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Verhältnismäßigkeit versus Ängste

FALLBEISPIEL Der jugendliche Robert wuchs in einem beschützenden und gebildeten Elternhaus auf. Während der gymnasialen Oberstufe wurden erste Veränderungen in seinem Verhalten bemerkt. Um den Leser an dieser Stelle nicht zu langweilen, fassen wir den für die psychiatrische Fachwelt so bekannten Lebensweg in Stichworten zusammen: Fernblei-ben von der Schule, erste Kontakte mit Alkohol, lockeres Verhalten mit Gleichaltrigen unter Alkohol und Cannabis, sonst ein Einzelgänger, der vermehrt mit sich selber spricht, dessen Notendurchschnitt bis ins Boden-lose absinkt, der auch aus dem Kontakt mit seinen Eltern geht, der sich nicht mehr pflegt, verwahrlost, sein Geld nicht beisammenhalten kann.

Es kommt zu ersten familiären Aggressionen, die sich in kürzester Zeit bis zu Handgreiflichkeiten steigern. Die gerufene Polizei, das Jugendamt und der Sozialpsychiatrische Dienst empfehlen die Aufnahme in eine the-rapeutische Wohngemeinschaft, aus der Robert nach kurzer Zeit wegen zu viel Alkoholkonsum und Medikamentenverweigerung auf die Straße entlassen wird. Robert geht Sonntagfrüh zu seinen Eltern, um sie um Geld zu fragen, welches der Vater ihm verweigert. Erneut kommt es zum Streit, in Folge dessen Robert nach der Gabel vom stehengebliebenen Mittagessen greift und diese dem Vater mit voller Kraft in den Handrücken sticht.

Ich lerne Robert kennen, nachdem er acht ganze Jahre in einem psy-chiatrischen Krankenhaus untergebracht war. Sein Vater setzt sich für die Aufnahme in einer unserer Einrichtungen ein, längst gequält von tiefstem Schuldgefühl seinem Sohn gegenüber. Vor acht Jahren hatte

Vor der Mauer, hinter der Mauer oder kurz mal Transitstrecke 119

er in seiner Hilflosigkeit noch geglaubt, dass eine Unterbringung in ei-nem Krankenhaus Besserung bringen könnte. Der Staatsanwalt schätzt Robert noch immer als gefährlich ein – Begründung: Er hätte keine Arbeit, keine Wohnung, keine Betreuung, und man wisse ja nicht, ob Robert bei einem längeren Aufenthalt außerhalb der Anstalt Alkohol konsumieren würde. Maßstab hierfür sei die Krankheitseinsicht, die Delikteinsichtsfähigkeit, die Medikamenteneinsicht sowie die nachge-wiesene Wohnfähigkeit. ô

Kann man die Krankheitseinsicht eventuell noch überprüfen (Was sind erste Anzeichen Ihrer Erkrankung? Welche Situationen sollten Sie mei-den? Wie heißt Ihre Erkrankung?), die Delikteinsichtsfähigkeit abfragen (Würden Sie dies wieder tun? Wie stehen Sie zu Ihrer Tat?), die Medi-kamenteneinsicht sogar im Blutspiegel überprüfen, so scheitert jeder am Nachweis der Wohnfähigkeit (Wohnst Du noch oder lebst Du schon?

Wohnen Sie auf der Straße, in einem Obdachlosenheim, in einem Zelt oder in einem Penthouse-Appartement? Bringen Sie täglich den Müll run-ter, wie oft waschen Sie die Wäsche?). In jahrelanger psychiatrischer Tä-tigkeit bleibt mir bis heute der Begriff der Wohnfähigkeit unerschlossen.

Jeder Leser möge die Staubflocken unter seinem Bücherregal betrachten und sich dabei die Frage stellen: Bin ich wohnfähig?

Gemäß § 62 StGB darf eine Maßregel nicht angeordnet werden, wenn sie außer Verhältnis steht zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr. Was aber als verhältnismäßig angesehen werden kann im Sinne des Gesetzes oder vielleicht nach den Erwartungen der Allgemeinheit oder des Betroffenen, will der Gesetzgeber nun versuchen zu definieren.

Der Vorschlag für eine Gesetzesnovelle liegt bereits vor. Die Dauer der Unterbringung oder ein »Mindestwert« an entstandenem Schaden soll dies zukünftig regeln. Dabei wird weiterhin missachtet, wie gefährlich ein Mensch tatsächlich für die Allgemeinheit ist. Aber nur darum sollte es gehen. Wenn jedoch, wie im Falle von Robert, über Jahre hinweg keiner therapiert, integriert oder rehabilitiert, wird es gar nicht zu testen sein, ob die Gefährlichkeit noch andauert.

Vielfach werden wir durch unsere Ängste geleitet. Wir haben gelernt und sind damit aufgewachsen, dass Menschen, die Dinge tun, die wir nicht verstehen, weggesperrt werden müssen. Eine Differenzierung zwischen Gefährlichkeit oder Auffälligkeit ist uns weder anerzogen noch päda-gogisch vermittelt worden.

Eltern befürchten die Andersartigkeit und die Schuld.

Bekannte befürchten, dass der bisherige Alltag und seine Gewohnheiten durcheinander gebracht werden.

Nachbarn fürchten um ihr Hab und Gut, um Eigentum, um die Unver-sehrtheit ihrer Familien.

Staatsanwälte und Richter fürchten falsche Entscheidungen.

Auch Politiker fürchten falsche Entscheidungen.

Die psychosoziale Landschaft fürchtet die immense Verantwortung, die niemand mit ihnen teilen will.

Die Presse und die Medien allerdings profitieren von diesen Ängsten.

Einst, zur Eröffnung eines Projektes für gemaßregelte Menschen, führte ich ein Interview mit einem Reporter der Boulevardpresse. Er hörte aufmerk-sam zu, stellte interessierte Fragen, kommentierte die Inhalte und Ziele positiv. Und sagte abschließend: Ich kann darüber nichts schreiben, das wissen Sie. Es ist zu positiv. Das ist nicht der Auftrag unseres Blattes.

All diese Ängste werden genährt durch Unwissenheit. Während Sexu-alkunde und die Aufklärung zum Thema Aids bereits in Grundschulen fester Bestandteil ist, während Ärzte anhand von Impfplänen und vor-gegebenen Jugenduntersuchungen Leitfäden zur Beratung von Kindern an der Hand haben, während Hölderlin (Schizophrenie), van Gogh (schizoaffektiv), Newton (Schizophrenie) und mancherorts Rudolf Stei-ner (Schizophrenie) an den Schulen gelehrt werden, nutzt niemand die Gelegenheit, über psychische Erkrankungen aufzuklären. Während die Bildung also schweigt, die Medien im Gegenzug fabulieren, bleiben Recht und Gesetz, wie sie sind. Denn die Politik fürchtet die Gesellschaft und die Gesellschaft den psychisch Erkrankten.

Gemäß § 63 StGB heißt es: »Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuld-fähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.« Demnach handelt ohne Schuld, »wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.«

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