Zur Geschichte der Gefühle, Köln/Weimar/Wien 2000, 7–20, 9.

60 worden wären.65 Gerade in der Eheanbahnung konnten alltagsweltlich rituali-sierte ‚Signale‘ anstelle sprachlicher Liebescodes66 entsprechende Inhalte trans-portieren.67 Ferner wurden die Aussagen von einem Schriftführer aufgezeichnet – in der Regel sicher mehr dem Sinn nach als wortwörtlich. Im Zuge dieser Pro-tokollierung fand zudem eine Einpassung in das Vokabular und in den Sprach-duktus des examinierenden Geistlichen und des Protokollanten statt und damit zugleich auch in deren Weltbild. Dies war allein schon vor dem Hintergrund der spezifischen Erfordernisse notwendig, denen ein solches Ansuchen vor allem in Hinblick auf das Vorhandensein bestimmter, von Seiten der Kirche anerkannter Dispensgründe zu entsprechen hatte. Insofern handelte es sich immer um eine Art „Übersetzung“, ähnlich wie dies für Gerichts- oder Inquisitionsakten in der Forschung diskutiert worden ist.68 Schließlich dürfen die verschiedenen Begriffe, mit denen operiert wurde – „Bekanntschaft“, „Neigung“, „Zuneigung“, „Liebe“,

65 Francesca Cancian hat vor vielen Jahren darauf verwiesen, dass die Konzentration auf die sprachliche Ebene eine Feminisierung der Liebe zur Folge habe, indem dadurch andere Ausdrucksformen übersehen würden, wie beispielsweise Unterstützung oder Hilfestellung von Seiten der Männer. Francesca M. Cancian, The Feminization of Love, in: Signs. Journal for Women in Culture and Society 11, 4 (1986), 692–708.

66 Zur Codierung vgl. klassisch Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimi-tät, Frankfurt a. M. 1982.

67 Zur Frage der Interdependenz von sprachlicher Artikulation, Emotion und Wertbezug vgl.

Trepp, Gefühl oder kulturelle Konstruktion, 89. Eva Illouz zeigt dies am Beispiel von Roma-nen des 19. Jahrhunderts: Bei Eheanbahnung sei von Gefühlen nicht die Rede. „Gefühle und Absichten werden vom Leser wie von den Romanfiguren aus den subtilen Veränderungen des Gesichtsausdrucks erschlossen, nicht etwa aus Worten entnommen, die diese Gefühle direkt zum Ausdruck brächten.“ Eva Illouz, Vermarktung der Leidenschaft: Bedeutungswan-del der Liebe im Kapitalismus, in: Westend. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2, 1 (2005), 80–95, 80. Ritualisierte Formen waren das „Fensterln“ oder „Gasslgehen“ ebenso wie eine bestimmte Praxis des Schenkens und Annehmens. Gab die Frau das von einem Verehrer angenommene Präsent beispielsweise nicht innerhalb einer bestimmten Frist zurück, galt dies, wie Beatrice Moring für Finnland gezeigt hat, als Zeichen ihrer Einwilligung in diese Verbindung. Beatrice Moring, Land, Labour, and Love: Household Arrangements in Nine-teenth Century Eastern Finland – Cultural Heritage or Socio-Economic Structure?, in: The History of the Family 4, 2 (1999), 159–184, 175. Vgl. dazu auch das Kapitel „Eheanbahnung und Ehewerbung“ in: Siegrid Westphal, Inken Schmidt-Voges u. Anette Baumann, Venus und Vulcanus. Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit, München 2011, 32–50.

68 Carlo Ginzburg spricht in Bezug auf Inquisitionsakten von einer „Schutzmauer“, die diese zu bilden scheinen und so den Blick auf Vorstellungen der Angeklagten nicht freigeben. Carlo Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Berlin 1996, 15. Zur Diskussion ausgehend von Gerichtsakten vgl. etwa die Position von Michaela Hohkamp, die in diesem Zusammenhang auf die Spiegelung der Herrschaftspraxis verweist. Hohkamp, Herrschaft in der Herrschaft, 23f; vgl. auch Andrea Griesebner, Konkurrierende Wahrheiten.

Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert, Wien/Köln/Wei-mar 2000, insbes. Kapitel V.

61 3. Liebe und Leidenschaft

„Leidenschaft“ –, nicht unbesehen mit heutigen Vorstellungen gefüllt werden. Sie bringen zum Teil Nuancen, Intensitäten und Färbungen zum Ausdruck, für die im gegenwärtigen Sprachgebrauch kaum Entsprechungen greifbar sind.69

Das wichtigste Steuerungselement bei der Formulierung des Matrimonial-examens waren die dem Charakter eines Ansuchens geschuldeten Erfordernisse.

Tendenziell erreichten nahe verwandte oder verschwägerte Paare dieses Stadium des Verfahrens in der Diözese Brixen ohnehin nur dann, wenn die Geistlichen ihr Anliegen unterstützten und ihnen zu einem positiven Ausgang verhelfen wollten.

So lag es nicht nur in ihrer Kompetenz und Verantwortung, sondern auch in ih-rem Interesse, das Gesuch möglichst erfolgversprechend auf die für den weiteren Verlauf des Verfahrens notwendigen Dispensgründe hin zu orientieren. Die be-fragten Personen haben sehr wahrscheinlich auch anderes erzählt, als schriftlich wiedergegeben ist. Das heißt, wenn manche Aspekte sehr präsent sind, andere aber gar nicht vorkommen – wenn zum Beispiel sehr viel über das „Hauswesen“

und die „Versorgung“ geschrieben steht, aber kein Wort über Liebe verloren wird –, lässt dies nicht den Schluss zu, dass es sich um eine ‚gefühllose‘, reine Ver-nunftehe gehandelt habe. Im Protokollieren hat ein Prozess des Auswählens und Hervorhebens stattgefunden und eine zweckdienliche Gewichtung, auch wenn diese dem Konsistorium in Brixen trotzdem oft genug als nicht ausreichend er-schien, um die nächsten Schritte einzuleiten.

Ramón A. Gutierrez hat Dispensansuchen der spanischen Kolonie New Mexiko über einen längeren Zeitraum ausgewertet. Für die Zeit gegen Ende des 18. Jahr-hunderts stellt er fest, dass Paare als Heiratsmotive nicht mehr wie zuvor das See-lenheil oder die Pflichterfüllung, also religiös motivierte Begründungen, nannten, sondern Liebe und Begehren. Er interpretiert dies als Ergebnis des Einfließens des Konzepts der romantischen Liebe, die um 1800 nunmehr als ausreichender Grund für die Wahl eines bestimmten Ehemannes, einer bestimmten Ehefrau an-gesehen worden sei. Erstmals scheint in seinem Quellenmaterial der Begriff „vo-luntad“, den der Autor mit „deseo“ – Verlangen, Begehren – gleichsetzt, in einem Register des Jahres 1798 auf. Darin erklärte José García aus Albuquerque, dass er María Lopez heiraten wolle, „por la creciente voluntad que nos tenemos mutua-mente uno y otra“ – wegen des wachsenden Verlangens, das sie gegenseitig für ei-nander hatten.70 Wenn eine Erklärung dieser Art ausreichte, dann muss von einer milden Form der Dispenspraxis – einem romanischen Modell?71 – ausgegangen 69 Zur Unschärfeproblematik von Wissenschafts- und Quellensprache im Bereich der

Emotio-nen, vgl. Casten/Stedman/Zimmermann, Einleitung, 12.

70 Gutierrez, Cuando Jesús llegó, 390; vgl. auch ders., Honor Ideology, Marriage Negotiation, and Class-Gender Domination in New Mexico, 1690–1846, in: Latin American Perspectives 12, 1 (1985), 81–104, 100f.

71 Das Bild, das Edith Saurer von der venezianischen Dispenspraxis zeichnet, würde darauf

62 werden. In den für die Diözese Brixen ab 1831 überlieferten und für die ersten 33 Jahre auch textanalytisch ausgewerteten Dispensakten kommen Liebesäuße-rungen in fast zwei Dritteln nicht explizit vor. Ein Stück weit dürfte dies den Logi-ken der jeweiligen administrativen Abläufe und den Formen der Fabrikation der entsprechenden Textsorten geschuldet sein und damit der Einschätzung, welche Rhetorik und welche Sprachstrategien die Verfasser der Ansuchen für wirksam erachteten.

Wenn etwa in einem Ansuchen von einer langjährigen Bekanntschaft, von ei-nem sehr vertrauten Umgang die Rede war, konnte dies als Überleitung zu eiei-nem über längere Zeit wirkmächtigen Dispensgrund dienen, nämlich zur conversatio suspecta, dem verdächtigen Umgang, und den damit verbundenen „Gefahren“ der conversatio falsa, des verbotenen Umgangs, der „fleischlichen Vermischung“ und

„Versündigung“ und weiter noch zu einer vermuteten oder tatsächlich bestehen-den Schwangerschaft. Dass es sich bei solchen Passagen um strategisch einsetz-bare und auch als solche eingesetzte Momente handelte, zeigt sich insbesondere dann, wenn ein nach einem abgewiesenen Dispensansuchen aufgenommenes zweites Matrimonialexamen eine deutliche Gewichtsverschiebung der Argumen-tationslinie gegenüber der ersten Version aufweist, und zwar genau in diese Rich-tung gedreht. So kam es immer wieder vor, dass die erste Fassung die Ehrbar-keit und den unanstößigen Lebenswandel von Braut und Bräutigam betonte, die Notwendigkeit der geplanten Eheschließung mit der wirtschaftlichen Situation und den Lebensverhältnissen argumentierte, in der zweiten Fassung hingegen Ökonomie und Alltagsbezüge verblassten und dafür der allzu vertraute Umgang, die zu große Liebe, eine mögliche Schwangerschaft und das drohende „öffentliche Ärgernis“ in den Vordergrund traten. Eine Garantie für den gewünschten Erfolg gab auch dann nicht.

Damit sind die zwei Pole abgesteckt, innerhalb derer sich Dispensansuchen in diesem Zusammenhang bewegten: Emotionale Äußerungen kamen entweder gar nicht vor oder in einer relativ klar strategischen und als causa laesa auf das

„öffentliche Ärgernis“ abzielenden Weise. Dazwischen liegt eine breite Palette an Varianten und Formen, in denen das Sprechen über Liebe in das

Matrimonial-hindeuten, wobei in Mexiko der koloniale Kontext eine liberalere Handhabung zusätzlich befördert haben könnte. Sie verweist auf eine geringe Zahl von Ablehnungen in Venedig im Vergleich zu Niederöstereich und sieht dies in Zusammenhang mit der starken Involvierung der Pfarrer in die einzelnen Dispensfälle. Diese traten unter anderem selbst als Zeugen auf und gewährten öfter finanzielle Unterstützung. In einem dramatischen Fall einer gewalt-samen Trennung konstatiert sie, dass der Bischof von Belluno schließlich „die Macht der Gefühle, ihre Unausweichlichkeit“ zur Kenntnis genommen habe – ein Befund, den man schwerlich auf das fürstbischöfliche Konsistorium in Brixen übertragen kann. Saurer, For-men von Verwandtschaft und Liebe, 263f (Zitat: 264).

63 3. Liebe und Leidenschaft examen eingeflossen ist. Als Antwort des 39-jährigen Anton Hackl auf die Frage nach den Gründen für die geplante Eheschließung mit Elisabeth Reheis folgte ein sehr knapper Passus: „Affectio cordis, aetas Sponsi [sic], er bekomme keine so taugliche wie diese zu seiner Wirthschaft.“72 Deutlicher als durch eine lateinische Version der „Herzensneigung“ lässt sich eine Brechung zwischen der Akteursper-spektive und dem Prozess der Protokollierung kaum zeigen – mitzudenken ist sie stets.

In der Aussage des ebenfalls 39 Jahre alten Witwers Johann Lösch wird die Liebe zu seiner Braut Anna Grabherr nachträglich zwischen den Zeilen ein-geflickt: „Ich gehe schon in das 40ste Lebensjahr, bin genöthiget mich wieder zu verehelichen, weil ich ein Anwesen besitze, das, obgleich klein, viel Sorgen ver-ursacht, ich habe 4 Kinder, von denen das älteste 11, das jüngste 4 Jahre alt ist.

Ich will die Kinder christlich erziehen und bedarf hierzu einer Person, die weder zu jung noch zu alt ist, die mir meine Hauswirthschaft zu führen versteht, und insbesondere die sich es angelegen seyn läßt, die Kinder christlich zu erziehen, Eigenschaften, die ich als Witwer vorzüglich berücksichtigen muß, und einzig in meiner anzuhoffenden Braut“ – als Einschub oberhalb der Zeile: „die ich sehr liebe“ – „zu finden glaube.“73 Hier wird durch die Situationsschilderung primär die Notwendigkeit betont, eine weitere Ehe zu schließen, sowie das Anforderungs-profil der Braut skizziert. Dabei war es offensichtlich doch wichtig – aus Sicht des Bräutigams, des Dekans oder des Schriftführers? –, die Liebe zu erwähnen.

An vordergründig ökonomisch ausgerichteten Ansuchen übte das Konsistorium in Brixen immer wieder Kritik, vor allem, wenn die mit der erwünschten Ehe-schließung verbundenen Besitz- und Vermögensinteressen allzu deutlich zu Tage traten. Emotionale Komponenten konnten gewissermaßen als eine Art Gegenge-wicht dienen und zugleich den beiderseitigen Konsens als Voraussetzung einer Eheschließung nach katholischer Norm untermauern.74

„Achtung“, „Freundschaft“ und „Zuneigung“ gründeten in den Darstellungen vielfach auf den persönlichen Eigenschaften des gewünschten Ehepartners, der Ehepartnerin.75 Sie wurden als solides Fundament angesehen, auf dem man eine Ehe aufbauen konnte. Dies folgte dem frühneuzeitlichen, christlich geprägten Ideal der Ehe. Insbesondere in den Dispensakten aus der ersten Hälfte des 19.

Jahrhunderts findet sich dieses immer wieder: „[Z]udem kenne er diese Person

72 DIÖAB, Konsistorialakten 1835, Fasz. 5a, Römische Dispensen, Nr. 12.

73 DIÖAB, Konsistorialakten 1840, Fasz. 5a, Römische Dispensen, Nr. 25.

74 Vgl. allgemein dazu Daniela Lombardi, Matrimoni di antico regime, Bologna 2001; Silvana Seidel Menchi, Percorsi variegati, percorsi obbligati. Elogio del matrimonio pre-tridentino, in: dies. u. Diego Quaglioni (Hg.), Matrimoni in dubbio. Unioni controverse e nozze clandes-tine in Italia dal XIV al XVIII secolo, Bologna 2001, 17–60.

75 DIÖAB, Konsistorialakten 1841, Fasz. 5a, Römische Dispensen, Nr. 13.

64 und habe wegen ihres Fleißes und ihrer Geschicklichkeit eine besondere Affec-tion gegen selbe.“76 Oder in den Worten des Innsbrucker Handelsmannes Karl

64 und habe wegen ihres Fleißes und ihrer Geschicklichkeit eine besondere Affec-tion gegen selbe.“76 Oder in den Worten des Innsbrucker Handelsmannes Karl