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Marie Zoom

picknickt. Wohl aber die Einzige, die im Palais de Justice picknicken kann. Dort trifft man ein seltsames Bild an: Touristen, bewaffnet mit Kamera und Regenschirm, kleine Gruppen, die ein bisschen verloren wirken in der riesigen Halle und dann die Richter in roter Robe mit schwarzen Streifen auf weißem Pelz – sie sehen aus wie Santa oder die Könige aus dem Sonntagsmärchen auf KiKa. Wer wohl zuerst da war?

Unsere Führerin zeigt uns ein paar Gerichtssäle, goldene Orna-mente schmücken die Decken, alles ist edel und bedeutungs-schwanger, hier wird über das Heute und das Jetzt, über das Mor-gen und ÜbermorMor-gen entschieden und dennoch fühlt man sich in vergangene Zeiten entführt.

Nach der kleinen Führung sollen wir uns einen direkten Eindruck verschaffen. Am besten wir gehen zu Carlos, meint unsere Führe-rin. Begeistertes Nicken. Doch wer ist Carlos?

Es scheint jemand sehr Wichtiges zu sein, denn die nächste Sicher-heitskontrolle ist schlimmer als die erste. Zwei (das muss erwähnt werden) sehr gut aussehende Polizisten stehen vor der dunklen Eichentür. Diesmal habe ich weniger Glück. Mein Messer wird so-fort beschlagnahmt, die Verwunderung ist groß. „Bist du mit dem Messer reingekommen?“ Vorwurfsvolle Blicke. „Ähm, ja.“ meine Antwort ist ungenügend. Ich muss meinen Pass zeigen, werde ge-filzt, alles wird notiert. Wann ich es wieder abholen darf, möchte ich wissen. Wenn ich gehe, antwortet der Schönling. „Gut, dann bis später“, sage ich, als handele es sich um eine Verabredung mit einem Freund. Mr Policeman lächelt.

Dann dürfen wir endlich in die Verhandlung. Immer noch verwun-dert, was hier wohl passiert, googeln wir uns erst mal schlau.

Was wir lesen, versetzt uns in Spannung: Carlos der Schakal, ve-nezolanischer Terrorist und international bekannt, gehasst und idealisiert sitzt hier, fechtet eines seiner Urteile an. Wohl ist es ge-laufen für ihn, aus dem Gefängnis wird er nicht mehr rauskommen.

Und darum geht es auch nicht, wie wir feststellen. Denn die rot-bemantelten Urteilssprecher wirken gelangweilter, als sie sollten, die Debatte ist ein Austausch, bei dem das Ende bereits feststeht.

Dennoch genießt Carlos seinen Auftritt, etwas melodramatisch entzückt er sich seiner Rolle und unterbricht die Verhandlung ab-rupt. Ich brauche eine Pause, erklärt er. Seine bebrillten Augen (er trägt das klassische Gangstermodell, eine Mischung aus Pilot und Porno) scheinen zu feixen. Bitte, meint der Richter entnervt. Ein Kaffee, meint Carlos. Bitte, die Verhandlung wird unterbrochen.

Endlich können wir uns austauschen; wie ein Haufen schnatternder Girlies stecken wir die Köpfe zusammen, für uns ist das schon ein

kleines Abenteuer. Wir googeln noch ein bisschen, fi nden heraus, dass Carlos für die Polygamie zum Islam gewechselt hat. Was für eine rätselhafte Persönlichkeit, wie prinzipienlos und entschlossen zugleich. Faszination paart sich mit Schrecken.

Von seiner Kaffeepause zurück, setzt er sich nicht direkt hin, son-dern blickt zu uns. Dann direkt zu mir, grinst, macht eine Faust wie zum Zeichen des Sieges. Ich blicke zurück, schaue dumm. Was pas-siert hier? Ich bin entsetzt, galt das Grinsen wirklich mir? Es geht weiter, die Verhandlung wird wieder aufgenommen, ohne dass ich von meinem Schrecken erlöst werde. Und dann müssen wir auch schon wieder gehen, unsere Gruppenführerin erwartet uns drau-ßen.

Wir hasten noch in ein paar andere Verhandlungen, mit Carlos Show kann nichts mithalten. Schließlich will ich mein Messer zu-rückholen, verlaufe mich dabei, irre herum. Alles sieht gleich aus, irgendwie deprimierend. Dann hab ich meine zwei Polizisten end-lich wiedergefunden. „Ich komme wegen des Messers“, grinse ich.

Eben noch bei einer Gerichtsverhandlung auf Lebenslänglich, bin ich schon wieder fast im Alltag angekommen, seltsames Leben.

Aber es ist eben auch nur fast Alltag, denn wann wird man schon von der Polizei nach draußen begleitet, weil man ein Messer in die höchste Justizeinrichtung eingeschmuggelt hat, mit dem man sich eigentlich nur einen Apfel schneiden wollte?

höchste Justizeinrichtung eingeschmuggelt hat, mit dem man sich eigentlich nur einen Apfel schneiden wollte?

E

s dämmerte schon, als Mieke mich an dem verlassenen Bus-bahnhof des kleinen Ortes absetzte, Fresenburg, wo sie nun wohnte. Wo sie bleiben, wo sie ankommen, sich ihr Leben einrich-ten würde, mit Mann und Kindern. Noch kurz hatte sie mit mir ge-wartet, stand frierend da mit ihrem schwangeren Bauch, in ihrer kurzen roten Lederjacke, die lockigen blonden Haare unter einer Wollmütze versteckt. Aber die Mitfahrgelegenheit verspätete sich und sie musste los, wollte es vielleicht auch. Als sie mich zum Ab-schied umarmte, hatte sie „Ich werde dich vermissen“ in meine Haare geflüstert, aber meinte sie es wirklich so, war ich nicht eher zu einer Last für sie geworden? Ich dagegen beneidete ihr neues Leben, doch verstehen konnte ich es eigentlich nicht. Alles an mir war müde, die Zeit hier war anstrengend gewesen, dieser perma-nente Druck im Bauch, mein flacher Atem. Ich fühlte mich verlas-sen und verloren wie schon lange nicht mehr.

Gedankenverloren zupfte ich an meiner Strumpfhose herum, die viel zu dünn für diesen eisig kalten Februarabend war, und meine Füße in den Turnschuhen konnte ich mittlerweile gar nicht mehr spüren. Ich bereute es, mich mal wieder für die Schönheit und ge-gen die Wärme entschieden zu haben, konnte mich hier ja sowieso niemand sehen. Die Straßenlaterne neben mir sprang mit einem lauten Sirren an und verteilte grelles Licht auf dem kleinen Platz.

Mein Atem war weiß gegen den dunklen Himmel und ich hauchte gegen meine kalten Hände, um sie zu wärmen.

„Was, wenn jetzt keiner kommt…“, fing ich gerade an zu denken, als ich schließlich endlich die Scheinwerfer eines herannahen-den Autos, eines alten dunklen Passats, um die Ecke biegen sah.

Das musste er also sein: Lewe, der Fahrer. Er hielt auf der ande-ren Straßenseite und nach einer weiteande-ren gefühlten Ewigkeit stieg ein Mann aus dem Auto, etwas älter als ich – blonder Bart, rundes Gesicht, mit groben Zügen, insgesamt etwas dick, massig irgend-wie, mit ungewöhnlich roten Wangen. Dünne Locken schauten unter seiner gelben Mütze hervor und der dunkelgrüne Anorak war wahrscheinlich von H&M. Kein Hipster, kein Künstler, sondern