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Grundlage für die Ausbildung der Eheverbote waren die Inzestregeln aus den Büchern Levitikus und Deuteronomium des Alten Testaments.3 In den ersten frühchristlichen Jahrhunderten wurden die darin nur für einzelne Paarkonstel-lationen ausformulierten Bestimmungen weiter ausgearbeitet und sukzessive ergänzt,4 so dass im christlichen Kontext für Männer und Frauen dieselben

Ehe-1 Saurer, Stiefmütter und Stiefsöhne, 365f.

2 Vgl. dazu auch Saurer, Formen von Verwandtschaft und Liebe, 265f.

3 Vgl. Michael Mitterauer, Christentum und Endogamie, in: ders., Historisch-Anthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen, Wien/Köln 1990, 41–85, sowie zu-letzt Gérard Delille, L’economia di Dio. Famiglia e mercato tra cristianesimo, ebraismo, is-lam, Roma 2013, 31–38.

4 Zu diesem Prozess vgl. Michael M. Sheehan, The European Family and Canon Law, in: Conti-nuity and Change 6, 3 (1991), 347–360.

43 1. Eheverbote: Reichweiten und Zählweisen verbote galten. Diese entlang der Inzestgrenze formulierten Eheverbote reichten

schließlich bis zum kaum mehr rekonstruierbaren siebten Verwandtschaftsgrad.

Auf dem IV. Laterankonzil von 1215 schränkte sie Papst Innozenz III. auf den vier-ten Grad ein.5 Nach kanonischer Zählung schloss dies all jene Verwandten ein, die sich auf die gemeinsamen 16 Ururgroßmütter und Ururgroßväter zurückführen lassen. Für Katholiken galt diese Norm bis zum Jahr 1917, in dem der „Codex Iuris Canonici“ in Kraft trat und die Eheverbote nach 700 Jahren ein weiteres Mal redu-zierte. Ab 1912 entstanden die ersten Teilentwürfe, die kirchlichen Obrigkeiten zur Begutachtung vorgelegt wurden. Öffentliche Debatte darüber gab es keine; es galt strengste Schweigepflicht.6

Der Codex von 1917 schaffte die Dispenspflicht für den vierten Grad der Bluts-verwandtschaft sowie für den dritten und vierten Grad der Schwägerschaft ab;

ebenso schränkte er die mit der Patenschaft7 verbundenen Ehehindernisse 5 Vgl. Mitterauer, Christentum und Endogamie; Goody, Die Entwicklung von Ehe. Um den vierten Grad herum bewegten sich zumeist auch die Reglements der adeligen Ahnenprobe.

Vgl. Josef Matzerath, Die Einführung der Ahnenprobe in der kursächsischen Ritterschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Harding/Hecht, Die Ahnenprobe in der Vor-moderne, 233–245. Er zitiert eine Regelung, der zufolge zwischen der stiftsfähigen Ritter-schaft, die „16 richtige Ahnen beyzubringen“ hatte, und jenen, die nicht „bis ins 3.te und 4.te Glied aufsteigende Linien“ an „undatelhaffte[n] Ahnen“ vorweisen konnten, unterschieden wurde (ebd., 236). Zu den entsprechenden Regelungen der Rheinischen Reichsritterschaft vgl. Christophe Duhamelle, L’heritage collectif. La noblesse d’Église rhenane, 17e–18e siècles, Paris 1998; ders., The Making of Stability. Kinship, Church and Power among the Rhenish Imperial Knighthood, Seventeenth and Eighteenth Century, in: Sabean/Teuscher/Mathieu, Kinship in Europe, 125–144; Sylvia Schraut, „Die Ehen werden in dem Himmel gemacht“.

Ehe- und Liebeskonzepte der katholischen Reichsritterschaft im 17. und 18. Jahrhundert, in:

Claudia Opitz, Ulrike Weckel u. Elke Kleinau (Hg.), Tugend, Vernunft und Gefühl: Geschlech-terdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, Münster 2000, 15–32; dies., „Doch das bei weitem schwierigste Ehehindernis ist das der Verwandtschaft“: Verbotene Ehe zwischen Inzest Tabu und dem Gedeihen der Adelsfamilie (Deutsches Reich 17./18. Jh.), in:

Copenhagen, The Royal Library 2005: http://www.kb.dk/export/sites/kb_dk/da/publika-tio ner/online/fund_og_forskning/download/A11B_Schraut-GER.pdf (Zugriff: Januar 2008);

dies., Das Haus Schönborn – eine Familienbiographie. Katholischer Reichsadel 1640–1840, Paderborn 2005; dies., Familie ist mehr als die Summe ihrer Mitglieder – Verwandtschafts-beziehungen katholischen stiftsfähigen Reichsadels, in: WerkstattGeschichte 46 (2007), 13–24.

6 Vgl. Ulrich Stutz, Der Geist des Codex juris canonici. Eine Einführung in das auf Geheiß Papst Pius X. verfaßte und von Papst Benedikt XV. erlassene Gesetzbuch der katholischen Kirche, Stuttgart 1918, 21. Vorläufer war das Corpus Iuris Canonici, eine Rechtssammlung, die aus mehreren Büchern besteht und auf Initiative von Pius X. ab dem Jahr 1904 zusammenge-fasst und neu geordnet wurde. Vgl. dazu Christina Deutsch, Ehegerichtsbarkeit im Bistum Regensburg (1480–1538), Köln/Weimar/Wien 2005, 29–31.

7 Die im Laufe des Mittelalters als geistliche Verwandtschaft konzipierte Patenschaft zog ihrerseits eine ganze Reihe von Eheverboten nach sich: Diese betrafen die Getauften und Gefirmten und deren Patinnen und Paten sowie die Eltern der Getauften beziehungsweise

44 ein.8 Eine weitere Zurücknahme der Eheverbote erfolgte im Jahr 1983 mit ei-ner neuen Fassung des Codex Iuris Canonici. Damit waren nun auch von Seiten der Kirche Eheschließungen zwischen Schwager und Schwägerin sowie zwischen Cousin und Cousine erlaubt. Verboten bleiben weiterhin Verbindungen zwischen Stiefeltern und Stiefkindern, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz je-doch zivilrechtlich möglich sind.9

Zivilrechtliche Kodifikationen des 18. Jahrhunderts vertraten hinsichtlich der Reichweite von Eheverboten konfessionell und politisch geprägt unterschiedliche Positionen: Der Codex Maximilianeus Bavaricus civilis, das Bayerische Landrecht von 1756, folgte den Eheverboten des kanonischen Rechts.10 Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 hingegen verbot nur Ehen in der geraden Linie zwischen Blutsverwandten sowie zwischen Geschwistern, Stiefel-tern und Stiefkindern, SchwiegerelStiefel-tern und Schwiegerkindern. „In allen übrigen Graden der Verwandtschaft und Schwägerschaft“, hieß es dort, „ist die Ehe er-laubt, und bedarf es dazu keiner Dispensation“. Nur im Fall einer Eheschließung mit einer Tante oder einer anderen Verwandten der aufsteigenden Linie, „die an Jahren älter ist“, war eine staatliche Erlaubnis nötig.11 Diese geschlechtsspezi-fisch einseitig formulierte Regelung stand in der Tradition des respectus paren-telae, der älteren Verwandten entgegenzubringenden Achtung, die hier nur auf die Konstellation zwischen Neffe und Tante beschränkt war und nicht auch für Nichte und Onkel galt. Das josephinische Ehepatent von 1783 nahm im Vergleich dazu eine Zwischenposition ein, indem es die Eheverbote von vier auf zwei Grade reduzierte. Ebenso wie die kirchlichen wiesen so auch die zivilrechtlichen

Rege-Gefirmten. Vgl. dazu Anita Guerreau-Jalabert, Spiritus et Caritas. Le baptême dans la société médiévale, in: Françoise Héritier-Augé u. Elisabeth Copet-Rougier (Hg.), La parenté spiritu-elle, Paris 1995, 133–203; Alfani, Padri, padrini.

8 Codex Iuris Canonici, 1917, can. 1076, §§ 1, 2, 3; can. 1077, can. 1079; online zugänglich unter http://www.codex-iuris-canonici.de/ (Zugriff: Januar 2010).

9 Für einen tabellarischen Überblick hinsichtlich der Eheverbote für Bluts- und Adoptivver-wandte sowie für Verschwägerte in den einzelnen europäischen Ländern auf dem Stand der 1980er Jahre gibt Hürlimann, Die Eheschließungsverbote, 140f. Seitdem sind allerdings weitere Liberalisierungen erfolgt.

10 Das Bayerische Landrecht vom Jahre 1756 in seiner heutigen Geltung, hg. von Max Danzer, München 1894, 1. Teil, 6. Kap. § 9: „Die Ehe hat nicht statt 1. unter Bluts-Verwandten in auf- und absteigender Linie, soweit sich solche immer erstreckt, in der Seiten-Linie aber bis auf den vierten Grad inclusive nach geistlichen Rechten gerechnet.“ Punkt zwei betrifft die geistliche Verwandtschaft und Punkt drei die Verbote in Bezug auf an Kindes statt ange-nommene Personen und deren Zieheltern. „4. Zwischen Verschwägerten bis in den vierten Grad der Schwagerschaft, oder da selbe etwa aus unehelichem Beischlaf entstanden ist, bis in den zweiten Grad derselben inclusive nach Ausrechnung der geistlichen Rechte.“

11 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, 1794, zweiter Teil, erster Titel, §§ 3 bis 5, § 7 und § 8.

45 1. Eheverbote: Reichweiten und Zählweisen lungen deutliche Unterschiede auf. Zugleich standen sie in Relation zum jeweils

geltenden kirchlichen Recht.

In unterschiedlichem Maß adressierte ziviles und kirchliches Recht mit den Eheverboten Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft. Größeres Forschungsin-teresses gilt fraglos der Blutsverwandtschaft, vor allem wenn biologisch-medi-zinische Aspekte im Blickfeld stehen. Verwandtschaftsauffassungen sind jedoch als „Denkweise sozialer Beziehungen“ jeweils historisch, kulturell und rechtlich bedingt.12 Deshalb macht die Unterscheidung zwischen biologischer Verwandt-schaft, begründet durch Abstammung, und anderen Formen wie Schwägerschaft als über eine Heirat hergestellte Verwandtschaft oder Patenschaft, die vielfach als rituelle, fiktive oder metaphorische Verwandtschaft bezeichnet wurde,13 aus theoretischer Perspektive keinen Sinn, wie Bernhard Jussen betont hat. Nach kirchlicher Norm, die über die Eheverbote auch bis ins kleinste Dorf vermittelt wurde, waren alle drei Beziehungsformen als Verwandtschaft konzeptualisiert und sind als solche im Forschungszugang anzuerkennen. Das bedeutet, dass das

„Verhältnis von Biologie und Verwandtschaft“ vielmehr „ein Gegenstand der Ver-wandtschaftsforschung“ sein muss, nicht „eine Voraussetzung“.14 Verwandtschaft kann demnach als eine Wissensformation verstanden werden, die im jeweiligen Kontext unterschiedliche Komponenten aufweist und in ihrer Konstituierung un-terschiedlichen Logiken folgt.

Eine Reihe markanter Ereignisse hatte zur Folge, dass das geltende Eherecht – und damit sehr ausführlich auch die Frage der Ehehindernisse, der Verwandten-ehen und der Dispensen – ab dem ausgVerwandten-ehenden 18. Jahrhundert in einer Vielzahl von Handbüchern, Lehrbüchern, Kommentaren und Abhandlungen aus säkularer und kirchlicher sowie einer zwischen diesen vermittelnden Perspektive behan-delt wurde. Dazu zählen die staatlichen Eingriffe in das Eherecht, insbesondere der Erlass des Josephinischen Ehepatents 1783, das die Ehe als bürgerlichen Ver-trag definierte und in seinen grundlegenden Bestimmungen vom Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch 1811 übernommen wurde, und die Liberalisierung der Inzestparagraphen im Strafrecht sowie die mit dem Konkordat von 1855 (RGBl.

195) insbesondere in Hinblick auf die Ehehoheit wiederum erstarkte Position der katholischen Kirche in Österreich. In diesen Jahrzehnten einer zwischen Kirche

12 Bernhard Jussen, Künstliche und natürliche Verwandtschaft? Biologismen in den kultur-wissenschaftlichen Konzepten von Verwandtschaft, in: Yuri L. Bessmertny u. Otto Gerhard Oexle (Hg.), Das Individuum und die Seinen. Individualität in der okzidentalen und der rus-sischen Kultur in Mittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 2001, 40–58, 40. Gegen eine Bio-logisierung von Verwandtschaft wandten sich auch Yanagisako/Collier, Towards a Unified Analysis.

13 Vgl. Jussen, Spiritual Kinship as Social Practice.

14 Jussen, Künstliche und natürliche Verwandtschaft, 42.

46 und Staat um die Definitionsmacht von Ehe entfachten Konkurrenz scheint es wichtig gewesen zu sein, auf den ersten Blick die Positionierung des Verfassers zu erkennen. Dem entsprechend deklarierten sich die Autoren auf den Titelinnen-seiten ihrer Werke. Wolfgang Dannerbauers „Praktisches Geschäftsbuch für den Curat-Clerus Oesterreichs“, führte dort noch im ausgehenden 19. Jahrhundert jene Ordinariate und Konsistorien an, die dieses Geschäftsbuch „gutheißen“ wür-den, darunter finden sich die Diözesen Salzburg und Trient.15 Dass es sich dabei um ein schwieriges Terrain handelte, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass zwei la-teinische, im Studium eingesetzte Lehrbücher des Kirchenrechts, jene von Georg Rechberger und Matthias Dannermayer, im Januar 1820 auf den Index der ver-botenen Bücher gesetzt wurden. Diesem Akt kam als einem „Manifest gegen die staatliche Gesetzgebung in Österreich“ auch eine symbolische Bedeutung zu.16

Tendenziell überwogen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Werke, die im Kontext des zivilen Rechts zu verorten sind, während ab Mitte der 1850er Jahre zahlreiche Bücher im katholisch-kirchlichen Umfeld erschienen. Die Autoren beschränkten sich zumeist nicht darauf, die aktuelle Gesetzeslage darzustellen, sondern lieferten auch Begründungen, darunter solche in Hinblick auf Sinn und Zweck von Ehehindernissen. Sie boten damit Einblicke in die Konstruktion der Eheverbote wie auch von Verwandtschaft und Schwägerschaft. Die gängigen Ar-gumente kehrten vielfach wieder, mehr oder weniger wörtlich abgeschrieben oder leicht abgewandelt, manchmal durch weitere ergänzt.17 Nicht nur Vertre-ter des kanonischen Rechts verteidigten die Eheverbote, jene des zivilen Rechts schlossen sich, zumindest auf die nahen Grade bezogen, nahtlos an. Gegenstim-men finden sich insgesamt selten – wie jene von Jacques Bertillon, der sich gegen den katholischen Diskurs wandte und konsanguine Eheschießunngen in ein po-sitives Licht rückte.18

15 Wolfgang Dannerbauer, Praktisches Geschäftsbuch für den Curat-Clerus Oesterreichs, Wien 1893.

16 Ferdinand Maaß, Der Josephinismus. Quellen zu seiner Geschichte in Österreich 1760–1850.

Amtliche Dokumente aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv und dem Allgemeinen Verwal-tungsarchiv in Wien sowie dem Archivio Segreto Vaticano in Rom, Bd. 5: Lockerung und Aufhebung des Josephinismus 1820–1850, Wien 1961, Kap. 3: Der Kampf um das Lehrbuch des Kirchenrechts (1820–1837), 51–73, 51. Bei den verbotenen Büchern handelte es sich um das Enchiridion juris ecclesiastici austriaci von Georg Rechberger und die Institutiones his-toriae ecclesiasticae von Matthias Dannermayer.

17 Daneben gab es auch einzelne Autoren, die einen partikularistischen Standpunkt vertraten.

Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang Joseph Valentin Eybel, Nichts Mehreres von Ehe-dispensen als was Religion, Recht, Nutzen, Klugheit und Pflicht fordert, Wahrheitsthal 1782.

18 Jacques Bertillon, Artikel „Mariage“, in: Dictionnaire encyclopédique des sciences médica-les, série 2, Bd. 5, Paris 1874, 7–83, insbes. 61f. Für diesen Hinweis danke ich Domenico Rizzo.

47 1. Eheverbote: Reichweiten und Zählweisen Hintergrundfolie dieser breiten Auseinandersetzung bezüglich der Reichweite

der Eheverbote, deren Klassifizierung sowie der Art und Weise des Zählens von Verwandtschaftsgraden waren die Divergenzen zwischen kirchlichem und staat-lichem Recht. Im kirchlichen Kontext galt die so genannte kanonische Zählung.19 Geschwister bilden dabei eine Einheit; sie sind im ersten Grad verwandt und for-mieren die erste Generation. Deren Kinder, Cousins und Cousinen ersten Grades, sind als die nächste Generation im zweiten Grad miteinander verwandt. Analog dazu wurde der dritte und vierte Grad bestimmt. Die Verwandtschaftsgrade folg-ten den Generationsschritfolg-ten in Distanz zum Ausgangspaar, nach dem Motto: „Tot sunt gradus, quot sunt generationes“. Die Grade der Schwägerschaft wurden auf dieselbe Weise ermittelt, wobei diese jeweils dem Grad der Blutsverwandtschaft entsprachen, der den verstorbenen Ehepartner beziehungsweise die verstorbene Ehepartnerin mit der Braut oder dem Bräutigam verbunden hat. Davon unter-schied sich die zivilrechtliche Zählung, die sich an der Anzahl der dazwischen lie-genden Zeugungen orientierte: Während Cousin und Cousine nach kanonischer Zählung im zweiten Grad blutsverwandt sind, sind sie dies nach ziviler Zählung im vierten Grad. Entsprechend der primär kirchlichen Provenienz des Quellen-materials beziehen sich die in dieser Arbeit angegebenen Grade, sofern nicht an-ders deklariert, auf die kanonische Zählung.

Je nach Nähe des Verwandtschaftsgrades unterschiedlich gestaltete sich die Möglichkeit einer Dispensierung. Verbindungen zwischen Aszendenten und Deszendenten, Blutsverwandten in der geraden Linie – Großeltern, Eltern, Kin-dern usw. – standen sowohl von kirchlicher als auch zivilrechtlicher Seite nicht zur Debatte, auch wenn die „zwar sehr controverse, aber wahrlich sehr unnütze Frage“, ob nicht auch dieses Ehehindernis nur bis zum vierten Grad reiche, den-noch vereinzelt gestellt wurde.20 Aus Sicht der Kirche fielen sie unter das göttliche Recht, das ius divinum, und galten im Grunde bis ins Unendliche als ein sexuelles Tabu, das es in allen „civilisierten“, „gebildeten Völkern“ gäbe und das auf einer

„natürlichen Abscheu“ basiere,21 also gewissermaßen in den Körper eingeschrie-ben gedacht wurde. Thomas Dolliner suchte als Vertreter des zivilen Rechts nicht in einer Art „natürlicher“ Veranlagung eine Erklärung dafür, sondern betonte die

19 Vgl. dazu beispielsweise Nikolaus Knopp, Vollständiges katholisches Eherecht. Mit beson-derer Rücksicht auf die practische Seelsorge, vermehrte und verbesserte 4. Auflage, Regens-burg 1873, 158; Goody, Die Entwicklung von Ehe, 151–156.

20 Theodor Pachmann, Lehrbuch des Kirchenrechtes mit Berücksichtigung der auf die kirchli-chen Verhältnisse Bezug nehmenden österreichiskirchli-chen Gesetze und Verordnungen, Bd. 2/1, Wien 1851, 265, Anm. 4.

21 Knopp, Vollständiges katholisches Eherecht, 1873, 200; vgl. auch Heinrich Brandhuber von Etschfeld, Über Dispensation und Dispensationsrecht nach katholischem Kirchenrecht, Leipzig/Wien 1888, 19–24.

48 Unvereinbarkeit von Sexualität einerseits und Vertraulichkeit und Respekt ande-rerseits: Er erachte, schrieb er, solche Verbindungen „für sittlich unerlaubt, weil die gegenseitige Vertraulichkeit zwischen Ehegatten mit der Ehrfurcht, welche Nachkömmlinge ihren Vorältern schuldig“ seien, „im Widerspruche zu stehen“

scheine.22 In solchen Konstellationen konnte nicht um Dispens angesucht werden.

Zwar nicht mehr unter das „göttliche Recht“ fielen zwei weitere nahe Verbin-dungen, die aber wegen ihrer Nähe dazu ebenfalls nicht dispensierbar waren:

jene im ersten Grad der Seitenlinie, also zwischen Geschwistern, sowie jene im ersten Grad der Schwägerschaft in direkter Linie, zwischen Stiefeltern und Stief-kindern. In der darüber hinausgehenden Verwandtschaft und Schwägerschaft wurde zwischen nahen und ferneren Graden unterschieden. Für die Dispensie-rung Ersterer war im Untersuchungszeitraum und aus kirchlicher Sicht der Papst zuständig, für letztere der Bischof. Wie weit die als nah im Sinne päpstlicher Kom-petenz definierten Grade reichten, hing von den Vollmachten ab, welche die ein-zelnen Bischöfe bei ihrem Amtsantritt von Rom aus erteilt bekamen. Die Trenn-linie zwischen bischöflich und päpstlich verlief in den untersuchten Diözesen im 19. Jahrhundert diesseits oder jenseits des zweiten und dritten ungleichen Gra-des. Solche Zwischengrade kamen durch Generationenverschiebungen zustande.

In der Blutsverwandtschaft war der zweite und dritte ungleiche Grad dann gege-ben, wenn ein Mann die Tochter eines Cousins oder einer Cousine heiratete oder umgekehrt eine Frau den Sohn eines Cousins oder einer Cousine (siehe Abb. 2).

Thomas Dolliner, der Kommentator des österreichischen Allgemeinen Bürgerli-chen Gesetzbuches, trat nicht zuletzt deshalb für die zivilrechtliche Zählung ein, da diese die Verwandtschaftsverhältnisse in den ungleichen Verwandtschafts-graden „viel bestimmter“ anzugeben erlaube. Auf Grundlage der Regel „[s]o viel Zeugungen, so viel Grade“ könnten auch die ungleichen Grade mit einer Zahl aus-gedrückt werden.23

Sehr selten und umstritten waren Verbindungen zwischen Onkel und Nichte.

Nach kanonischer Zählung handelte es sich dabei um Blutsverwandtschaft im ersten und zweiten ungleichen Grad. Zum einen kam diese Verbindung, da sie den ersten Grad berührte, in die Nähe der geraden Linie, also jener Linie zwischen Vater und Tochter. Zum anderen wurde gegenüber dem Vater- und Mutterbruder sowie der Vater- und Mutterschwester ein respectus parentelae, also ein besonde-res, auf Achtung und Ehrerbietung gründendes Verhältnis geltend gemacht, das als unvereinbar mit einer sexuellen Beziehung galt.24

22 Thomas Dolliner, Handbuch des in Oesterreich geltenden Eherechts, Wien/Triest 1813, 181.

23 Dolliner, Handbuch, 1813, 179f.

24 Darauf verwiesen ist etwa bei Franz Stapf u. Carl Egger, Vollständiger Pastoralunterricht über die Ehe, oder über das gesetz- und pflichtmäßige Verhalten des Pfarrers vor – bei und nach der ehelichen Trauung, nach den Grundsätzen des katholischen Kirchenrechts, mit

49 1. Eheverbote: Reichweiten und Zählweisen

Abbildung 2: Zweiter und dritter ungleicher Grad der Blutsverwandtschaft25

In der Schwägerschaft fiel im Unterschied zur Blutsverwandtschaft auch der erste Grad der Seitenlinie unter die dispensfähigen Verbindungen, nämlich Eheschlie-ßungen zwischen Schwager und Schwägerin. Da es im katholischen Kontext keine Ehescheidung mit Wiederverheiratungsmöglichkeit gab, war bei einer Ehe in der Schwägerschaft immer mindestens ein Partner verwitwet:26 Im ersten Grad der Schwägerschaft heiratete ein Witwer eine Schwester seiner verstorbenen Frau oder eine Witwe einen Bruder ihres verstorbenen Mannes oder – was in den ausgewerteten Dispensakten äußerst selten vorkam – ein Witwer eine mit ihm

steter Rücksicht auf Civilgesetze, Frankfurt a. M. 18396, 235. Dabei handelt es sich um einen späteren Zusatz. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass Dispensansuchen in dieser Konstel-lation nun häufiger vorkamen als zuvor.

25 Stammbaum aus dem Dispensansuchen des Georg Neuner und der Maria Oberthanner aus Telfs, Diözesanarchiv Brixen (DIÖAB), Konsistorialakten 1858, Fasz. 5a, Römische Dispen-sen, Nr. 30.

26 Ausgenommen davon ist die Schwägerschaft, die auf vorehelichen sexuellen Kontakten gründet (affinitas ex copula illicita).

50 verschwägerte Witwe. Bei einer Schwägerschaft vom ersten zum zweiten Grad handelte es sich bei Braut oder Bräutigam um eine Nichte oder einen Neffen des verstorbenen Ehepartners, bei einer Schwägerschaft im zweiten Grad um eine Cousine oder einen Cousin.

Neben der auf einer Heiratsallianz begründeten Schwägerschaft stellte die so genannte „unehrbare Schwägerschaft“ oder affinitas ex copula illicita ein Ehehin-dernis dar. Diese entstand durch vorehelichen sexuellen Kontakt zwischen dem Bräutigam und einer Schwester, Nichte oder Cousine der Braut beziehungsweise mit einem Bruder, Cousin oder Neffen des Bräutigams.27 Bezeichnet wurde dieses Ehehindernis aus unerlaubtem Beischlaf auch metaphorisch: aus „unerlaubtem Bett“, ex thoro illicito. Dem zugrunde gelegt ist das auf den Korintherbrief (1. Kor.

6, 16) gestützte Konzept von Schwägerschaft des kanonischen Rechts, das diese nicht an die Eheschließung koppelt, sondern an den Beischlaf: Affinitas est perso-narum proximitas proveniens ex coitu. Aus der Aufzählung des potenziell in Frage kommenden Personenkreises ist ersichtlich, dass für diese Art der Schwägerschaft nicht bis zum vierten, sondern nur bis zum zweiten Grad Dispenspflicht bestand.

6, 16) gestützte Konzept von Schwägerschaft des kanonischen Rechts, das diese nicht an die Eheschließung koppelt, sondern an den Beischlaf: Affinitas est perso-narum proximitas proveniens ex coitu. Aus der Aufzählung des potenziell in Frage kommenden Personenkreises ist ersichtlich, dass für diese Art der Schwägerschaft nicht bis zum vierten, sondern nur bis zum zweiten Grad Dispenspflicht bestand.