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Vergleich mit Cusanus’ Gottesauffassung

Im Dokument Das sinnsuchende Individuum (Seite 195-199)

IV. Religiosität ohne Religion

3. Dasein – Gott

3.2 Gott als Sein

3.2.2 Vergleich mit Cusanus’ Gottesauffassung

Nikolaus von Kues (1401-1464) scheint zwar nicht direkt von Heidegger rezipiert zu werden;

und tatsächlich gibt es wenig Literatur, die diese beiden Denker miteinander in Verbindung gebracht hat. Aber Heideggers Seinsauffassung steht in einer erstaunlichen Weise eng

458 Meister Eckhart, DPT, 400 (Predigt 53), zit. nach Holger Helting, S.95.

459 Ebd.

460 A.a.O., S.96. Im Hinblick auf das Sein sagt Heidegger etwas Ähnliches: „An sich halten heißt griechisch ε̉ποχή. Daher die Rede von Epochen des Seinsgeschickes. Epoche meint hier nicht einen Zeitabschnitt im Geschehen, sondern den Grundzug des Schickens, das jeweilige An-sich-halten seiner selbst zugunsten der Vernehmbarkeit der Gabe, d.h. des Seins im Hinblick auf die Ergründung des Seienden.“ In: Martin Heidegger, Zeit und Sein, in: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S.9.

verbunden mit Cusanus’ Philosophie, vor allem dessen Gottesauffassung. Durch den Vergleich mit Cusanus’ Gottesauffassung hoffen wir, den Schlüssel zum Verständnis von Heideggers Gottesvorstellung zu finden.

3.2.2.1 Unerkennbarkeit Gottes

Abgesehen davon, dass Nikolaus von Kues Gott später inhaltlich definiert und annähernd zu erkennen versucht, ist Gott ihm zufolge im Grunde genommen unerkennbar. Inwiefern ist Gott unerkennbar? Sein Argument geht von der Natur der menschlichen Erkenntnis aus:

„Alles Forschen geschieht also durch Vergleichen.“461 Man kann etwas Neues allein dadurch erkennen, indem man es zu etwas Bekanntem in Beziehung bringt und damit vergleicht. Nur durch Vergleichen kann man Erkenntnisse gewinnen. Im Vergleichen kann man sowohl Übereinstimmung als Verschiedenheit feststellen. Ohne diese proportionale Beziehung zu etwas Anderem lässt sich nichts erkennen. Aber Gott befindet sich genau in dieser wortwörtlich unvergleichbaren Situation.

Nikolaus von Kues bezeichnet Gott als das Unendliche und das Größte, „dem gegenüber es nichts Größeres geben kann.“462 Warum ist Gott bei dieser „Definition“ unerkennbar? — Weil Gott als das Unendliche sich aller Vergleichbarkeit entzieht.463 Gott als Unendliches lässt sich nicht in Beziehung setzen. Man kann Gott nicht durch Vergleichen mit etwas Anderem erkennen, da Gott als Unendliches in keiner Hinsicht mit etwas Endlichem in Beziehung steht.

Gott unterscheidet sich seiner Natur nach kategorisch vom Sonstigen, das irgendwie vergleichbar ist. Gott als das Absolute steht außerhalb alles proportionalen Verhältnisses, also der Sphären der menschlichen Erkenntnis.464 In diesem Sinne ist Gott Nikolaus von Kues

461 Nikolaus von Kues, De docta ignorantia (Die belehrte Unwissenheit), Übers. und Hrsg. von Paul Wilpert.

Hamburg 1964, S.7.

462 Nikolaus von Kues, De docta ignorantia (Die belehrte Unwissenheit), Übers. und Hrsg. von Paul Wilpert.

Hamburg 1964, S.11. Diese Definition Gottes erinnert uns an Anselm von Canterbury (1034-1109) und seinen ontologischen Gottesbeweis.

463 Vgl. Nikolaus von Kues, De docta ignorantia (Die belehrte Unwissenheit), Übers. und Hrsg. von Paul Wilpert. Hamburg 1964, S.9, „Das Unendliche als Unendliches ist deshalb unerkennbar, da es sich aller Vergleichbarkeit entzieht.“

464 Vgl. Nikolaus von Kues, De docta ignorantia (Die belehrte Unwissenheit), Übers. und Hrsg. von Paul Wilpert. Hamburg 1964, S.13, „Die Disproportionalität des Unendlichen gegenüber dem Endlichen ist evident.

Mit einleuchtender Klarheit folgt daraus, dass man zum schlechthin Größten nicht zu gelangen vermag, wo immer es ein Überschreitendes und ein Überschrittenes gibt, da sowohl das Überschreitende wie das Überschrittene endliche Größe sind. Ein derart Größtes aber muss unendlich sein. Ist etwas gegeben, das selbst nicht das schlechthin Größte ist, so ist offensichtlich ein Größeres möglich.“

zufolge unerkennbar.465

Heideggers Seinskonzeption ist in diesem Punkt Cusanus’ Gottesauffassung ähnlich. Das Sein ist Heidegger zufolge auch unvergleichbar, unerfassbar und unbegreiflich. Das Sein entzieht sich dem diskursiven Ergreifen des Menschen. Denn das Sein lässt sich in keiner Weise mit irgendeinem Seienden in Vergleich setzen. So sagt Heidegger, „Sein und Seinsstruktur liegen über jedes Seiende und jede mögliche seiende Bestimmtheit eines Seienden hinaus. Sein ist das transcendens schlechthin.“466 Wenn das Sein keine Beschaffenheit des Seienden besitzt, wie kann man es durch Vergleich mit dem Seienden begreifen? Was das Seiende anbelangt, kann man durch praktischen Gebrauch und theoretische Untersuchung wissen. Wenn das Sein aber in gewissem Sinne oberhalb des Reiches des Seienden schwebt, wie kann man es bestimmen und erfassen? Es scheint dem Menschen einerseits greifbar nahe zu sein;

andererseits ist es so unbestimmt und unbestimmbar, dass es dem Menschen verborgen ist.467 Man kann es vielleicht erahnen und spüren, aber nicht genau einfangen und propositional artikulieren.

In diesem Punkt stimmt Heideggers Seinskonzeption mit Cusanus’ Gottesauffassung überein.

Dieser sagt nämlich, „Nach dem Gesagten steht in aller Klarheit fest, dass das absolut Größte nur in nichtergreifender Weise erkennbar und ebenso nur in nichtbenennender Weise benennbar ist.“468 Wenn sich das Sein für Heidegger so verstehen lässt, wie Nikolaus von Kues Gott als das absolut Größte versteht, dann liegt es nahe, dass Heideggers Konzeption von Gott als Sein nicht weit entfernt von Cusanischer Gottesauffassung liegt. Nur sucht Heidegger seine Gotteskonzeption auf den Umweg über das Sein zu erreichen. Die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem ist — was Heidegger eigentlich dadurch sagen wollte, — die Widerspieglung bzw. die Hervorhebung der absoluten Unterscheidung Gottes von seiner Schöpfung. Heideggers Fundamentalontologie ist längst von der Theologie gefärbt worden. Das Mythisieren des Seins ist dadurch zu erklären, dass sein Gottesbegriff bereits mythisch ist.

465 Vgl. Nikolaus von Kues, De docta ignorantia (Die belehrte Unwissenheit), Übers. und Hrsg. von Paul Wilpert. Hamburg 1964, S.17, „Da das schlechthin und absolut Größte, dem gegenüber es kein Größeres geben kann, zu groß ist, als dass es von uns begriffen werden kann — ist es doch die unendliche Wahrheit —, so erreichen wir es nur in der Weise des Nichtergreifens. Da es nämlich nicht zu den Dingen gehört, die ein Mehr oder Weniger zulassen, steht es über allem, was durch uns begriffen werden kann.“

466 Martin Heidegger, Sein und Zeit, S.38.

467 A.a.O., S.35, „Was aber in einem auszunehmenden Sinne verborgen bleibt oder wieder in die Verdeckung zurückfällt oder nur »verstellt« sich zeigt, ist nicht dieses oder jenes Seiende, sondern, […] das Sein des Seienden.“

468 Nikolaus von Kues, De docta ignorantia (Die belehrte Unwissenheit), Übers. und Hrsg. von Paul Wilpert.

Hamburg 1964, S.21.

3.2.2.2 Aufhebung von Gegensätzen

Es gibt noch ein zweites Merkmal, das den Zusammenhang von Heideggers Seinskonzeption mit Cusanus’ Gottesauffassung belegen kann. Es lässt sich nämlich aus der Bestimmungslosigkeit Gottes ableiten. Gott als das absolut Größte kennt weder quantitativen Unterschied noch zahlenmäßige Proportion. Also kommen das Größte und das Kleinste in Gott zusammen.469 Gott als das Absolute ist die Einheit, in der es keine Gegensätze mehr gibt.

Die Bestimmungslosigkeit Gottes besagt keine Nichtigkeit, sondern die Einheit und Fülle, die alles umfasst. Nikolaus von Kues sagt, „[…] Und so ist das Größte das absolut Eine, welches alles ist. In ihm ist alles, da es das Größte ist, und weil sich ihm nichts gegenüberstellen lässt, so fällt mit ihm zugleich auch das Kleinste zusammen. Deshalb ist es auch in allem. Und weil es das Absolute ist, darum ist es alles mögliche Sein in Wirklichkeit. Es isoliert keine Seinsbestimmung, da alles Sein von ihm kommt.“470

Da Gott als das absolut Größte die Einheit und Fülle ist, umfasst er alles und fällt alles in ihm zusammen. In Gott werden alle Gegensätze aufgehoben. Sowohl die Bestimmungen von Quantität und Qualität, als auch der Unterschied von Sein und Nichtsein gelten für Gott nicht mehr. So sagt Nikolaus von Kues, „Es ist folglich in höchster Weise wahr, dass das schlechthin Größte ist oder nicht ist oder ist und nicht ist oder weder ist noch nicht ist. Mehr Aussagen lassen sich weder aussprechen noch denken“471 Diese Aussage Nikolaus’ von Kues überschreitet die Logik und lässt sich nicht von der Logik analysieren. Die absolute Unterschiedslosigkeit bringt die Unerklärbarkeit Gottes zum Ausdruck.

Dieses Merkmal Gottes nach Nikolaus von Kues, also die Aufhebung aller Gegensätze, finden wir in Heideggers Ansatz wieder, nämlich in der Nichtunterscheidbarkeit zwischen dem Sein und dem Nichts. Das Nichts als Nichtsein sollte logischerweise dem Sein gegenüberstehen.

469 Vgl. Nikolaus von Kues, De docta ignorantia (Die belehrte Unwissenheit), Übers. und Hrsg. von Paul Wilpert. Hamburg 1964, S.21, „Es lässt sich nichts benennen, wo sich nicht ein Mehr oder Weniger ansetzen lässt. […] Hebt man nämlich die Zahl auf, so verschwindet die Unterscheidung, die Ordnung, die Proportion, die Harmonie der Dinge und damit die Vielheit des Seienden selbst. Ja, wäre die Zahl unendlich — sie wäre dann die aktuell größte, mit der das Kleinste zusammenfallen würde —, so würden gleicherweise alle die eben angeführten Gegebenheiten aufhören.“ Zu den Begriffen des Größten und des Kleinsten sagt Nikolaus von Kues folgendes (S.19): „Die Begriffe des Größten und des Kleinsten aber, wie sie in diesem Buch verwendet werden, sind transzendente in absoluter Bedeutung, Sie wollen in ihrer Einfachheit alles umfassen oberhalb jeder Kontraktion zur Quantität der Masse oder der Kraft.“

470 Nikolaus von Kues, De docta ignorantia (Die belehrte Unwissenheit), Übers. und Hrsg. von Paul Wilpert.

Hamburg 1964, S.11.

471 A.a.O., S.25.

Aber Heidegger setzt das Sein mit dem Nichts gleich. Er will beides nicht in seiender Weise hypostasieren und verdinglichen. Im Entdinglichen identifiziert beides miteinander. In der Identifizierung des Seins mit dem Nichts wird der Widerspruch und Gegensatz von den beiden aufgehoben. Das geschieht Heidegger zufolge noch vor der Logik und Ethik.

Gott als Sein ist viel „früher“ als menschliche Bestimmung und Wertung und entzieht sich folglich dem intellektuellen Erfassen und moralischen Beurteilen. Gott als Sein steht sowohl jenseits vom Richtigen und Falschen als auch jenseits vom Guten und Bösen. Es bleibt offen, ob Heideggers Absicht darauf gerichtet ist, dass Gott — wenn alle Gegensätze, die für den Menschen noch gelten, in ihm aufgehoben werden — dadurch rechtfertigt werden kann, also sich vom Dilemma des Theodizee-problems befreien kann. Eins ist sicher: Wenn es in Gott keine Gegensätzlichkeit gibt, dann musst die Beschaffenheit Gottes weit über den menschlichen Verstand hinausgehen, worauf die Gottesauffassung als Sein hinaus wollen kann.

Im Dokument Das sinnsuchende Individuum (Seite 195-199)