• Keine Ergebnisse gefunden

Ein Blick zurück auf die Psychiatrie-Enquete und ihre Umsetzung

Der SpDi, wie wir ihn heute kennen, ist das, was die Psychiatrie-Enquete gerne verhindert hätte. Die Experten der Psychiatrie-Enquete hatten zwar als ein Hauptproblem der Versorgungsstruktur in Deutschland die Tatsache erkannt, dass zwischen der stationären Behandlung im psychia-trischen Krankenhaus und der ambulanten in der Nervenarztpraxis eine unüberbrückbare Lücke klaffte (S. 19, 212).5 Sie forderten auch eine Novellierung der Unterbringungsgesetze der Länder unter »Einbeziehung vorbeugender und nachgehender Hilfsmaßnahmen« (S. 34), aber einen Sozialpsychiatrischen Dienst in kommunaler Trägerschaft lehnten sie ab (S. 214). Was ihnen vorschwebte, war vielmehr eine verbesserte Außen-fürsorge der Kliniken in Form multiprofessioneller, flexibel einsetzbarer Teams. Diese ambulante Tätigkeit sollte aktiv nachgehend, behandelnd und betreuend sein, einschließlich der Möglichkeit, bei Krisen direkt vor Ort einzugreifen (S. 212 – 213).

Der Sozialpsychiatrische Dienst zwischen Anspruch und Wirklichkeit 47

Mit großen Bedenken wurden damals bereits laufende Aktivitäten be-obachtet, an den Gesundheitsämtern SpDi einzurichten, wie das im Psychisch-Kranken-Gesetz für Nordrhein-Westfalen von 1969 und im Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz vom 17.5.1974 zum Aus-druck kam. Man fürchtete, es könne sich eine Parallelstruktur zur Au-ßenfürsorge der Kliniken entwickeln (S. 214). Für diesen Fall wurde eine enge Verbindung und Verschmelzung beider Dienste empfohlen (S. 215).

Die »ambulanten Dienste an psychiatrischen Krankenhauseinrichtungen«

sollten die gemeindenahen Hilfen eines Versorgungsgebietes optimieren, die Hospitalisierungsquote senken und die Verweildauer abkürzen. Um diese Ziele zu erreichen, sollten sie vier Aufgaben wahrnehmen: Nach-sorge und weitere Maßnahmen der Rehabilitation, ambulante Untersu-chungen und Behandlungen zur Vorbeugung von Rückfällen bzw. Ver-hütung von stationären Aufnahmen, Krisenintervention, konsiliarische Behandlung, Betreuung und Beratung (S. 213).

In der Folge kam allerdings die Außenfürsorge der Krankenhäuser entgegen der Erwartung der Experten weitgehend zum Erliegen. Die neuen Psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA) der Fachkranken-häuser nach § 118 SGB V beschränkten sich allermeist auf eine reine Sprechstundentätigkeit ohne relevante aufsuchende Elemente, und den Psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern blieben PIA über lange Zeit weitgehend verwehrt. In Baden-Württemberg wurde bis 2002 sogar den Fachkrankenhäusern die PIA verwehrt. Stattdessen beteiligten sich die Krankenkassen an der Finanzierung der SpDi, die in der Regel von Trägern der freien Wohlfahrtspflege betrieben wurden, mit einem Pauschalbetrag von 8 % pro Vollzeitstelle. Diese SpDi be-schäftigten Ärzte allerdings nur über Honorarverträge. Erst durch die Einrichtung der PIA ab 2002 konnte die psychiatrische Behandlung der SpDi-Klientel in diesem Bundesland deutlich verbessert werden. In den Richtlinien des Sozialministeriums wurde nun festgeschrieben, dass die SpDi mit den jeweiligen PIA Kooperationsvereinbarungen abschließen mussten. Diese regeln die Einführung von Sprechstunden und Haus-besuchen durch ärztliche Fachkräfte der PIA für diejenigen vom SpDi betreuten Personen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht in Facharztpraxen der Regelversorgung behandelt werden (können).

Mit der Einführung der PIA in Baden-Württemberg rechtfertigten die Krankenkassen dann allerdings auch den Ausstieg aus der Mitfinan-zierung der SpDi.

Die Bundesländer, die sich ab 1976 am Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung beteiligten, beauftragten im Rahmen der Reform ihrer Unterbringungsgesetze hin zu Psychisch-Kranken-Gesetzen die Kommu-nen, einen SpDi am Gesundheitsamt einzurichten. Zum Teil eröffneten sie auch die Option, die Aufgabe an einen freien Träger zu delegieren, aber die überwiegende Zahl blieb in kommunaler Trägerschaft. Auch wenn einige Landesgesetze einen Auftrag an den SpDi zur subsidiären Behand-lung enthielten, kam es nirgends zu einer landeseinheitlichen RegeBehand-lung hinsichtlich einer institutionalisierten Behandlungsermächtigung für die SpDi. Die Aufgabe, zwischen stationärem und ambulantem Bereich eine Behandlungskontinuität herzustellen, blieb so außerhalb dessen, was der SpDi aus eigenen Ressourcen leisten konnte.

Die Perspektive der Enquete war sehr einseitig: Gedacht und geplant wurde aus der Sicht des psychiatrischen Großkrankenhauses. Die Kom-mune bzw. Gemeinde wurde eher als Raum zur Kenntnis genommen, in dem Krisen und Rückfälle auftreten, statt als Lebensort des behand-lungsbedürftigen Menschen. So richtig die Einschätzung war, dass die Behandlung den Betroffenen »gleichsam nachzutragen« (S. 158) sei, so wenig taucht die Vorstellung auf, das Angebot müsse niederschwellig sein und sich an den Bedürfnissen, am Alltag und an der Lebenswelt der Betroffenen orientieren. Aus der Perspektive des Krankenhauses reduziert sich das Problem dagegen oft darauf, den Patienten »einmal richtig zu medizieren«, damit er dann einsichtig und kooperativ ist. Wenn das nicht geht, gibt es keine weiteren Optionen.

Von der Gemeinde aus betrachtet, ist es besser, das zu tun, was die Si-tuation etwas verbessert, statt darauf zu beharren, nur das zu tun, was nach der eigenen Meinung alle Probleme auf einen Schlag löst. Diesen Ansatz, der im Assertive Community Treatment (ACT) eine wichtige Rolle spielt, formulierte Ron Diamond in Wisconsin einmal als »hang around in creative ways«.6 Dazu ist es gut, wenn das, was wir als Pro-fessionelle für hilfreich halten, auch dem Klienten als nützliche Aktion erscheint.

Immerhin gab es allmählich überall einen SpDi – im Gegensatz zur Außenfürsorge der Kliniken. Die Gebietskörperschaften und ihre Ge-sundheitsämter hatten einen psychiatrischen Fachdienst, auch wenn sich nicht alle das wirklich gewünscht hatten. Der Versorgungsbereich des SGB V nahm davon wenig Notiz. Sehr gefragt war der SpDi dagegen nicht nur bei den diversen Stellen der Kommunalverwaltung. In der

Der Sozialpsychiatrische Dienst zwischen Anspruch und Wirklichkeit 49

Funktion eines von der Enquete so bezeichneten »Konsiliar- und Liai-sondienstes« schätzten ihn auch die Anbieter von – wie die Enquete sie nannte – »komplementären« Hilfen für psychisch kranke Menschen, da diese in der Regel nicht über medizinisches Personal verfügten.

Die deutschen SpDi verfügten niemals über die Ressourcen, die das ACT-Team in Wisconsin hat, aber ihre Existenz eröffnete die Option, sich auf das Verfügbare zu besinnen. Das klappte natürlich nicht immer, und manchmal kam es auch zu Resignation und Rückzug statt zu Kreativi-tät. Bemerkenswert ist, dass beim Aufbau Ost ab 1990 auch diejenigen Länder, die selbst nicht am Modellprogramm Psychiatrie der Bundesre-gierung teilgenommen und kein PsychKG erlassen hatten, den von ihnen unterstützten neuen Ländern geraten haben, ihre Strukturen nach diesen Prinzipien auszurichten und entsprechende Gesetze zu verabschieden.

Als Kardinalproblem der Psychiatriereform hatten die Experten der En-quete festgestellt: »Weder die Träger noch die Verwaltungen haben bislang Koordinationsformen entwickelt, die den besonderen Bedürfnissen dieses großen Personenkreises auch nur in etwa gerecht würden. Dieser Mangel an Koordination stellt ein Kernproblem der gegenwärtigen Versorgung dar.« (S. 15) Ihre Vorstellungen dazu, wie koordiniert werden sollte, blie-ben allerdings ziemlich ungenau. Bezüglich übergreifender Koordination und Planung wird die Selbstverwaltungskörperschaft bzw. Gesundheits-fachverwaltung benannt, die für das Standardversorgungsgebiet zuständig ist; im Hintergrund steht aber immer das Psychiatrische Krankenhaus, das für mehrere Standardversorgungsgebiete zuständig ist. So verwundert es nicht, dass 1988 die Expertenkommission der Bundesregierung konkretere Vorstellungen entwickelte: In jeder Gebietskörperschaft sollte eine Stelle für Psychiatriekoordination eingerichtet werden, und ein Gemeindepsy-chiatrischer Verbund (GPV) sollte als Instrument zur Sicherstellung und Gewährleistung der regionalen Versorgungsverpflichtung dienen.7