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Lilith Tiefenbacher

aller Ausführlichkeit dargelegt. Hat sich zwar mächtig im Kreis ge-dreht, wenn Sie mich fragen, hat, verzeihen Sie mir den Ausdruck, seinen eigenen Schwanz gejagt. Wie panische Hunde das eben so machen. Kann man verstehen, in seiner Situation. Aber denken Sie nur… wenn ich damals schon hätte schreiben können! (Hält inne.) Er saß mir, wie Sie ja wissen, die ganze Zeit im Nacken. Sie kennen also jedes Haar an mir. Sie kennen mich, den Nacken, meine ich, den kennen Sie durch seine Linse. (Zündet sich eine Zigarette an.) Muss mich Ihnen also nicht noch ein zweites Mal buchstabieren. In tausend Buchstaben gefesselt, unter zwei, drei, vier, ach, was weiß ich, wie vielen weißen Himmeln eingesperrt und immer wieder un-ter die Lupe gezerrt, so, wie ich bin, kann ich nun sprechen. Aber erschrecken Sie nicht! Ein Fleckchen Gänsehaut, das Surren einer Fliege unter der eigenen Hand, sei sie geliebt, gehasst… das ist das Eine. Du warst an der Schwelle zum Blausein und ich war an der Schwelle zum Frausein… mag sein, aber Lolita gibt es nicht. Es gab sie nie. Du und dein Kopf, Papa, ihr habt das Püppchen ausgeheckt.

Ich war die ganze Zeit versteckt. Im Schnee. Da lieg ich immer noch. Und schreibe. Mit jedem Wort zerrinnt unter den Fingern mir das Weiß. Siehst du? Wie es verschwindet? Ich schreibe: L, ein O, ein L, ein I, ein T, ein A… und deine L-O-L-I-T-A verschwindet.

Das soll Ihnen niemand mehr vorenthalten: In Haut und Haar ei-nes Verstecks zu hausen, die Grube eiei-nes Wolfswelpen zu sein, der wächst, in den der Jäger sein Gewehr reinstreckt, das nämlich… ist das andere. Nicht Zahn um Zahn, das mein ich nicht. Ich meine…

Aus dieser Haut nicht mehr hinaus… Häuten unmöglich. Nicht mal den Flaum, die Spur des Wolfs im Nacken wirst du los. Die Zähne spitz und gierig, zu beiden Seiten, halten fest, den kleinen offenen Hals, der gestern, heute, morgen… und immer noch ihr eigener ist.

In einem fremden Rhythmus, aus einem anderen Interesse. Das nicht das deine ist, das will. Der Mund verstopft vor Angst. Adieu, sagt man, Adieu. Und will es doch nicht ganz. Ich bin kein Lamm, sagt man. Es ist zu spät, na dann. Nein, nicht. Es regt sich noch ein Widerstand. Merkt man und wählt das Spiel. Das Spiel, Sie kennen es, es heißt, gemäß Gesetzeskraft, Verführung. Denn: Ja, bekenne ich, von dir Benannte, die ich war, habe verführt. Nach allen Re-geln einer Kunst, die gar nicht meine war. Ich habe sie geklaut, aus deinem Blick geraubt, der ließ mich hoffen. Er hat es Ihnen längst erzählt. In jenem anderen Haus auf einem Hügelkamm, in einem

Bitte angeschmiegt. Nicht Freiheit, nein, die kannte ich noch nicht, nur einen Ausweg habe ich gesucht. Wenn schon nicht Mensch, dann lieber Äffchen sein als tot. Und er vergaß, in seiner ganzen Kunst vergaß er, auch nur ein einziges Mal, mit einem einzigen Wort zu sagen, ja: weshalb ich’s tat. Doch etwa nicht, weil ich bloß neugierig auf seine Augen war, auf seine Überraschung? Am Ende etwa doch verliebt? Wie Udo schrieb, nein, danke. Weil ich viel-leicht doch etwas dumm, etwas naiv, ein eitles, argloses Mädchen war? Mag sein. Doch das, das reichte nicht. Ich wusste nicht… ich wollte noch nicht wissen. Ich wollte etwas anderes, nicht Lamm, nicht Wolf, das nicht, Papa. Was dann, Lolita, ja, was wolltest du?

Aber zu früh. Ich fang von vorne an, diesmal beginne ich, beginne irgendwo, beginne. (Lichtwechsel.)

Mit meinem Namen, warum nicht! Weil das die Sprache ist, der Klang, in dem er mich gefangen nahm, in ruhmesreicher Fantasie.

Lolita hier, Lolita da, Lolita, wo sie niemals war, in Skandinavien, Mexiko City, ja – Humbert hat mich gut versteckt, am Ende hab ich Blut geleckt und ging ihm hinterher, dem Humbert’schen Prinzip.

Lolita, Mussolini, Hitler, Lolita mochte lieber Ritter, den Trump, den Erdogan, den Vater, dich… der eine Treppe runterkippt und noch im Fall etwas verspricht und – auf der Stelle tot ist. Doch immer einer, der ihn noch ersetzt, mein Giftzwerg, Lo, du süßer runder Clown mit krummen Zähnen, entzückend, diese Lücke, darf ich die Zunge nur einmal, ach, komm schon, L-O-L-I-T-A, nein, STOPP! Ich heiße nicht Lolita. Mein Name ist ein anderer und nenn mich auch gefäl-ligst so. Gezeter. Rotzschlange, du. Doch nur nicht Engelchen. Mein Schatz. Ich hab mir meinen eigenen Namen ausgedacht. Hab ihn mir im Versteck verpasst, ich komme raus, und weißt du was? Ver-rate dir nicht mehr, wie ich in Wahrheit heiße, selbst ausgedacht, selber gemacht, willste, willste, willste wohl, haste aber nicht, hab ich, und ich, meinst du, bin deine Göre, du kannst mich mal, das ist meine Fiktion. DIE FIKTION IST NÄMLICH AUCH EIN SCHUTZ. So.

Und jetzt lass uns mal Klartext sprechen. Ich steh hier im Schnee.

Versuche, zu sprechen. Keine Verbitterung, Veränderung, das wohl.

Ich denk mir etwas Neues aus, weiß noch nicht, was, bin immer noch ein bisschen blass, posttraumatisches Belastungssyndrom, (setzt sich Kopfhörer auf) Herzrasen-Horrorschichten, all der Ge-schichten, all der Lolitas in all den Karriereklapsen, unter den Au-genlidern die Kapseln all der Serotonine, die sie am Leben halten lassen, damit sie – SOS nicht mehr ausrasten (setzt die Kopfhörer ab, senkt nachdenklich den Kopf). Sie kennen das.

Liebe Anne,

ich weiß gar nicht, ob du diesen Brief je erhalten wirst; ob er den langen Weg von Buenos Aires nach Hamburg schafft. Die argenti-nische Post ist nicht gerade für ihre Zuverlässigkeit bekannt. Und wenn er tatsächlich irgendwann einmal in deinem Briefkasten lie-gen sollte, weiß ich nicht, ob du ihn überhaupt öffnen wirst. Wenn du das hier liest, dann hast du ihn geöffnet, obwohl der Absender auf dem Umschlag wahrscheinlich blanke Wut in dir ausgelöst hat.

Oder Trauer? Oder gar Hass? Es tut mir wahnsinnig leid, all die-se Gefühle noch einmal in dir hervorzuholen. Aber ich kann nicht mehr jeden Morgen in den Spiegel sehen und mich selbst dafür hassen, dass ich nicht wenigstens versucht habe, mich dir zu er-klären.

Bitte entschuldige, dass ich hierfür ganz von vorn anfangen muss.

Du weißt, dass ich mich in Deutschland nie wirklich zu Hause ge-fühlt habe. Ich erinnere mich, als meine Großmutter einmal aus La Plata zu uns nach Hamburg kam, da sagte sie zu meiner Mutter:

„Ich weiß nicht, wie ihr es hier aushaltet, Kind. Es ist so still wie auf einem Friedhof. In Deutschland fühle ich mich, als ob ich schon längst tot wäre.“ Wie recht sie hatte.

Als ich mit 18 wieder nach Argentinien kam, nachdem wir dieses Land ja kurz nach meiner Geburt verlassen hatten, fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich lebendig. Es war, als hätte Deutschland einen dicken Schal um meinen Hals gelegt, der sich im Laufe meiner Jugend immer weiter zugezogen hatte. Die-ses latente Gefühl des Erstickens… Als ich argentinischen Boden betrat, war es verschwunden. Und dieses Gefühl, das Gefühl, end-lich lebendig zu sein, so schwor ich mir, würde ich um nichts auf der Welt wieder verlieren.