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Probleme und Kritik

Im Dokument Das sinnsuchende Individuum (Seite 151-156)

Die Ethik Heideggers unterstreicht mit Recht das Individuum, dem es in einer sinnvollen Einheit um die Planung und Durchführung des eigenen Lebens geht. Mit ethischen Problemen, genau so wie mit dem Philosophieren, muss der Einzelne durch eigene Reflexion selbst umzugehen lernen. Ein Konsens über einen Streit kann erst dann erreicht werden, wenn jeder Einzelne sich wirklich über etwas im klaren und damit einverstanden ist. Dies kann zum einen durch den Austausch von prädikativen Argumentationen nicht immer erzwungen werden. Zum anderen kann es ohne äußerliche Überredung doch zustande kommen. Selbst die kultivierte Moral bzw. Lebensform muss jeder Einzelne von Anfang an reflektierend rezipieren. Jedes Individuum ist sozusagen die Stunde Null der menschlichen Kultur.370 In diesem Sinne ist die Ethik wohl immer eine Ethik der Individualität.

Ferner wird der mythische Aspekt der Moral von Heidegger dadurch hervorgehoben, dass er trotz der Betonung der Individualisierung der ethischen Entscheidung, also Entschlossenheit, noch von einer generellen echten Authenzität für jeden Einzelnen überzeugt ist. Der Witz besteht darin, wie er trotz verschiedener kultureller, sozialer oder persönlicher Verzweigung und Differenzierung eine genuin philosophische Aussage über die Ethik machen kann. Der mystische Aspekt bezieht sich zum einen auf diese Universalität des moralischen Phänomens, zum andern auf die religiöse Mystik, die in der Ethik zum Ausdruck kommt. Welche Probleme sich daraus ergeben würden, wollen wir im Folgenden kurz erörtern.

368 Vgl. Martin Heidegger, Brief über den Humanismus, In: Wegmarken, S.155.

369 A.a.O., Dazu sieh auch S.185. „ή̃θος bedeutet Aufenthalt, Ort des Wohnens. […] Der Aufenthalt des Menschen enthält und bewahrt die Ankunft dessen, dem der Mensch in seinem Wesen gehört. Das ist nach dem Wort des Heraklit δαίµων, der Gott.“

370 Vgl. Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Stuttgart 1999, S.13.

5.1 Die Asymmetrie der Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen

In der ethischen Hinsicht ist die Beziehung des Daseins zum Anderen, sei es die zur Einzelperson oder zur Menge, der Angelpunkt der existenzialen Daseinsanalytik Heideggers.

Sie erstreckt sich in zwei in Theorie entgegengesetzte, aber in Wirklichkeit sich ergänzende Richtungen, nämlich einmal vom Selbst zum Anderen hin, andererseits vom Anderen zum Selbst her. Durch die phänomenologische Beschreibung und Analyse der beiden Beziehungen will Heidegger eigentlich die Lebenssituation und Existenzart des Menschen als des Daseins darstellen. Mit anderen Worten: Die angemessene Fürsorge für den Anderen und die Sorge für das Selbst sind in der Tat die zwei Seiten derselben Sache. Heidegger will damit die Selbständigkeit und Selbstbestimmung des Individuums unterstreichen. Der Fokus seiner Analyse und seines Anliegens ist immer noch das Dasein des Selbst.

Theoretisch betrachtet soll die Beziehung des Selbst zum Anderen und die des Anderen zum Selbst äquivalent und symmetrisch sein, da der Andere auch nichts anderes als ein Dasein ist wie das des Selbst. Konkret gesagt, wie das Dasein den Anderen behandelt, so soll der Andere das Dasein des Selbst auch behandeln. Damit ist nicht folgendes in realem Leben gemeint, dass man dem Gegenpart dasselbe, was dieser tut, mit gleicher Münze heimzahlen soll. So ist damit weder Rache noch Höflichkeit aufgrund der Gegenseitigkeit gemeint. Sondern die Behandlungsweise des einen Menschen zu dem anderen, — abgesehen von Personen, wer wen behandelt, — soll sich in einer theoretischen Analyse von der Behandlungsweise von diesem zu jenem nicht unterscheiden. Andernfalls ist das Bild dieses Verhältnisses etwas verkehrt. Und dies geschieht genau in Heideggers Schilderung der menschlichen Beziehungen.

Das Dasein des Selbst kann bei Heidegger dem Anderen Fürsorge leisten, während der Andere für es nur als eine Belastung oder Beschränkung gilt, wobei das Dasein beim Umgang mit dem Anderen auch aufpassen muss, diesem die Autonomie und Freiheit nicht abzunehmen. Das Dasein des Selbst muss sich der Macht des anonymen Anderen auf jeden Fall entwinden, um das eigentliche Selbstsein wieder zu finden und aus der Zerstreuung in das Man zurückzuholen; allerdings kann es gegebenenfalls dem Anderen doch die angebrachte Hilfe leisten.

Die Schwierigkeiten von Heideggers Ethik prägen sich erstens besonders darin aus, dass die Rolle des Anderen bei der Ethik der Individualität gewissermaßen herabgesetzt oder verteufelt wird. In der Tat kann der Andere vieles dazu beitragen, wie das Individuum sich entwickelt und verwirklicht.371 Doch diese möglichen und wirklich guten Beeinflussungen des Anderen scheinen von Heidegger übersehen zu werden. In dieser Hinsicht erweisen sich die beiden Beziehungen bei Heidegger eindeutig als andersartig und asymmetrisch.

Dazu gibt Buber eine prägnante Analyse: „In der bloßen Fürsorge bleibt der Mensch, auch wenn er von stärkstem Mitleiden bewegt wird, wesentlich bei sich; er neigt sich handelnd, helfend dem Anderen zu, aber die Schranken seines eigenen Seins werden dadurch nicht durchbrochen; er erschließt dem Anderen nicht sein Selbst, sondern gibt ihm seinen Beistand;

er erwartet ja auch keine wirkliche Gegenseitigkeit, ja er wünscht sie wohl kaum, er »geht«, wie man sagt, »auf den Anderen ein«, aber er begehrt nicht, dass der Andere auf ihn eingehe.“372 Hier erhebt sich die Frage, wie diese Asymmetrie in der Daseinsanalytik Heideggers zustande gekommen ist?

Das asymmetrische Verhältnis zwischen dem Selbst und dem Anderen kommt deswegen zustande, weil der Andere bei Heidegger kein konkretes „Du“ im Sinne von Buber ist. Der Andere ist keine reale Person, der das Dasein des Selbst von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht; vielmehr bleibt er diesem immer noch ein allgemeiner Anderer. Buber weist mit recht in diesem Punkt darauf hin: „Ein Verhältnis der bloßen Fürsorge kann nicht wesentlich sein; in einem wesentlichen Verhältnis, das Fürsorge einschließt, stammt die Wesentlichkeit aus einem anderen Bereich, der bei Heidegger fehlt. Ein wesentliches Verhältnis zu einzelnen Menschen kann nur ein unmittelbares Verhältnis von Wesen zu Wesen sein, in dem die Verschlossenheit des Menschen sich löst und die Schranken seines Selbstseins durchbrochen werden.“373 „[…]; in der Welt Heideggers gibt es kein solches Du, kein wesenhaftes, von Wesen zu Wesen, mit dem ganzen eigenen Wesen gesprochenes Du.

Zu dem Menschen, an dem man bloße Fürsorge übt, sagt man dieses Du nicht.“374

Was Heidegger über das Verhältnis des Daseins zum Anderen darlegt, spiegelt keine wesentliche Beziehung der gleichgestellten Menschen wider, vielmehr eher eine spezifische

371 Thomas Rentsch, Interexistentialität. Zur Destruktion der existentialen Analytik. In: Reinhard Margreiter &

Karl Leidlmair (Hrsg.), Heidegger. Technik ⎯ Ethik ⎯ Politik, Würzburg 1991, S.147-151.

372 Martin Buber, Das Problem des Menschen. Heidelberg 1954, S.106.

373 Martin Buber, Das Problem des Menschen. Heidelberg 1954, S.120.

374 Martin Buber, Das Problem des Menschen. Heidelberg 1954, S.111.

Beziehung (z.B. Meister zu Lehrling oder Eltern zu ihrem unmündigen Kind) oder einen sehr beschränkten Aspekt der zwischenmenschlichen Beziehung (z.B. der Aufklärer zu aufzuklärenden Massen). Darin prägt sich nichts anderes als die Selbstaufforderung des Menschen aus. Die Darstellung des Verhältnisses des Menschen zum Anderen fungiert als Kehrseite der Selbstbeschreibung bzw. des Selbstverständnisses des Daseins. Das Thema des Anderen ist folglich bei Heidegger in den Hintergrund gedrängt worden. Und es hat sich herausgestellt, dass das Individuum immer im Mittelpunkt seines Interesses steht.

5.2 Religion als die Quelle der Ethik

Wie oben dargestellt, gilt Heideggers Ethik als eine Ethik des Guten, die nach einem guten Leben streben will. Im Vergleich zur Ethik des Richtigen, die nach den Kriterien für moralisch richtige Handlungen suchen will, fehlt seiner ethischen Konzeption ein wichtiges Moment, und zwar das der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit fällt wohl in die Kategorie der Richtigkeit, die von Heidegger vernachlässigt wird. 375 Dies entspricht gerade dem Unterschied zwischen der Ethik des Richtigen und der des Guten.

Das Problem der Gerechtigkeit taucht eher in zwischenmenschlichen Beziehungen der Gesellschaft als im individuellen Leben des Einzelnen auf. Die Fairness ist ein formaler Maßstab, welcher der Lösung zwischenmenschlicher Konflikte und Probleme besser gerecht werden kann. Die Gerechtigkeit fordert mindestens die formale Gleichberechtigung und die standardisierte Prozedur, bei der es sich um die Richtigkeit bzw. Objektivität ungeachtet der Person handelt.376 Sie muss für die Möglichkeit und Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens sorgen und sucht folgerichtig nach der Allgemeingültigkeit. Also kommt sie dem Recht nahe,377 das mit strengen Gesetzen und Strafen versehen ist. Jeder normative Satz, der mit „Du sollst“ oder „Du darfst nicht“ anfängt, gehört zur Ethik des Richtigen. Sie fordert das Individuum zum Gehorsam und Folgen auf; sonst droht sie ihm mit Strafe oder Sanktionen. Ihre Verbindlichkeit kommt äußerlich auf das Individuum zu. Das ist eine sozusagen harte Ethik. Offenbar zählt Heideggers Ethik nicht dazu.

375 Vgl. Carl Friedrich Gethmann, Dasein: Erkennen und Handeln, Heidegger im phänomenologischen Kontext, Berlin 1993, S.319. Gethmann zieht aus seiner Untersuchung von Heideggers Konzeption des Handelns die Schlussfolgerung, dass es „keine Theorie des moralischen Handelns im Sinne einer Konzeption intersubjektiver Verbindlichkeit und Verpflichtung“ bei Heidegger gibt.

376 Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975.

377 Vgl. Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a. M. 1991, S.118.

Im Vergleich zur Ethik der Gerechtigkeit kann man Heideggers Ethik als die Ethik der Sorge bezeichnen. Parallel kann man die Beiden jeweils als die patriarchalische Ethik bzw. die feministische Ethik bezeichnen. Beiden legen den Akzent auf unterschiedliche Aspekte. Wie gesagt, während sich die Ethik der Gerechtigkeit um die Ordnung der Gesellschaft kümmern muss, will sich die Ethik der Sorge um das Entwerfen und Führen des Lebens des Individuums bemühen. Und diese muss oder will nicht durch äußere Mittel ihr Ziel erreichen.

In ihr befindet sich kein Befehl mit „Du sollst“, vielmehr immer die Selbstfrage „Was ich soll“, sei es die Pflicht dem Selbst oder dem Anderen gegenüber. Es gibt keine Aufforderung vom Außen, sondern eher Ratschläge oder Empfehlung, oder besser: Selbstreflexion. Die Ethik der Sorge will dem Individuum keine Gesetze oder Außenzwänge vorschreiben. Sie soll jedes Individuum zur Selbstreflexion, und zwar zur Sorge sowohl für sich selbst als auch für die Anderen, bewegen. Sie kann man als eine milde Ethik bezeichnen.378

Die Feststellung des Unterschiedes zwischen den beiden Typen der Ethik kann uns helfen zu verstehen, warum Heideggers Ethik auf Religion zurückgreifen muss. Da die Ethik des Richtigen ein intersubjektiver Ansatz ist, kann sie mit gesellschaftlichen Gründen begründet oder gerechtfertigt werden. Damit die Harmonie und Ordnung des menschlichen Zusammenlebens möglich ist, können Konventionen, Gebräuche oder sogar Gesetze als die Quelle ihrer Autorität dienen. Der Gehalt der Ethik des Richtigen ist gewissermaßen bereits vorgegeben und festgelegt.

Hingegen wird die Ethik des Guten individualistisch angesetzt; deswegen spielen gesellschaftliche Gründe keine bedeutsame Rolle mehr. Wenn die Sitten und Gebräuche in diesem Ansatz ihre Verbindlichkeit verloren haben, wohl sogar als auferlegte Schranken oder Hemmungen betrachtet und verworfen werden, dann lässt sich der Inhalt der Ethik des Guten nicht von der Gesellschaft oder Tradition bestimmen. Wird diese Position ins Extrem getrieben, müssen alle bisherigen konventionellen Werte umgewertet werden, und zwar vom Individuum neu definiert werden. Die Ethik bei Heidegger radikalisiert diese Position und zeigt sich zunächst als solipsistisch bzw. nihilistisch.379 Wie ist diese nihilistische Implikation bei Heidegger zu verstehen?

378 Vgl. Marcus Düwell, Christoph Hübenthal, und Micha H. Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik. Stuttgart, Weimar 2002, S. 231-243.

379 Vgl. Gianni Vattimo, Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie.

Frankfurt a. M.; New York 1997, S.13-31, 49-66.

Anschließend an Nietzsches Moralkritik und Umwertung aller Werte setzt Heidegger die radikale Ethik des Guten individualistisch an. In Bezug auf die Gesellschaft kann die radikalisierte Ethik des Guten inhaltlich leer sein. Die Gesellschaft und die Anderen können nicht nur das Gleichgewicht und die innere Orientierung des Individuums nicht gewährleisten, vielmehr können sie sie stören, sogar zerstören. Die äußeren Forderungen zählen für Heidegger nicht zu gültiger Verbindlichkeit. Das Individuum muss sich, um die gültige, also innere Verbindlichkeit zu bilden, an sich selbst wenden. Das Selbst ist der unhintergehbare Grund der Ethik.

Dieser äußerst individualistische Ansatz könnte aber einfach auf seine Grenze stoßen, wenn allein das Individuum als die Letztbegründung aller normativen Verbindlichkeiten gälte.

Wenn es keine Religion als die Quelle und das Maß der individualistischen Ethik gäbe, dann könnte sie total inhaltslos sein oder dazu tendieren, kein Kriterium zu haben. Der Rekurs der Moral auf die Religion kann zur Mystifizierung der Moral führen, die dem Relativismus Tür und Tor öffnet. Andererseits ist es fraglich, ob die Autorität der Religion heutzutage, wo sich die Säkularisierung — außer in der islamischen Welt — durchgesetzt hat, noch eine gemeinsame Grundlage für ethisches Leben sein kann. Außerdem scheint es natürlich etwas widersprüchlich zu sein, dass die radikalisiert individualistische Ethik auf eine bestimmte Religion rekurriert; geriete sie dann nicht wieder in äußerliche Autorität und Konventionen?

Dagegen kann man noch fragen, ob Heideggers Ethik auf die Autorität einer bestimmten Religion zurückgeht. Das werden wir im nächsten Kapitel genau untersuchen.

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