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Überwindung des Nihilismus

Im Dokument Das sinnsuchende Individuum (Seite 183-187)

IV. Religiosität ohne Religion

2. Dasein – Nichts

2.2 Überwindung des Nihilismus

Wie ist Nietzsches Nihilismus zu überwinden? Wie wandelt Heidegger Nietzsches Nihilismus

423 Martin Heidegger, Nietzsche II, S.36.

424 Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche II, S.37, „Alles Seiende ist, sofern es ist und so ist, wie es ist: »Wille zur Macht«.“

425 Martin Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1963, S.210.

426 Vgl. Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1963, S.81. „Der Mensch wird zu jenem Seienden, auf das sich alles Seiende in der Art seines Seins und seiner Wahrheit gründet. Der Mensch wird zur Bezugsmitte des Seienden als solchen.“

um? Heideggers Strategie ist die Metaphysisierung von Nietzsches Philosophie. Er glaubt beweisen zu können, dass Nietzsche nicht umhin kann, bei seiner Darstellung der eigenen Philosophie metaphysisch zu denken. Er kann Nietzsche als den letzten Metaphysiker bezeichnen. Er darf dann selbst „legitim“ metaphysisch philosophieren.

2.2.1 Ein Einheitliches Erklärungsprinzip

Es ist eine umstrittene Frage, ob der Wille zur Macht ein metaphysischer Begriff ist.427 Heidegger stellt den Willen zur Macht als einen metaphysischen Begriff heraus, indem er ihn als ein einheitliches Erklärungsprinzip des Seienden im Ganzen auslegt. Metaphysik ist für Heidegger der menschliche Versuch, das Seiende im Ganzen durch ein einheitliches Prinzip zu verstehen.428 In dem Willen zur Macht, also dem Prinzip hinter jedem Phänomen des Werdens, sieht Heidegger das metaphysische Prinzip: „Die Frage, was das Seiende sei, sucht nach dem Sein des Seienden. Alles Sein ist für Nietzsche ein Werden. Dies Werden jedoch hat den Charakter der Aktion und der Aktivität des Wollens. Der Wille aber ist in seinem Wesen Wille zur Macht. Dieser Ausdruck nennt dasjenige, was Nietzsche denkt, wenn er die Leitfrage der Philosophie fragt.“429 Er stellt den Machtwillen als „die Wirklichkeit des Wirklichen, das Sein des Seienden“ hin.430 Für Heidegger bedeuten „Wille zur Macht, Werden, Leben und Sein im weitesten Sinne in Nietzsches Sprache das Selbe.“431

Nietzsches „Wille zur Macht“ ist zwar nicht unbedingt so zu interpretieren, wie Heidegger es tut, nämlich als das Sein des Seienden im Ganzen zu verstehen. Dennoch ist er meines Erachtens ein metaphysischer Begriff, da er als ein einheitliches Erklärungsprinzip für das

427 Vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche, Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie. Berlin, New York, 1971, S.28-33. Müller-Lauter ist der Meinung, dass der Wille zur Macht kein metaphysisches Prinzip ist. Dagegen vertritt Volker Gerhardt die Position, „dass der Wille zur Macht nur als ein metaphysischer Begriff verständlich werden kann. Diese These weicht vom Wortlaut nietzscheanischer Selbstauslegung ab, kommt ihr aber in der Sache entgegen, denn die Metaphysik, die Nietzsche betreibt, sofern er den Willen zur Macht thematisiert, ist nicht mehr die Metaphysik, die er kritisiert.“ In: Derselbe, Vom Willen zur Macht, Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches. Berlin, New York 1996, S.288.

428 Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche II, S.33, „Die Wahrheit über das Seiende im Ganzen heißt von altersher

»Metaphysik«. Jedes Zeitalter, jedes Menschentum ist von je einer Metaphysik getragen und durch sie in ein bestimmtes Verhältnis zum Seienden im Ganzen und damit auch zu sich selbst gesetzt.“

429 Martin Heidegger, Nietzsche I, S.15.

430 Vgl. Martin Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1963, S.231.

431 Martin Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1963, S.213. „Innerhalb des Werdens gestaltet sich das Leben, d.h. das Lebendige zu jeweiligen Zentren des Willens zur Macht. Diese Zentren sind demnach Herrschaftsgebilde. Als solche versteht Nietzsche die Kunst, den Staat, die Religion, die Wissenschaft, die Gesellschaft. Deshalb kann Nietzsche auch sagen (W. z. M. A. 715): ‚»Wert« ist wesentlich der Gesichtspunkt für das Zunehmen oder Abnehmen dieser herrschaftlichen Zentren’ (nämlich hinsichtlich ihres Herrschaftscharakters).“

Seiende im Ganzen anzusehen ist.432 Dieser metaphysische Erklärungsversuch entspricht der Beobachtung des Werdens. Nietzsche will durch seine Leibes- bzw. Lebensphilosophie die traditionelle Metaphysik überwinden. Die Beschreibung der Veränderungen scheint rein phänomenologisch zu sein. Wie kann Nietzsche aber immer phänomenologisch die Prozessualität des leiblichen Geschehens beschreiben, ohne irgendeinen metaphysisch verdächtigen Begriff zu verwenden? Wenn Nietzsche alle substanzhaften Begriffe verwürfe, dann wäre es ihm nicht erlaubt, von Begriffen wie des Selbst, der Vernunft, des Willens, des Geistes oder der Wirklichkeit sowie Realität zu reden, ohne sie auf ontologischer Ebene zu erläutern. Außerdem beruht zwar die Metaphysik auf der Dichotomie. Wie ist es aber möglich, dass die Metaphysikkritik ohne Gebrauch derselben Dichotomie überhaupt in Gang kommt? Der Begriff der Prozessualität wäre ohne den der Substanz gar nicht denkbar, genau so wie der Begriff des Materials ohne den der Form nicht definierbar ist. Nietzsches Leibphilosophie als eine Metaphysikkritik bleibt insofern in der Metaphysik befangen.

2.2.2 Vollendung der Subjektivitätsphilosophie

Es gibt noch einen Grund dafür, warum Heidegger mit Nietzsches Philosophie unzufrieden ist. Er bezeichnet sie nämlich als die Vollendung der Subjektivitätsphilosophie seit Descartes bis zu Husserl, mit der er sich in seinem eigenen Philosophieren auseinandergesetzt hat.433 Die Subjektivitätsphilosophie bedeutet für ihn die Übernahme der Wertsetzung und

„Gesetzgebung“ Gottes durch den Menschen. Das vollendet sich gerade in Nietzsches Philosophie, und zwar mit der Behauptung „Gott ist tot.“434 Da sich der Mensch Heidegger zufolge von Gott kategorisch unterscheidet, also — um mit seinen Worten zu sagen, — das Wesen des Menschen nie den Wesenbereich Gottes erreicht, tritt der Mensch bzw.

432 Vgl. Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht, Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches. Berlin, New York 1996, S.288-293. Gerhardt ist der Ansicht, dass der Wille zur Macht weder die Seins-Metaphysik, „die das einzelne Seiende wie das Sein als ganzes mit den Augen eines Gottes zu sehen versucht und nach Analogie eines Gegenstandes denkt“, noch die Vernunft-Metaphysik, „die alles mit den Augen des Menschen betrachtet und die das Ganze nur noch in Korrespondenz zum eigenen Vernunftbedürfnis gelten lässt“, sein kann.

433 Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche II, S.192, „Nietzsches Metaphysik sei als Vollendung der neuzeitlichen Metaphysik zugleich die Vollendung der abendländischen Metaphysik überhaupt und damit — in einem recht verstandenen Sinne — das Ende der Metaphysik als solcher.“

434 Vgl. Martin Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1963, S.235, „Nietzsche schließt den ersten teil von ‚Also sprach Zarathustra’, der ein Jahr nach der ‚Fröhlichen Wissenschaft’ im Jahre 1883 erschien, mit dem Wort: ‚Tot sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe! —’

Man könnte grob denkend meinen, das Wort sage, die Herrschaft über das Seiende gehe von Gott an den Menschen über, oder noch gröber gemeint, Nietzsche setze an die Stelle Gottes den Menschen. Dies so meinen, denken allerdings wenig göttlich von Gottes Wesen. Nie kann sich der Mensch an die Stelle Gottes setzen, weil das Wesen des Menschen den Wesensbereich Gottes nie erreicht.“

Übermensch nicht und nie an die Stelle Gottes.435 Was die Subjektivitätsphilosophie für den Menschen zu erlangen glaubt, ist ein ganz anderer Wesensbereich als der Gottes. Durch die menschliche Subjektivität ist das Sein des Seienden ganz anders zu bestimmen, als das Seiende als Geschöpf Gottes.436

Wie ist das Sein des Seienden nach der Todesbehauptung Gottes zu bestimmen? Es ist allein durch die Subjektivität, also durch menschliches „Zutun“ oder Eingreifen, zu definieren.

Heidegger bringt das in der folgenden Aussage zum Ausdruck: „Alles Seiende ist jetzt entweder das Wirkliche als der Gegenstand oder das Wirkende als die Vergegenständlichung, in der sich die Gegenständlichkeit des Gegenstandes bildet.“437 Alles Seiende, was den Menschen und das übrige Seiende umspannt, spalt sich in zwei Kategorien, nämlich Subjekt und Objekt. Diese bestimmende Spaltung lässt sich nun durch die menschliche Vergegenständlichung konstruieren.

Die Subjektivitätsphilosophie scheint auf den ersten Blick zwar den Status des Menschen zu erhöhen. Der Mensch, der allein sich als Subjekt der Wertsetzung und Erkenntnis ansieht, fühlt sich vielleicht freier und autonomer, als er je erlebt hat. Aber sie entpuppt sich allmählich als die wirkliche Herabwürdigung des Menschen. Denn alles, was die Erde, die Natur, sogar den Menschen einschließt, kann nunmehr vergegenständlicht werden.438 Wenn der Mensch als Objekt, für das er sowohl von einem anderen Menschen als auch von sich selbst gehalten wird, vergegenständlicht wird, verliert er die Würde des Menschen. Nicht nur der Mensch allein, sondern auch die Natur kann durch diese berechenbare Objektivierung verletzt werden. Alles Seiende ist dadurch der Gegenstand der Technik geworden. Viele Katastrophen erweisen sich als die natürliche Folge der Verabsolutierung der Subjektivität.

Denn der Mensch ist nach dem Tod Gottes die letzte Instanz, die alles Seiende nach seiner Wertung und Planung handhaben kann. Der Mensch rückt bei der Subjektivitätsphilosophie ins Zentrum der Weltbühne. Er kann die Welt gewissermaßen ändern, lenken, sogar zerstören.

Die Hervorhebung des Menschen durch die Subjektivitätsphilosophie hat Heideggers Gedanken auch stark geprägt. Nur schreibt Heidegger dem Menschen eine ausgezeichnete Stelle unter dem Seienden zu. Der Mensch ist ein Seiendes unter dem übrigen Seienden. Der

435 Vgl. Martin Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1963, S.236.

436 Vgl. Martin Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1963, S.235-236.

437 Martin Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1963, S.236.

438 Vgl. Martin Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1963, S.236.

Mensch ist kein Gott. Er kann sich vielleicht alles theoretisch vorstellen, aber nicht um alles im Ganzen kümmern. Die „Mündigkeit“ und Autonomie des Menschen impliziert sowohl die Freiheit als auch die Selbstverantwortlichkeit.

Nietzsche hat insofern Recht, als es kaum etwas in der heutigen Welt gibt, das nichts mit menschlichen Angelegenheiten bzw. Entscheidungen, also Politik und Ökonomie etc., zu tun hat. Nur ob der Mensch tatsächlich für sich und für alles die Verantwortung übernehmen kann, steht noch in den Sternen. Die Verabsolutierung der Subjektivität kommt einer Anmaßung des Menschen nahe.439 Diese Anmaßung besteht darin, dass die Endlichkeit des Menschen nicht erkannt wird oder besser, nicht zugegeben werden will. Im Hinblick auf die Gottesvorstellung oder das Gottesverhältnis steht diese Anmaßung dem Menschen im Weg.

Heideggers Überwindung des Nihilismus Nietzsches will das Übersinnliche wieder im Betracht ziehen, indem er auf die Endlichkeit des Menschen hinweist. Erst wenn man zur Möglichkeit des Gottesdaseins hin offen ist und den Unterschied zwischen Gott und Mensch hinnimmt, dann kann man von Gott bzw. der Gottesvorstellung sinnvoll reden.

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