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Gegensteuern: Die Psychiatrie der Zukunft ist eine ambulante Psychiatrie!

Zwei zentrale Probleme behindern aktuell neue Ansätze in der Versor-gung: Das erste Problem: Das Ausmaß der Behandlungsdichte einerseits und die Art des Behandlungssettings andererseits sind eng aneinander gekoppelt. Intensive, multiprofessionelle Behandlungs- und Unterstüt-zungsarrangements sind nach wie vor fast ausschließlich im stationären Bereich verfügbar (Abbildung 1).

ABBILDUNG 1 Strukturelle Koppelung von Unterstützungsdichte und Unterstützungs-setting

Das zweite Problem: Es gibt eine massive Finanzierungs- und Versor-gungslücke Abbildung 2 zeigt für den Bereich der Behandlung einen Vergleich der Behandlungskosten je Tag, umgerechnet auf sieben Tage je Woche und 30 Tage je Monat, angelehnt an das aktuelle Vergütungs-niveau in Nordrhein-Westfalen. Es wird deutlich, dass die tagesklinische Behandlung etwa achtmal teurer ist als die aufwendigste ambulante Behandlung in der PIA. Ähnliches gilt für die Eingliederungshilfe, wenn man die Kosten für z. B. drei Fachleistungsstunden je Woche im Betreu-ten Wohnen vergleicht mit dem Tagesentgelt für einen Heimplatz.

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ABBILDUNG 2 GKV-finanzierte Tageskosten (kalkuliert auf 7 T./Wo. und 30 T/Mo.)

Auch um die Intensität der Unterstützung von ihrem Setting unabhängig zu machen und die Versorgungslücke zu schließen, sind in den letzten Jahren in zahlreichen Regionen Deutschlands Modelle der Integrierten Versorgung nach § 140 ff. SGB V entstanden.4 Das Hauptproblem dieser Ansätze besteht darin, dass sie zumeist auf Selektivverträgen einzelner Krankenkassen beruhen: Patienten müssen sich bewusst für diese Mo-delle entscheiden und sich »einschreiben«. Viele lehnen dies aber ab.

Hinzu kommt, dass sich die IV-Modelle verschiedener Krankenkassen, soweit diese überhaupt vorhanden sind, mehr oder weniger deutlich voneinander unterscheiden.

So entstehen löchrige Flickenteppiche unterschiedlichster Versorgungs-modelle, die eine stimmige regionale Gesamtversorgung für alle Patienten de facto ausschließen und die Leistungsanbieter ganz praktisch vor kaum lösbare Probleme stellt. Auch aufseiten der Leistungsträger wächst deshalb die Erkenntnis, dass selektive Modelle die Versorgungsprobleme nicht lö-sen, sondern tendenziell verschärfen. Die Weiterverfolgung von Ansätzen der Integrierten Versorgung ist nur dann sinnvoll, wenn die psychiatri-schen Krankenhäuser einbezogen werden, statt mit ihnen in Konkurrenz zu treten, und wenn über Verträge, die möglichst alle Krankenkassen einbeziehen, wenigstens annähernd eine Flächendeckung erreicht wird.

Das vorgesehene neue Modell der psychiatrischen Krankenhausfinan-zierung (PEPP), die eine degressive Vergütung in Abhängigkeit von der

stationären Verweildauer vorsieht, dürfte die Probleme der Ausgrenzung schwer und chronisch psychisch kranker Menschen weiter verschärfen.

Auch hier liegt der Fokus deutlich auf dem stationären Sektor, und die Tendenz, sich lukrativere Patientengruppen zu erschließen, wird verstärkt. Die Drehtür wird sich noch schneller drehen, ohne dass die Tragfähigkeit der ambulanten Versorgung verbessert wird.

Es gibt allerdings auch in Deutschland bereits weitergehende Lösungs-wege und Praxismodelle. Die innovativsten sind regionale, sektorüber-greifende Psychiatriebudgets auf der Basis von Modellen nach § 64 b SGV, idealerweise unter Einbeziehung der Budgets niedergelassener Fachärzte und Psychotherapeuten.5 Aber auch innerhalb des bestehenden Finanzierungssystems sind Fortschritte möglich, die zur Schließung der skizzierten Versorgungslücke auf pragmatischem Weg beitragen.

Auch in der Eingliederungshilfe gibt es bereits vielversprechende Praxis-modelle, die versuchen, Unterstützungsintensität und Unterstützungs-Setting zu entkoppeln, z. B. das Intensiv Ambulant Betreute Wohnen in Nordrhein-Westfalen (Steinhart 2014).6 Die anstehende Novellierung der Eingliederungshilfe (Bundesteilhabegesetz) wird mit einiger Sicher-heit die Trennung von Unterstützungsleistungen und Sicherstellung des Lebensunterhalts (Wohnen) mit sich bringen. Dies wird den Spielraum für eine personenorientierte Organisation des Leistungsgeschehens erhö-hen. Im Übrigen gilt: Nur die Entkoppelung von Unterstützungsdichte und -setting stellt die Wahlfreiheit der Leistungsempfänger sicher – ein Leitgedanke der UN-Behindertenrechtskonvention.

Inhaltlich geht es in Behandlung und Eingliederungshilfe im Prinzip um das Gleiche: Die Sicherstellung einer ambulanten, multiprofessionellen bei Bedarf mobilen Versorgung an allen sieben Tagen pro Woche über 24 Stunden. Im Folgenden wird dies in knapper Form verdeutlicht.7 In den letzten Jahren wurden auch in Deutschland verschiedene Mo-delle der intensiven ambulanten und mobilen Behandlung realisiert, die sich überwiegend am Paradigma des Home Treatment orientieren, z. B.

in Frankfurt, Günzburg, Hamburg, Hanau, Krefeld und München.8, 9 Deren Finanzierung erfolgt auf unterschiedlichen Wegen, überwiegend außerhalb von Krankenhaus- bzw. Regionalbudgets. Dabei geht es im Prinzip darum, die eklatante Finanzierungslücke zwischen der klassi-schen teilstationären Behandlung und der klassiklassi-schen Behandlung in der PIA zu schließen. Dies kann grundsätzlich auf zwei Wegen geschehen, entweder durch ausdifferenzierte tagesklinische Entgelte (wobei der Ort

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der Behandlung vom tagesklinischen Setting abgekoppelt wird) oder durch differenzierte PIA-Entgelte mit höheren Pauschalen für besonders aufwendige Patienten.

Zur Wirksamkeit des Home Treatment und verwandter Versorgungs-konzepte wie Community Mental Health Teams (CMHT) und Assertive Community Treatment (ACT) gibt es im englischsprachigen Raum mehr als 100 kontrollierte, randomisierte Studien, die deren Überlegenheit oder mindestens Gleichwertigkeit gegenüber der Standardversorgung bei geringeren Kosten belegen.10 Die Kernfunktionen ambulanter, mobiler, multiprofessioneller gemeindepsychiatrischer Teams sind: Die komplexe ambulante Behandlung (analog CMHT und dem Leistungsspektrum der PIA), die komplexe ambulante Behandlung im Lebensumfeld (ana-log Home Treatment), die nachgehende Intensivbehandlung von Men-schen mit schweren und komplexen Störungen (analog ACT) sowie die Krisenintervention rund um die Uhr. Diese müssen durch zusätzliche Funktionen bedarfsbezogen ergänzt werden (Abbildung 3, S. 42).

Auch im Bereich Teilhabe ist eine ambulante, multiprofessionelle, bei Bedarf mobile Unterstützung rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche sicherzustellen. Idealerweise sind die multiprofessionellen Be-handlungs- und Unterstützungsteams strukturell bzw. personell mit-einander verknüpft, um konzeptionelle und personelle Kontinuität zu gewährleisten. Zu den Kernaufgaben beider Arten von Teams gehört eine offene, niedrigschwellige Beratung (bei noch unklarem Hilfebedarf), die Feststellung des Hilfebedarfs (Assessment) sowie die Hilfeplanung. Damit nehmen die ambulanten gemeindepsychiatrischen Teams zugleich eine Steuerungsfunktion bei der Erschließung von ergänzenden Behandlungs- oder Teilhabeleistungen ein. Zum Aufgabenspektrum beider Teams gehören darüber hinaus die fallunspezifischen Funktionen Prävention und Sozialraumarbeit.

Die Versorgung ist dann bedarfsgerecht, wenn die beschriebenen Funk-tionen in ausreichender Quantität und Qualität zur Verfügung stehen.

Insofern beschreibt das Modell einen Mindeststandard der gemeindepsy-chiatrischen Versorgung, wie er vor dem Hintergrund der S3-Leitlinie

»Psychosoziale Therapien bei Menschen mit schweren psychischen Er-krankungen« und der UN-Behindertenrechtskonvention heute zu fordern ist.

Die Umsetzung dieses Modells kann nur unter Rückgriff auf die in der jeweiligen Region vorhandenen Strukturen und Ressourcen erfolgen.

ABBILDUNG 3 Ein funktionales Basismodell der gemeindepsychiatrischen Behand-lung

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Diese sind so zu reorganisieren und weiterzuentwickeln, dass die Be-handlung und Unterstützung konsequent von der ambulanten Seite her gedacht, gesteuert und praktiziert wird. Um die Ressourcen un-terschiedlicher Träger in ambulanten gemeindepsychiatrischen Teams zu bündeln, werden dabei in vielen Fällen neue gesellschaftsrechtliche Lösungen erforderlich sein.

Wie immer solche Organisationsmodelle vor Ort im Detail auch aussehen werden: Sie werden in der Fläche nur umsetzbar sein, wenn sie strukturell gekoppelt sind an die Kapazitätsentwicklung im stationären Bereich, d. h.

innerhalb der bestehenden Budgets durch den Abbau stationärer Plätze finanziert werden. Denn in einem für die Behandlung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen noch stark bettenzentrierten Versorgungssystem wie in Deutschland haben innovative ambulante Versorgungsmodelle nur dann deutliche Effekte auf die Häufigkeit und Dauer stationärer Aufnahmen, wenn die Finanzierungssystematik einen Anreiz zur Bettenreduktion setzt.

Anmerkungen

1 Beim ersten Teil dieses Beitrags handelt es sich um eine thesenhafte Zusammenfassung des Artikels von Wienberg, G: 40 Jahre Psychia-triereform in Deutschland – auf dem Weg in die Drei-Klassen-Psy-chiatrie. Soz Psychiatr Inform 2014, 1, 4 – 9; sowie auf einen Vortrag gleichen Titels im Oktober 2014 in Gießen (www.dgsp-hessen.de/

Berichte#Fachtag-2014.

2 Melchinger H (2013): Schwierigkeiten, Verteilungsprobleme, Leistungsstrukturen und Bedarf in der Versorgung. Vortrag Tagung

»Psychosen – Persönliches Leiden und gesellschaftliche Realität«. Ev.

Akademie Loccum

3 Eigene Berechnungen auf Grundlage von: Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (2014): Kennzahlenvergleich Eingliederungshilfe 2013

4 Schmid P, Steinert T, Borbé R (2013): Systematische Literatur-übersicht zur Implementierung der sektorübergreifenden Versorgung (Regionalbudget, integrierte Versorgung) in Deutschland. Psychiatr Prax 40, 414 – 424

5 Deister A, Wilms B (2014): Regionale Verantwortung überneh-men – Modellprojekte in Psychiatrie und Psychotherapie nach § 64 b SGB V. Köln: Psychiatrie Verlag

6 Steinhart I (2014): Mietvertrag statt Heimvertrag – Lösungswege zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention oder: Warum werden Heim ersetzende Unterstützungssettings nicht stärker beför-dert? Sozialpsychiat Inform 44, 14 – 18

7 Ausführlicher bei Steinhart I, Wienberg G (2015): Mindeststan-dards für Behandlung und Teilhabe. Plädoyer für ein funktionales Basismodell gemeindepsychiatrischer Versorgung schwer psychisch kranker Menschen. Sozialpsychiat Inform 45, 9 – 15

8 Überblick bei Gühne U, Weinmann S, Arnold K et al. (2011):

Akutbehandlung im häuslichen Umfeld: Systematische Übersicht und Implementierungsstand in Deutschland. Psychiatr Prax 38, 114 – 122 9 Steinhart I, Wienberg G, Koch C (2014): Krankenhausersetzende

psychiatrische Behandlung in Deutschland, GGW 14 (4), 15 – 26 10 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und

Nerven-heilkunde (Hg.) (2013): S3-Praxisleitlinie Psychosoziale Therapien bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen. Heidelberg:

Springer Verlag