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Solange nach der Gesetzesvorgabe die Unterbringung zwecks Gefah-renabwehr in einem Krankenhaus stattfinden muss, bleibt dem gemein-depsychiatrischen System nur die Möglichkeit, in enger Kooperation und unter der Aufsicht und Kontrolle des Krankenhauses, halbgeschlossene, halboffene oder offene, kontrollierende und rehabilitierende Angebote zu schaffen. Ängste von Mitarbeitern müssen hierbei genauso bearbeitet werden, wie die der Nachbarn und Angehörigen. Kontrollen sollten als Hilfsangebot verstanden werden.

FALLBEISPIEL Andreas B. zog nach 16 Jahren im Maßregelvollzug kurz vor Weihnachten in eines unserer Projekte. Man besprach die Feiertage. Ja, er freue sich drauf. Freiheit genießen, Feuerwerk an Sylvester anschauen, einfach draußen rumlaufen. Beeindruckend war der Nachmittag seines ersten 31.12. in Freiheit nach so langer Zeit. Er bat das anwesende Per-sonal um ein Gespräch. Man möge doch bitte aufpassen, dass er nicht einfach rausgeht. Er möchte doch lieber in seinem Zimmer bleiben.

Warum? Er dürfe doch ... Ja, aber er würde sicher an der nächsten Eck-kneipe nicht vorbeikommen, sagte er. Silvester bedeutet, sich zu betrin-ken. Er hat dann mit den Kollegen vom obersten Stock das Feuerwerk betrachtet, eine Kaffeetasse in der Hand und nach seinen Aussagen mit einem sehr freiheitlichen Gefühl. Selber die Entscheidung zu haben, war Freiheit genug. ô

Es bedarf der Schulung, wie Kontrollen durchgeführt werden und wem sie dienen. Das Personal des maßregelnden Krankenhauses fordert im-mer für jeden Taschenkontrollen, Medikamente geben unter Sicht und natürlich die direkte Anwesenheit der Nachtwache für alle. Für uns ist es nötig, über Fallbesprechungen und individuelle Planungen heraus-zubekommen, wo die eventuell gegebene Gefährdung und damit die Gefährlichkeit des Einzelnen liegt. Demjenigen, der unter einer Alko-holabhängigkeit leidet und bei dem dies auch zum Zeitpunkt der Tat ausschlaggebend war, sollten regelmäßig und konsequent Kontrollen angeboten werden. Hier muss die Problematik besprochen werden, in welchen Lebensmitteln Alkohol zu finden ist, dass ein neu erworbener Pullover mit der Aufschrift »Jack Daniels« eine Aussage ist und ob in Branntweinessig auch Branntwein zu finden ist.

Im Gegensatz hierzu gibt es z. B. neuere Drogen, die sich kaum oder gar nicht im Alltag nachweisen lassen. Die Kontrolle von Tees oder Gewürzen auf deren Vorhandensein im Haushalt des Betroffenen über-steigt schlicht die Möglichkeiten des Personals. So ist hier auf eine gute Beobachtung und ebenso gute Absprachen mit dem Betroffenen und den Therapeuten der Maßregel zu bauen, ob und inwieweit eventuelle Veränderungen des Betroffenen zur Zunahme von Gefährlichkeitsmo-menten führen. So steht der Mitarbeiter mit seiner gut ausgebildeten Beobachtungsgabe, seiner Fachlichkeit wieder im Mittelpunkt.

In der ambulanten Betreuungs- und Beratungsarbeit spricht man von Beziehungsaufbau und vertrauensbildenden Maßnahmen. Wie aber baut ein gemaßregelter Mensch, der im Kontakt mit Richtern, Staatsanwälten,

Vor der Mauer, hinter der Mauer oder kurz mal Transitstrecke 125

der Gesellschaft, dem Wachpersonal und seinen Therapeuten gelernt hat, nicht zu vertrauen und nur die richtigen Sätze zu sagen, Vertrauen auf?

Wie kontrolliert man die Tasche oder den Schrank eines Bewohners, von dem man sich gleichzeitig wünscht, erhofft und braucht, dass er Vertrauen hat und ehrlich antwortet, wie es ihm geht?

Die hohe Kunst, sich in die Schere des kontrollierenden Vertrauens zu begeben, ist für beide Seiten Offenheit. Der professionelle Kollege kann ohne die Mitarbeit des Erkrankten genauso wenig ausrichten, wie der Betroffene ohne seine Hilfe. Dies sollte von Beginn an auch so benannt werden. Der bislang Untergebrachte ist Kontrolle weit mehr gewohnt als Beziehungsarbeit, während der Mitarbeiter genau umgekehrt zu lernen hat. In der Offenheit und Klarheit über diese Schere verringert sich der Abstand, und es kann eine Basis gefunden werden. Eine Basis des gegenseitig respektvollen Umgangs.

Robert K. zog mit Neueröffnung in ein kleines Appartement im Rah-men eines Projekts, welches in enger Kooperation mit dem örtlichen Krankenhaus des Maßregelvollzuges konzipiert und gebaut worden war. Menschen, die im stationären Rahmen nicht die Möglichkeit in-dividueller Förderung erhalten, bei denen aber aufgrund mangelnder Erfahrung oder schon zu langer Aufenthaltszeit eine Prognosestellung zur Gefährlichkeit schwierig ist, sollten hier aufgenommen und gezielt individuell gefördert werden. Dem Grundsatz nach sollte dies stets im Heimatbezirk stattfinden. Doch die Anforderungen der Maßregel zu kontrollieren, Taschen auch mal zu durchsuchen, Alkoholtests spontan durchzuführen, Besucher zu reglementieren, Anwesenheiten und Tages-pläne zu überwachen, stehen noch immer vielerorts im Gegensatz zum Denken des ambulanten Systems bezüglich Selbstbestimmung, Eigen-verantwortung und Angst.

So wurde für den Übergang ein Projekt gegründet. Überwindbare Si-cherheit war und ist das große Stichwort. Fenster, die verschlossen sind, sich aber mit einem groben Griff herausziehen lassen. Türen, die nachts verschlossen sind, aber tagsüber derart viel alleinige Ausgänge, dass eine Flucht nachts sich erübrigt. Individuelle Hilfepläne mit gestuftem Medikamententraining, mit Herantasten an den Herkunftsbezirk, an die Gegend, in der das Delikt begangen wurde, dabei respektvoller Umgang mit dem Betroffenen selbst, seinen Angehörigen, Freunden und anderen Bezugspersonen. Es wurde also versucht, dem ambulanten System die Kontrollen nicht aufzuerlegen bzw. schrittweise abzubauen sowie dem

Maßregelvollzug die Auseinandersetzung zu erleichtern mit dem Sys-tem der Freiheit. Die Menschen beziehen kleine möblierte, aber eigene Appartements.

Das Pflegepersonal brachte bei jedem Einzelfall Argumente zu angeblich mangelnden lebenspraktischen Fähigkeiten und betonte, die betroffene Person bräuchte eine Vollversorgung mit Essen, könne nicht Wäsche waschen, nicht mit Geld umgehen und hätte keine Bezugspersonen. Doch die Praxis zeigt, dass bereits nach einigen Tagen des Aufenthalts in den eigenen vier Wänden erstaunliche Fähigkeiten zu Tage kommen. Nach nunmehr acht Jahren Projektlaufzeit gibt es keinen einzigen Bewohner, der eine Versorgung mit Lebensmitteln durch das Personal benötigt.

Selbstverständlich kann der eigene Umgang mit Geld und die Gestaltung der Haushaltskasse auch eine einseitige Ernährung mit sich bringen, z. B.

täglich Pizza aufbacken oder der Döner von der Ecke.

Lediglich die Zeit zeigt uns, dass eine Einschätzung zu lebenspraktischen Dingen oder zum Bezug zur Herkunftsumgebung, zu Beziehungen, die man im Maßregelvollzug nicht aufrecht erhalten konnte, die aber plötz-lich draußen wieder da sind – dass all diese Einschätzungen aus dem vollstationären Bereich einfach nicht getroffen werden können. In steter und enger Kooperation mit den Ärzten der Maßregel kann so auf kleinste stressbehaftete Verhaltensweisen des Bewohners eingegangen werden.

Hier dient die Maßregel durch eine kurze Rücknahme von zwei bis drei Tagen, z. B. nach einem Alkoholrückfall, durchaus als Erholung und Besinnung, aber nicht nur und auch nicht mehr als »Strafe«.

Robert K. hatte von einer Stationsleitung gehört, er solle sich doch Zettel machen, wenn er mal die Medikamente vergisst. Robert machte sich Zettel für die Pillen, Zettel für die Termine, Zettel für Verabredungen und Zettel für Einkäufe. In kürzester Zeit war das kleine Appartement vollgeklebt mit Zetteln, an allen Küchentüren leuchteten gelbe Post-its, und kleine pinkfarbene Klebeherzen zierten die Fensterscheiben. Die Zettel halfen Robert nicht, sich zu erinnern, vielleicht aber, sich daran zu erinnern, wo er den Tipp gelernt hatte und wo er auf keinen Fall wieder hinwollte. Auf gar keinen Fall.

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Versorgungsverpflichtung