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Die Schwierigkeiten der Diskursethik

Im Dokument Das sinnsuchende Individuum (Seite 128-131)

Zwischen der Ethik des Richtigen und der des Guten schlägt sich die Diskursethik auf die Seite der ersteren. Sie strebt nach der Richtigkeit von Handlungen, die mehr mit den

zwischenmenschlichen Beziehungen als mit dem eigenen Leben des Individuums zu tun haben. Diese dialektische Moralphilosophie beruht vornehmlich auf einer Auffassung der Wahrheitstheorie, nämlich der Konsenstheorie der Wahrheit.302 Die Diskursethik hängt nicht nur eng mit der Erkenntnistheorie zusammen. Sondern auch die praktische Philosophie ist in diesem Sinne auf die theoretische Philosophie zurückzuführen, obwohl die Rehabilitation der praktischen Philosophie dabei proklamiert wird.

In dieser Hinsicht unterscheidet Habermas moralische Fragen von ethischen, indem er die letzteren auf den Entwurf sowie die Führung eigenen Lebens beschränkt und die ersteren als die Probleme und Lösungsversuche der Interessenkonflikte ansieht.303 Nachdem er die so genannten ethischen Probleme von seiner Moralphilosophie ausgeschlossen hatte, wollte er einen offenen, gewaltfreien und gleichberechtigten, kurz einen idealen Dialog als Prinzip entwickeln, der moralische Konflikte lösen „sollte“.

Dadurch will Habermas Kants Moralphilosophie revidierend erben. Er will nämlich die Universalität der moralischen Verbindlichkeit und die vernünftige Grundlage der Moralität Kants beibehalten, zugleich aber den monologischen Rahmen des transzendentalen Subjektes derart sprengen, dass moralische Urteile durch den oben geschilderten Dialog und Diskurs in einer Form des Konsens gebildet würde. Dabei verwirft Habermas den Anspruch der Transzendentalität Kants, auf dem Apel noch bestehen will. Die normative Verbindlichkeit entsteht für Habermas aus dem faktischen Konsens des idealen Dialogs, während sie bei Apel schon a priori in den performativen Sprachregeln eingebettet und vorausgesetzt wird.

Eine der Schwierigkeiten der Diskursethik besteht in der Zirkularität.304 Apels und Habermas’

Moraltheorie beruht auf einer so genannten „idealen Kommunikationsgemeinschaft“, eine theoretische Abstraktion oder lieber eine Unterstellung, die kaum eine reale Entsprechung in der Wirklichkeit finden kann. Die Aufzählung der Bedingungen dieser vollkommenen Dialoggemeinschaft, also die gewaltlose, gleichberechtigte Argumentation aller betroffenen Teilnehmer und ein dadurch zustande gekommener Konsens als Moralurteil usw., ist nur eine Idealisierung der Bedingungen der Möglichkeit der moralischen Diskussionen. Diese

302 Zur Kritik der Konsenstheorie der Wahrheit siehe: Otfried Höffe, Ethik und Politik. Grundmodell und -probleme der praktischen Philosophie. Frankfurt a. M. 1979, Kap.9, Anhang: Kritische Überlegungen zur Konsenstheorie der Wahrheit (Habermas), S.251-280.

303 Vgl. Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a. M. 1991, S. 77 ff. und 100 ff.

304 Vgl. Ernst Tugendhat, Die Diskursethik, in: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1994, S. 161-177.

Siehe auch Otfried Höffe, Ethik und Politik, Frankfurt am Main 1979, S. 247-251.

Idealisierung kann höchstens die notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Moralität sein. Das heißt, die Moral kann z.B. die Gewaltlosigkeit, Gleichberechtigung und Aufrichtigkeit implizieren. Aber das Umgekehrte ist nicht immer der Fall. Die Erfüllung aller oben erwähnten Bedingungen der Idealgemeinschaft kann auch nur ein normales Gespräch sein, das mit Moral überhaupt nichts zu tun hat.

Selbst wenn zugegeben — wie Habermas und Apel es meinen — die Ansprüche der Gewaltlosigkeit, Gleichheit und offenen Disputation nahezu gleichbedeutend mit der Moralität sind, ist diese „Moralisierung“ der Bedingungen der Konfliktlösung in der Voraussetzungen der idealen Kommunikationsgemeinschaft enthalten. Die These der idealen Kommunikationsgemeinschaft ist eine analytische im Sinne Kants. Sie setzt nichts anderes als voraus, was wir schon von der Moralität wissen. Also bringt sie nichts Neues über Moralität ans Licht.

Dieser Ansatz zählt zu der angeblichen Prozedurethik, die sich auf ideale formale Bedingungen für einen solchen Diskurs konzentriert und damit realen, konkreten Inhalten entziehen will. Den Inhalt der normativen Verbindlichkeit überlässt er den konkreten realen Parteien des Streitens. Mit anderen Worten: In dieser Hinsicht entkommt die Diskursethik erstens wie Kant dem Vorwurf des Formalismus nicht. Der Übergang von dieser Idealisierung zur realen Diskurssituationen ist noch weit entfernter, als Habermas und Apel es glauben.

Zweitens kann Habermas die Zirkularität seiner Beweisführung nicht aufklären. Die Gültigkeit eines Arguments im Diskurs rekurriert auf seine Begründbarkeit. Begründungen müssen wieder „vernünftig“ sein. Die Vernünftigkeit und die Begründbarkeit werden dadurch gegenseitig impliziert und somit erklären sie einander nicht. Sie setzen einander voraus und sagen zusammen nichts Neues. Drittens ist die Idealdiskursgemeinschaft bzw. -situation eine Annahme, die auch kein konstitutives, sondern höchstens nur ein regulatives Prinzip der Moral sein kann.

Viertens hat moralischer Streit es seltener mit dem Verkennen gegenseitiger Interessen der Konfliktparteien, als mit ihrer Meinungsverschiedenheit und Unwilligkeit zur Anerkennung der Interessen der Gegner zu tun. Eigentlich kennt jeder Streitende genau die eigenen Interessen und die der Gegner. Nur will in den meisten Fällen niemand nachgeben und sich übervorteilen lassen. Und im Kampf um Interessen zeigt sich normalerweise allein das

Pochen auf eigene Ansprüche, aber kaum gegenseitige Rücksichtnahme.

Schließlich ist der Ausgangspunkt von Habermas bereits problematisch. Sind moralische Probleme in Habermasschem Sinne sauber von ethischen abzugrenzen? Kann moralisches Streiten, das nur die Konflikte der Interessen betrifft, tatsächlich nichts mit dem Entwerfen und Führen des eigenen Lebens zu tun haben? Wie könnte ein heftiger Konflikt der Interessen isoliert betrachtet werden, ohne seinen Zusammenhang im Leben des Streitenden zu tangieren? Insofern ist die Abgrenzung Habermas’ hinfällig und belanglos. Also wird im Folgenden das Wort „Ethik“ nicht im Sinne von Habermas verwendet, sondern es umfasst die praktischen Probleme, die Bezug auf die evaluativen Tätigkeiten und auf das Selbstverhältnis des Menschen haben.

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