• Keine Ergebnisse gefunden

sich. Die Anleitung hatte einen Haufen Druckfehler und seine Aus-sprache war noch sehr ausbaufähig – kurz und gut, in Kombina-tion murmelte er einen korrekten Satz in einer längst vergessenen Sprache vor sich hin. Etwas horchte dabei auf und trug die Silben weiter, bis über das Meer. Und eine Insel weiter ließ ein Drache sei-ne Beute im Flug los und machte sich auf den Weg.

Es ist Klausurenphase, und die Anglistikstudenten aller Universitä-ten haben den Drachen für sich entdeckt. Sie üben Gespräche und stellen ihm ihre Essays vor. Zu den meisten hat er nichts zu sagen, aber das stört niemanden. Hauptsächlich geht es ihnen sowieso um die Selfies, die sie mit ihm beim "Lernen" machen. Keiner der Studenten fragt, wie es ihm geht. Einige bitten ihn darum, deut-licheres Englisch zu sprechen, weil sie seinen Akzent nicht verstün-den. Er schaut dann immer etwas hilflos. Englisch ist seine zweite menschliche Sprache.

Manchmal nehmen sie ihn abends mit in die Kneipe. Der Alkohol hat kaum Auswirkungen auf ihn, macht es aber schwieriger, sein Feuer zu kontrollieren. Als das bekannt wird, stellen ihm die meis-ten Bars lieber etwas zu trinken vor die Tür. Eigentlich schmeckt es ihm gar nicht, aber er will nicht unhöflich sein. Von nun an ver-bringt er die Nächte wieder im Innenhof und singt dabei leise in seiner Sprache vor sich hin. Häufig leisten ihm ein paar Studenten Gesellschaft. Die Bedingung ist, dass sie nicht reden. Stattdessen hören sie zu. Meistens erzählt er ein bisschen von zu Hause und von den Bergen, die er unter sich vermisst. Hier drin ist es nachts beinahe ruhig genug. Langsam macht er sich Sorgen, dass sie kei-nen Rückweg für ihn finden werden. Er redet nicht darüber, aber nach einigen Wochen gibt er sich keine Mühe mehr, die Klauen einzuziehen. Auf dem Asphaltboden stumpfen sie schnell ab, wer-den glanzlos und splittern. Seine Flügel schmerzen vom wenigen Gebrauch und werfen Federn aus.

Er hat den Menschen sein Alter verschwiegen. Für seine Art ist er jugendlich; seine Orientierung entwickelt sich noch und die Flü-gel sind längst nicht stark genug, um ihn ohne eine Beschwörung übers Meer zu tragen. Er ist jetzt fast drei Monate hier und hat sich so langsam vom Hinflug erholt. Aber die Antriebslosigkeit wird schlimmer und inzwischen erzählt er abends keine Geschichten mehr, sondern starrt nur in die Dunkelheit. Die Studenten, die da-bei sind, wollen helfen, wissen aber nicht, wie. Mit den Leuten, die nach einem Heimweg suchen, waren sie schon in Kontakt. Die

wis-sen nicht mal, wo sie anfangen sollen. Die Wohnorte von Drachen stehen nicht im Internet. Einer hat vorsichtig vorgeschlagen, der Drache könne doch sonst vielleicht erst einmal hierbleiben? Ber-lin würde ihm ja nicht so zusagen, aber in Brandenburg ließe sich bestimmt etwas für ihn finden. Viel Platz gebe es da und Ruhe.

Als der Drache das hört, spielen einen Moment lang Flammen um seine Nüstern und er hebt leicht die Flügel, wie in einer Drohge-bärde. Die Spannung hält kurz, dann erlischt das Feuer; er faltet die Schwingen mit einem leichten Winseln wieder ein, dreht sich um und trottet in den Innenhof. In der Mitte setzt er sich hin und bewegt sich tagelang nicht fort.

Inzwischen kommen nur noch wenige Studenten abends zur Kul-turbrauerei, um dem Drachen beim Schweigen zuzusehen. Eine von ihnen holt immer ihr Handy heraus und schreibt darauf Ge-schichten. Niemand kommentiert das. An diesem Abend ist es be-sonders still und sie hat das dringende Gefühl, etwas tun zu müs-sen. Aber ohne weitere Hinweise darauf, wo er herkommt, könne sie nicht viel für ihn tun. Moment. Sie starrt auf ihr Handy und gibt dann, wie in Trance, etwas in die Bildersuche ein. Eine Seite voll mit Bergen erscheint, und sie hält sie dem Drachen vors Gesicht. Vage interessiert – und weil er keine Ahnung hat, was das alles bedeutet – schaut er sie nacheinander an. Sie wechselt zur nächsten Seite, dann zur übernächsten. Auf Seite fünf reagiert er endlich. Das erste Bild kennt er, über den Berg ist er schon Dutzende Male geflogen.

Er klappt die Flügel aus und merkt in der Aufregung die Schmer-zen gar nicht. Den Rest der Nacht planen sie.

Die Verabschiedung fällt förmlich, aber kurz aus. Der Drache be-dankt sich bei den richtigen Leuten, weil er gehört hat, dass man das so macht. Dann streckt er zum ersten Mal seit seiner Ankunft die Flügel vollständig aus, stößt sich ab und flattert etwas schwer-fällig davon. Entlang der Route haben die Studenten mit allen möglichen Leuten Kontakt aufgenommen, die ihm abends einen Schlafplatz oder Essen zur Verfügung stellen. Auf die Insel setzt er mit einer Fähre über und erzählt abends an Bord den Kindern Geschichten. Seine Federn sind nachgewachsen und schon fast wieder vollständig. In Berlin hört man das letzte Mal von ihm, als er England erreicht. Dann ist Funkstille.

Schreiben einer walisischen Polizeistation vor. Nach vielen um-ständlichen Erläuterungen steht darin, dass vor Kurzem ein... Tier vorbeigekommen sei und in bestem Englisch um die Weitergabe von Informationen gebeten habe. Sicher habe es sich dabei um ei-nen Scherz gehandelt, aber man habe dann doch recherchiert und herausgefunden, dass der genannte Name echt sei... das Tier wäre auch, nachdem es die Station verlassen habe, nicht mehr aufzu-finden gewesen. Die Nachricht jedenfalls laute: "Ich habe den Weg nach Hause gefunden, danke für die Hilfe. (Und den Zettel mit der Beschwörung habe ich verbrannt, nichts für ungut)." Angeblich würde sie wissen, was gemeint sei, und noch einen schönen Tag.

Nachdem sie den Brief zu Ende gelesen hat, steckt sie ihn in die Tasche und macht sich auf den Weg, entspannter als zuvor. Auf dem Gartenzaun hat sich eine Möwe niedergelassen, die hier ei-gentlich gar nicht hingehört. Das Morgenlicht färbt ihre Federn ein;

fast wie Feuer.

[morgen- betrachtung]

supermond sichelt über

den horizont

&

draußen in brandenburg stecken wölfe die schnauzen ins fell

&

in der stadt stellen hunde

nach einem leisen heulen die ohren auf

&

die ein oder andere katze augenspiegelt rötliche schimmer

ins haus

&

altbauten schütteln langsam die dunkelheit ab

&

die erste tram pflügt den schlafenden furchen ins gesicht

M

orgens, bevor sie aufsteht, als Erstes, schreibt sie seinen Na-men auf. Sie nimmt die Hand unter der Decke hervor, tastet nach dem Stift. Rollt sich auf die Seite, zielt auf den Block auf dem Nachttisch. Sie schreibt sehr ordentlich, keine missverständlichen Buchstaben. Sie steckt den Block in die Nachttischschublade. Dann erst wacht sie richtig auf. Einen Moment bleibt sie so liegen, halb aufrecht, den Ellbogen aufgestützt. Neben ihr im Bett bewegt sich etwas, sie hat ihn geweckt. Sie fährt sich mit der Hand übers Ge-sicht, dann lächelt sie.

Sie geht zum Bäcker. Der um die Ecke, den sie gut kennt. Es ist besser, sich an wenige Leute zu halten. Sicherer. Sie drückt gegen die Tür, aus dem Inneren strömt warme Luft. Die Bäckerin begrüßt sie freundlich und gut gelaunt. Sie zieht einen Zettel aus der Ta-sche. Bäckerin Schmidt. Wenn sie nicht die vollen Namen kennt, reichen auch die Berufe. Oder sonstige Funktionsbezeichnungen.

Es hat ein paar Versuche gebraucht, um das herauszufinden. Zu viele, aber jeder ist einer zu viel.

Als sie den Laden verlässt, fällt ihr die Aushilfe ein und sie er-schrickt. Aber nein, sie hat sie aufgeschrieben. Wahrscheinlich hat die einfach frei, oder sie ist krank. Erleichtert macht sie sich wieder auf den Weg.

Im Supermarkt sitzt der nette Kassierer an Kasse 3, wie er das im-mer tut. Er ist der Einzige, der hier Vollzeit arbeitet. Er scannt die Waren, eine nach der anderen, und will am Ende selbst seinen Na-men auf den Zettel schreiben. Seine Nummer auch. Sie lehnt ab.

Nicht unfreundlich, aber bestimmt. Wie sonst auch. Es funktioniert nur, wenn sie selbst schreibt. Dass er nie näher nachfragt, rechnet sie ihm hoch an.