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Direkt verglichene Angaben

Im Dokument 3. ERGEBNISSE FORENSISCHE PSYCHIATRIE (Seite 174-177)

4. ERGEBNISSE SUCHTPSYCHIATRIE

5.2 Beziehungsstile nach Emanuel und Emanuel

5.2.4 Direkt verglichene Angaben

Wurden bisher die Angaben von Therapeuten und Patienten einzeln betrachtet so wird nun vor allem diskutiert wie und worin sich die Einschätzungen unserer Probanden unterscheiden.

Den Anfang macht wieder der deliberative Beziehungsstil. Diesen nehmen die Patienten prinzipiell stärker wahr, aber sie wünschen ihn sich auch deutlich stärker. Interessanterweise stimmen die Situationseinschätzung und Wunschangaben der unterschiedlichen Probandengruppen nie überein. Auch sehen die Patienten weniger Unterschiede zwischen Wunsch und Realität als die Therapeuten dies tun. Rekapituliert man die obige Diskussion ist es zunächst nicht verwunderlich, dass sich die Patienten den Freund stärker wünschen als die Patienten, erstaunlich bleibt es jedoch, dass sie die Freundschaft auch stärker wahrnehmen als die Therapeuten. Hier kommt möglicherweise ein gut untersuchtes psychologisches Phänomen zu tragen, nämlich ein selektiver Wahrnehmungseffekt (vgl. [51] S.50ff., [52] S.

281ff. und [53]) Die Patienten nehmen möglicherweise in der Beziehung zu ihrem Therapeuten lieber das wahr, was sie sich wünschen und erinnern sich dann bei der Befragung auch eher an das von ihnen Gewünschte. Gleichzeitig schätzen sie möglicherweise aufgrund desselben Effekts Beziehungshandlungen von Seiten des Therapeuten auch eher als freundschaftlich ein, während die therapeutische Intention dahinter eher Beziehungspflege ist.

Die Therapeuten unterscheiden wahrscheinlich tendenziell besser zwischen diesen verschiedenen Ebenen, da sie aufgrund ihrer Ausbildung gewohnt sind über die Metaebene zu reflektieren. Die Therapeuten haben also besser gelernt zwischen Wunsch und Realität zu unterscheiden, als die Patienten dazu in der Lage sind. Auf Seiten der Therapeuten ist der selektive Wahrnehmungseffekt damit vermutlich schwächer ausgeprägt und einer Verzerrung der Daten findet eher von Patientenseite statt. Bezüglich des deliberativen Stils spitzt sich

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dieser Fehler nochmals zu, da wie oben besprochen die Therapeuten Freundschaft zum Patienten aus professioneller Sicht zum Wohle des Patienten ablehnen.

Vom Paternalismus im Psychotherapieethos gehen wir zum Paternalismus in der vorliegenden Arbeit. Hier differieren die Ergebnisse zwischen Sucht- und forensischer Psychiatrie gewaltig.

Während die Maßregelvollzugpatienten den Paternalismus stärker als die Therapeuten einschätzen und sich diesen auch stärker wünschen, nehmen die Suchpsychiatriepatienten weniger Paternalismus wahr als die Therapeuten und wünschen sich diesen auch weniger.

Generell schätzen die Patienten aber die Diskrepanzen zwischen Wunsch und Realität geringer ein, als die Therapeuten. Angesichts der wirklich sehr geringen Stichprobe aus dem Maßregelvollzug sind die Ergebnisse der Suchtpsychiatrie aus statistischer Sicht für vertrauenswürdiger zu halten. Berücksichtigt man aber nun das, was sich inhaltlich bei Betrachtung der Gesamtstichproben abgezeichnet hat und vergleicht vor allem die Zahlenwerte – konkret wurden die Mittelwerte zum Paternalismus aus den Ergebnisteilen von Patienten und Therapeuten voneinander abgezogen – so zeichnet sich nochmals ein anderes Bild. Wohl gemerkt ist dieses Anstellen von Vergleichen nach Augenschein statistisch nicht valide, jedoch ist es dazu geeignet skeptisch zu bleiben. Tabelle 81 zeigt einen vergleichenden Überblick über die Ergebnisse der Testung und den augenscheinlich gemachten Beobachtungen.

Tabelle 81 Vergleich der direkt verglichenen und der nach Augenschein ermittelten Diskrepanzen zwischen Patienten und Therapeutenangaben. ↑ bedeutet die Patienten nehmen mehr wahr/ wünschen mehr/

sehen größere Diskrepanzen als die Therapeuten, ↓ bedeutet die Patienten empfinden entsprechend weniger, → die Patienten empfinden entsprechend gleich

Gehen wir nun also einmal von der Richtigkeit der Daten aus, so sehen Forensik-Patienten in der Realität mehr Paternalismus als ihre Therapeuten, was auf eine mangelnde Sensibilität der Therapeuten bezüglich der (Gefängnis-)Situation ihrer Patienten einerseits oder eine Aggravationstendenz der Patienten andererseits hindeuten könnte. Dahingegen nehmen die Suchtpsychiatriepatienten weniger Paternalismus als ihre Therapeuten wahr, was einer Überschätzung der Situation durch die Therapeuten oder einer Indolenz der Patienten ggü.

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ihrer Unterbringungssituation gleichkommt. So oder so liegen den Unterschieden Fehleinschätzungen zugrunde, die einen Wunder nehmen, inwieweit in der Therapeuten-Patienten-Beziehung die Unterbringungssituation zum Thema gemacht wird. Möglicherweise spielen aber auch hier wieder selektive Wahrnehmungseffekte eine Rolle, die zumindest erklären könnten, warum es überhaupt dazukommt, dass sich Patienten mehr Paternalismus wünschen als die Therapeuten. Bisher gingen wir davon aus, dass ein mehr an Fremdbestimmung durch den Therapeuten vor allem bei dependenten Persönlichkeiten vorfinden würden, doch würden solche Ergebnisse wie unsere auf etwas anderes hindeuten.

Hier sei jedoch kritisch angemerkt, dass die Psychopathologie einer dependenten Persönlichkeit nicht unbedingt als Akt der Selbstaufgabe gesehen werden muss, sondern je nach kulturellem Hintergrund auch ein Akt der Individualität sein kann [54]. Insofern ergibt sich für diese Fragestellung eine ganze Reihe von weiteren Forschungsansätzen. So wurden kulturelle Hintergründe bei dieser Arbeit bisher ausgeblendet und der nicht unerhebliche Anteil an Russlanddeutschen in der Studienpopulation nicht separat betrachtet, da dieses Merkmal nicht erhoben wurde. Die unterschiedlichen Diskrepanzwerte lassen sich auch unterschiedlich erklären. Während ein größerer Unterschied zwischen Wunsch und Realität aus Patientensicht noch intuitiv durch die Rahmendbedingungen erklär ist, so kann eine kleinere Diskrepanz zweierlei bedeuten. Einerseits beeinflussen die Patienten die Beziehung doch stärker als angenommen und sind so in der Lage, die Realität ihren Wünschen anzupassen, andererseits kommt möglicherweise wiederum der selektive Wahrnehmungseffekt seitens der Patienten zu tragen, die eben die Angaben zur und Wahrnehmung der Realität ihren Wünschen angleichen.

Verkomplizierende Abweichungen zwischen den zwei Stichproben ergeben sich beim informativen Beziehungsstil nicht. Die Patienten nehmen diesen Stil weniger wahr als die Therapeuten, wünschen ihn weniger und sehen auch weniger Diskrepanzen zwischen Wunsch und Realität. Dass aus Patientensicht die Realität dem Wunsch gleichsinnig läuft und sich weniger Unterschiede ergeben wurde nun schon ausführlich erörtert und stützt also die (untersuchenswerte) Thesen des selektiven Wahrnehmungseffekts und der stärkeren Differenzierungsfähigkeiten der Therapeuten. Warum aber spielt der Therapeut als Experte für die Patienten keine so große Rolle? Möglicherweise spielt hier die Problematik herein, die Karl Jaspers als Arten des Widerstands gegen Psychotherapie beschreibt. Demnach wohnen jedem Menschen eine Abneigung gegen Psychotherapie (und gegen jede ärztliche Behandlung) inne, da er sich in aller erster Linie selbst helfen wolle und vermeiden wolle

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durch Psychotherapie sein Selbstsein in die Abhängigkeit eines anderen zu begeben ([55] S.

669ff.). Eine Informationsvermittlung über seine Krankheit und deren Behandlung und die Anerkennung der Autorität des Therapeuten in diesen belangen, setzt aber ein Einverständnis in die Therapie voraus, die nicht unbedingt gegeben ist.

Schließlich ist noch die Rolle des Therapeuten als Berater zu diskutieren, wobei die Verwandtschaft zum informativen Stil bestehen bleibt. Die Patienten sehen die Stil weniger verwirklicht, wünschen ihn weniger und sehen weniger Diskrepanzen zwischen Wunsch und Realität als die Therapeuten. Argumentativ ist bereits Gesagtem wenig hinzuzufügen und so soll das folgende auch von Jaspers verwendete Nietzsche-Zitat zur Auflockerung und Verdeutlichung gleichermaßen sorgen:

„Wer einem Kranken seine Ratschläge gibt erwirbt sich ein Gefühl von Überlegenheit über ihn, sei es, dass sie angenommen oder dass sie verworfen werden. Deshalb hassen reizbare und stolze Kranke die Ratgeber noch mehr als die Krankheit.“ [56] S.240

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