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§ 15 AUSGANGSLAGE I. Änderung des Wahlrechts

Dem «im Zuge der Zeit liegenden demokratischen Geiste»2 entspre-chend drängen im Landtag die oppositionellen Kräfte3auf eine Demo-kratisierung und Parlamentarisierung der Monarchie. Sie verlangen einen Ausbau der Volksrechte und mehr Einfluss auf die Landespolitik.

Diesem Anliegen kam die Einführung des direkten Wahlrechts auf Lan-des- und Gemeindeebene entgegen. Die Landtagswahlordnung trat am 21. Januar 1918 in Kraft.4Sie ersetzt das VI. Hauptstück der Konstitu-tionellen Verfassung von 1862. Auf die in den Oberrheinischen Nach-richten im April und Mai 1917 geäusserte Kritik am Wahlmänner-Wahl-system reagierte Landesverweser Leopold von Imhof5in der Landtags-sitzung vom 30. Oktober 1917 mit der Anregung, die direkte und geheime Wahl der Landtagsabgeordneten einzuführen. Die landesfürst-liche Einwilligung hatte er vorsorglich eingeholt. Der Abgeordnete Wil-helm Beck6 anerkannte «dankend» in der Landtagssitzung vom

2 Formulierung von Albert Schädler, Landtag, JBL Bd. 21 (1921), S. 8; so auch Wil-helm Beck in seiner Rede im Landtag vom 14. Oktober 1918; siehe dazu Herbert Wille, Landtag und Wahlrecht, S. 119.

3 Vgl. O.N. Nr. 35 vom 19. Dezember 1914 (Beilage zu Nr. 35 der O.N.) und O.N.

Nr. 4 vom 26. Januar 1918 (Rede von Dr. Wilhelm Beck in der Landtagssitzung vom 27. Dezember 1917), auch zitiert bei Herbert Wille, Monarchie und Demokratie, S. 179 Fn. 94.

4 LGBl. 1918 Nr. 4.

5 Zu seiner Person siehe Rupert Quaderer, in: Historisches Lexikon, Bd. 1, S. 385.

6 Zu seiner Person siehe Wolfgang Vogt, Wilhelm Beck, S. 17 ff. und Gerda Liepold-Schneider, in: Historisches Lexikon, Bd. 1, S. 82 f.

27. Dezember 1917, dass der Anstoss zur Einführung des neuen Wahl-rechts vom Landesfürsten ausgegangen ist.7In der Folge wurden politi-sche Gruppierungen aktiv, die sich nach und nach zu Parteien formier-ten, wie sich dies in den Volksabstimmungen vom 2. März 1919 über die Erhöhung der Zahl der Volksabgeordneten und über die Herabsetzung des Wahlalters manifestierte,8die neben dem Landtag zum Forum der politischen Auseinandersetzung wurden. Waren sich Landesfürst und Landtag einig, konnten auch Volksabstimmungen durchgeführt werden, auch wenn die Konstitutionelle Verfassung von 1862 diese direktdemo-kratische Einrichtung nicht kannte.

II. Landesverweserfrage 1. Vollzugsausschuss

Der Umstand, dass der Landtag am 7. November 1918 einen Vollzugs-ausschuss9 wählte,10 den der Landesfürst, dem das alleinige Recht der Regierungsernennung zustand,11 nicht genehmigte und an dessen Stelle Prinz Karl von Liechtenstein12mit der «Übernahme der Stelle des Lan-desverwesers» betraute, rückte in der Verfassungsfrage zwangsläufig die Institution der Regierung bzw. das Regierungssystem, das umstritten war, in den Vordergrund. Es ist daher kein Zufall, dass diese Frage die

7 Herbert Wille, Monarchie und Demokratie, S. 179 Fn. 94; Rupert Quaderer-Vogt, Bewegte Zeiten, Bd. 2, S. 31 f.; Helga Michalsky, Die Entstehung der liechtensteini-schen Parteien, S. 242 ff.

8 Herbert Wille, Regierung und Parteien, S. 61 ff.; Rupert Quaderer-Vogt, Bewegte Zeiten, Bd. 2, S. 54 ff. und 172 ff.; Helga Michalsky, Die Entstehung der liechten-steinischen Parteien, S. 225 ff.

9 Gerard Batliner, Parlament, S. 171 Fn. 312 bezeichnet diesen Vorgang als «revolu-tionäres Zwischenspiel».

10 Herbert Wille, Regierung und Parteien, S. 80 ff.; ders., Monarchie und Demokratie, S. 170 ff.; Rupert Quaderer, Der historische Hintergrund der Verfassungsdiskus-sion, S. 113 ff.; Rupert Quaderer-Vogt, Der 7. November 1918, S. 189 ff.; ders., Das Kriegsende 1918, S. 18 f.; ders., Bewegte Zeiten, Bd. 2, S. 76 ff.

11 Die Wahl des Vollzugsausschusses stellt staatsrechtlich einen revolutionären Akt, einen Rechtsbruch, dar, da sie in einer nicht der Verfassungsordnung entsprechen-den Weise (§ 27 KV 1862) zustande gekommen ist.

12 Zu seiner Person siehe Harald Wanger, in: Historisches Lexikon, Bd. 1, S. 547 f.

Verfassungsauseinandersetzung beherrscht, geht es doch in diesem Punkt um eine heikle Machtfrage zwischen Landesfürst und Volk bzw.

Landtag, die sich unter dem Motto «Liechtenstein den Liechtensteinern»

zugespitzt hatte, wenn man bedenkt, dass die bisherigen Landesverwe-ser österreichischer Herkunft waren.13 Die Landesverweserfrage ist so gesehen der paradigmatische Auslöser für eine grundlegende Umgestal-tung des Regierungssystems.

2. Vorstoss im Landtag

Fürst und Landtag sind herausgefordert, den Weg zu einer Verfassungs-änderung frei zu machen und sich in der Frage zu einigen, wie die Regie-rung zu bestellen und abzuberufen ist.14Das hiess für den Fürsten, zur Parlamentarisierung der Regierung Position zu beziehen. Wilhelm Beck hatte schon in der Landtagssitzung vom 14. Oktober 191815erklärt, es gehe ein «demokratischer Zug» durch die Welt, der auch vor den Schran-ken Liechtensteins nicht Halt mache. Es habe bereits ein in diesem Geiste gehaltenes, direktes und gleiches Wahlrecht erhalten, sodass als

«Krönung» nun auch eine «demokratische oder, wie es heute heisse, par-lamentarische Regierung» dazu gehöre. Er verweist in diesem Zusam-menhang auf das Beispiel von Deutschland, das sich «in jüngster Zeit unter den Erfahrungen des Krieges auf den Boden einer parlamentari-schen Regierung gestellt» habe und nennt es ein «vorbildliches Land», dem man folgen dürfe. In der Landtagssitzung vom 24. Oktober 191816 stellen vier Abgeordnete der Volkspartei, unter ihnen auch Wilhelm Beck, den Antrag auf «Einführung einer parlamentarischen (Volksmit-)

13 Siehe Ziffer 8 des Parteiprogramms der Christlich-sozialen Volkspartei in: O.N. Nr.

25 vom 27. März 1920, wo es unter dem Titel «Verfassungspolitik» heisst: «Die Re-gierung hat aus Landesbürgern zu bestehen [...]». Zitiert aus Herbert Wille, Regie-rung und Parteien, S. 102.

14 Die Reformbedürftigkeit des Regierungssystems war unter den beiden Parteien unbestritten. Vgl. Herbert Wille, Regierung und Parteien, S. 100.

15 LLA, Landtagsakt F 4/1918, zitiert aus Herbert Wille, Landtag und Wahlrecht, S. 119; vgl. auch ders., Regierung und Parteien, S. 102.

16 LLA, Landtagsakten 1918, L 3, zitiert aus Rupert Quaderer, Der historische Hin-tergrund der Verfassungsdiskussion, S. 114; vgl. auch Rupert Quaderer-Vogt, Bewegte Zeiten, Bd. 2, S. 73 f.; Herbert Wille, Regierung und Parteien, S. 100 f.

Regierung», wonach die Bestellung der beiden Landräte (Regierungs-räte) und ihre Stellvertreter nur im ausdrücklichen Einvernehmen mit dem Landtage und aus Personen zu erfolgen hat, die dessen Vertrauen geniessen. Sie haben von der Regierung zurückzutreten, wenn sie dieses Vertrauen nicht mehr besitzen. Wilhelm Beck ist der Ansicht, dass zum direkten Wahlrecht eine parlamentarische Regierung gehört.17 Für ihn und seine Volkspartei stand fest, dass sie sich nicht mehr von der Forde-rung nach einer parlamentarischen RegieForde-rung abbringen lassen werden, einem Standpunkt, «den auch das Volk in seiner grossen Mehrheit» teile.

§ 16 GANG DER ENTWICKLUNG I. Verfassungskompromiss

1. Inhalt

Der Landtag beschliesst am 10. Dezember 1918 ein 9-Punkte-Pro-gramm, auf das er sich mit Landesverweser Prinz Karl von Liechtenstein geeinigt hatte.18Der Landesfürst sanktioniert diesen Landtagsbeschluss, sodass er verbindlich wurde. Er befasst sich vornehmlich mit der Frage der Regierungsbestellung. Danach hat die Regierung aus einem vom Landesfürsten im Einvernehmen mit dem Landtage zu ernennenden Landesverweser und zwei durch den Landtag zu wählenden Regie-rungsräten zu bestehen. Als Landesverweser soll in erster Linie ein Liechtensteiner eingesetzt werden. Der Landtag ist berechtigt, beim Landesfürsten die Enthebung des betreffenden Regierungsfunktionärs zu beantragen, wenn ein Mitglied der Regierung durch die Amtsführung das Vertrauen des Volkes und des Landtages verliert. Die Wahl des Land-tages soll grundsätzlich in der bisherigen Art erfolgen, doch wird der Regierung, soweit es um die drei vom Landesfürsten zu ernennenden

17 Rupert Quaderer, Der historische Hintergrund der Verfassungsdiskussion, S. 113.

Zum Antragsrecht der Abgeordneten siehe § 41 KV 1862 und §§ 12 und 25 der Ge-schäftsordnung für den Landtag von 1863.

18 Vgl. Rupert Quaderer, Der historische Hintergrund der Verfassungsdiskussion, S. 115 f., der den vollständigen Wortlaut des Landtagsbeschlusses wiedergibt; Her-bert Wille, Regierung und Parteien, S. 103.

Abgeordneten geht, ein Vorschlagsrecht zugestanden, wozu es eines kol-legialen Beschlusses bedarf. Die politischen und gerichtlichen Instanzen sind mit Ausnahme des Obersten Gerichtshofes in das Land zu verlegen.

Dieser Landtagsbeschluss beinhaltet u. a. eine Änderung des Regie-rungssystems und zugleich auch der Verfassung, wie das Beispiel der darauf folgenden Regierungsbestellung zeigt. Der Landtag hat nämlich Prinz Karl von Liechtenstein, nachdem er am 13. Dezember 1918 vom Landesfürsten zum Landesverweser ernannt worden war, in der Land-tagssitzung vom 17. Dezember 1918 das Vertrauen ausgesprochen und in der gleichen Landtagssitzung die zwei Regierungsräte gewählt.19 Die bisherige ausschliessliche Exekutivgewalt des Landesfürsten wird in zweifacher Hinsicht eingeschränkt. Er ist bei der Ernennung des Lan-desverwesers an die Zustimmung des Landtages gebunden.20Die Regie-rungsräte bestimmt der Landtag allein. Landtagspräsident Albert Schäd-ler hielt denn auch fest, «erst jetzt, wo der Fürst das Prärogativ (Ernen-nungsrecht) dem Landtag abgetreten hat, können wir rechtmässig Regierungsräte wählen».21

2. Auswirkungen

Damit war vorerst die Regierungskrise beseitigt, beendet war sie noch nicht. Sie entzündete sich erneut, als es um die Nominierung von Josef Peer22zum Landesverweser ging.23Die Weichen in Richtung

«Parlamen-19 Vgl. Rupert Quaderer, Der historische Hintergrund der Verfassungsdiskussion, S. 117; Herbert Wille, Regierung und Parteien, S. 85.

20 Dies betrifft sowohl die Person als auch die Landeszugehörigkeit des Landesver -wesers.

21 Herbert Wille, Regierung und Parteien, S. 85. Bei den beiden (nebenamtlichen) Re-gierungsräten handelte es sich um Franz Josef Marxer und Wilhelm Beck. Damit wa-ren, wie Rupert Quaderer, Der historische Hintergrund der Verfassungsdiskussion, S. 117 feststellt, «immerhin zwei Mitglieder des provisorischen Vollzugsausschusses vom 7. November 1918 als Regierungsmitglieder bestätigt worden.» Zur Person von Franz Josef Marxer siehe Donat Büchel, in: Historisches Lexikon, Bd. 2, S. 587.

22 Zu seiner Person siehe Rupert Quaderer, in: Historisches Lexikon, Bd. 2, S. 696 f.

und Rupert Quaderer-Vogt, Bewegte Zeiten, Bd. 2, S. 184 f.; siehe auch Friedrich Wilhelm Kremzow, Rechtsanwälte, S. 53 ff.

23 Siehe Herbert Wille, Regierung und Parteien, S. 85 ff.

tarisierung» der Regierung sind gestellt. Der Landtag hat eine Mitspra-che bei der Bestellung des Landesverwesers. Die Wahl der beiden Regie-rungsräte ist seine Angelegenheit geworden. Sie gehört nicht mehr zum exklusiven Machtbereich des Fürsten.

Der Fürst hat seine Reformbereitschaft unter Beweis gestellt. Sie hängt allerdings mit der politischen Lage im Lande zusammen und ist zu einem grossen Teil von ihr bestimmt, wie man dem Bericht der Fürstli-chen Hofkanzlei vom 26. April 1919 an das Staatssekretariat des Äusse-ren in Wien entnehmen kann. Dort heisst es: «Im Herbste 1918 trat als unvermeidliche Folge der in Österreich-Ungarn und Deutschland erfolgten politischen Umwälzungen auch im Fürstentum Liechtenstein eine Strömung zu Tage, welche auf eine demokratischere Gestaltung der Verfassung und mancher bestehender Einrichtungen gerichtet war. Seine Durchlaucht, der regierende Fürst begegnete diesen Wünschen mit

‹weitgehendstem Wohlwollen› und entsandte seinen Neffen, den Prin-zen Karl von und zu Liechtenstein zwecks Einleitung entsprechender Verhandlungen in das Fürstentum [...].»24

Es scheint auch, dass Landesfürst und Landesverweser, in dessen Vertretung Josef Ospelt,25sich bei der Frage der Nachfolge des Prinzen Karl von Liechtenstein im Frühjahr 192026nicht mehr an den sanktio-nierten Landtagsbeschluss vom 10. Dezember 1918 gehalten haben, wonach der Landesverweser vom Landesfürsten einvernehmlich mit dem Landtag bestellt wird. Sie rückten nämlich von der vereinbarten Verfassungsänderung ab und vertraten einen anderen Standpunkt, wenn es in der Kundmachung der fürstlichen Regierung vom 30. April 192027 zur Protestresolution von Anton Walser, die dieser als Obmann der Christlich-sozialen Volkspartei dem Landesfürsten unterbreitet hatte,

24 LLA, SF Präs. 1919/Zl. 17, zitiert aus Herbert Wille, Monarchie und Demokratie, S. 172.

25 Zu seiner Person siehe Rupert Quaderer, in: Historisches Lexikon, Bd. 2, S. 682 f.

26 Der Landesfürst hatte Dr. Josef Peer, Hofrat beim Verwaltungsgerichtshof in Wien, ehemaliger Bürgermeister der Stadt Feldkirch, als Landesverweser vorgesehen. Zu den Auseinandersetzungen in der sogenannten «Peerfrage» siehe Rupert Quaderer, Der historische Hintergrund der Verfassungsdiskussion, S. 121 ff.; ders., Feldkirchs Bürgermeister Josef Peer, S. 7 ff. (insbesondere S. 9 ff.) und Herbert Wille, Regie-rung und Parteien, S. 86 ff.

27 O.N. Nr. 35 vom 1. Mai 1920.

heisst, «[...] dass sich dieselbe in der mitgeteilten Form mehrfach als befremdend und inhaltlich als Versuch eines Eingriffes in das dem Lan-desfürsten nach § 27 der derzeit geltenden Verfassung zustehende Recht der Ernennung der Staatsdiener erweist». Eine solche Haltung verkennt, dass sich Fürst und Landtag bereits auf eine entsprechende Verfassungs-änderung geeinigt hatten, sodass es in der Landesverweserfrage nicht mehr darum gehen kann, ob man dem Fürsten sein «gutes verfassungs-mässiges Recht», den Landesverweser zu ernennen, nehmen wolle oder nicht.28 Der Fürst hat schon von diesem alleinigen Recht Abstand genommen und teilt es mit dem Landtag.

II. Verfassungsentwürfe 1. Verfassungsausschuss

Der Landtag setzte am 17. Dezember 1918 einen Verfassungsausschuss ein, der sich allerdings über den Weg, den die Verfassungsrevision ein-schlagen sollte, nicht einigen konnte29und untätig blieb. Umstritten war das Ausmass der Verfassungsänderung, ob die bestehende Konstitutio-nelle Verfassung von 1862 lediglich überarbeitet oder ob eine neue Ver-fassung geschaffen werden sollte. Die Vorgehensweise bestimmte auch den Inhalt, der im Landtagsbeschluss vom 10. Dezember 1918 nur zu einem geringen Teil angesprochen worden war, da er lediglich die zu jener Zeit drängenden Fragen, die politisch gelöst werden mussten, berührte und keineswegs die Themenbreite einer Verfassung abdeckte.

Er stellte denn auch nicht mehr als einen Verfassungskompromiss dar.

Prinz Karl von Liechtenstein verfasste eine Novelle, worin «die wich-tigsten Bestimmungen der Verfassung geändert werden sollten»,

wäh-28 LVolksblatt vom 24. April 1920, zitiert aus Herbert Wille, Regierung und Parteien, S. 87.

29 Albert Schädler, Landtag, JBL Bd. 21 (1921), S. 43, bemerkt, dass «die zum Aus bau unserer Verfassung vom Landtag gewählte Kommission [...] trotz wiederhol -ten Bemühungen zu keinem gedeihlichen Ziele» habe gelangen können, «weil der Führer der ‹Volkspartei› (Wilhelm Beck) meist grundsätzlichen Widerstand» geleis-tet habe.

rend Wilhelm Beck mit seinem Entwurf, den er im Februar 1919 der Regierung übermittelt hatte,30 eine Totalrevision der Verfassung anstrebte.31

2. Verfassungsentwurf von Wilhelm Beck

Nach diesem Verfassungsentwurf soll das Fürstentum Liechtenstein eine souveräne demokratische Monarchie auf parlamentarischer Grundlage bilden (Art. 1) und die Staatsgewalt auf dem Landesfürsten und dem Volke beruhen (Art. 3). Formal fällt auf, dass der Verfassungsentwurf die Rechte und Pflichten des Volkes im III. Hauptstück vor denjenigen des Landesfürsten im IV. Hauptstück regelt.

Der Landesfürst ist das Staatsoberhaupt und übt sein Recht an der Staatsgewalt gemäss der Verfassung aus (Art. 29). Er bleibt im Besitze des Sanktionsrechts, das er im Lichte der Verfassung auszuüben hat. Es bedarf zu seiner Gültigkeit der Gegenzeichnung eines Regierungsmit-gliedes, «das dadurch die Verantwortung übernimmt» (Art. 31). Der Landtag ist das verfassungsmässige Organ der Gesamtheit der Landes-angehörigen, das die Interessen des Landes und des Volkes nach den Bestimmungen der Verfassung wahrzunehmen hat (Art. 35). Der Verfas-sungsentwurf schränkt das Notverordnungsrecht des Landesfürsten wirksam ein, indem er «jede solche Massregel» der nachträglichen Zustimmung des Landtages unterstellt. Wird sie verweigert, ist die Anordnung aufzuheben (Art. 32 Abs. 2).

Der Verfassungsentwurf gesteht auch dem Volk neben dem Land-tag und dem Landesfürsten ein Gesetzesinitiativrecht zu. So können 400 wahlfähige Bürger einen Gesetzesvorschlag in den Landtag einbringen, den dieser in seiner nächsten Sitzung zu behandeln hat. Die näheren Vor-schriften überlässt er dem Gesetzgeber (Art. 50).

Der Landammann wird auf Vorschlag des Landtages vom Landes-fürsten ernannt. Alle Regierungsmitglieder sind aus Landesbürgern zu bestellen (Art. 60). Es wird parlamentarisch regiert und es hat daher ein

30 Publiziert in O.N. Nr. 47 vom 12. Juni 1920 bis Nr. 52 vom 30. Juni 1920.

31 Herbert Wille, Regierung und Parteien, S. 92 f.; vgl. auch Rupert Quaderer, Der his-torische Hintergrund der Verfassungsdiskussion, S. 125 f.

Regierungsmitglied von seiner Stelle zurückzutreten, wenn es das Ver-trauen der Volksvertretung nicht mehr besitzt (Art. 62).

Die gesamte Landesverwaltung hat sich «innert den Schranken der Verfassung und Gesetze zu bewegen» (Art. 66). Als Rechtsmittelinstanz in Verwaltungssachen fungiert die Verwaltungsbeschwerdeinstanz, die ihren Sitz in Vaduz hat (Art. 70). Der Staatsgerichtshof beurteilt u. a.

staatsrechtliche Beschwerden über Verletzung verfassungsmässig garan-tierter Rechte der Bürger, Gemeinden und Korporationen (Art. 79).32

3. Verfassungsentwurf von Prinz Karl von Liechtenstein33

Der Verfassungsentwurf übernimmt textgleich zahlreiche Bestimmun-gen der Konstitutionellen Verfassung von 1862. Der Landesfürst bleibt alleiniger Träger der Staatsgewalt.34 Die Kernbestimmung lautet nach wie vor: «Der Landesfürst ist Oberhaupt des Staates, vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt und übt sie unter den in gegenwärtiger Ver-fassungsurkunde festgesetzten Bestimmungen aus» (§ 2). Auch die

«Regierungsgewalt» liegt nach wie vor «in der Hand des Fürsten» (§ 30).

Es steht ihm wie bisher das Notverordnungs- und Sanktionsrecht zu, das auch auf Verordnungen ausgedehnt wird (§§ 25 und 27 sowie 32). Es bleibt damit das monarchische Prinzip gewahrt. Es sollte in dieser Hin-sicht ein Kontinuitätsbruch vermieden und an der grundsätzlich unan-tastbaren und «vor» der Verfassung liegenden monarchischen Staatsge-walt festgehalten werden.

Die Regierung besteht aus dem Landesverweser als Vorsitzendem, zwei Regierungsräten und zwei Stellvertretern. Der Landesverweser wird vom Fürsten ernannt. Ist er Ausländer, ist das Einvernehmen des Landtages erforderlich. Die zwei Regierungsräte und ihre zwei Stellver-treter werden vom Landtage aus der Mitte der stimmberechtigten Bevöl-kerung auf die Dauer einer Legislaturperiode gewählt, wobei auf die

bei-32 Vgl. zur Verfassungsreform und Verfassungsgerichtsbarkeit Herbert Wille, Nor-menkontrolle, S. 36 ff.; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 18 ff.

33 Hier wird auf den zweiten Entwurf Bezug genommen, der die (ursprüngliche) Fas-sung überarbeitet hat. Siehe dazu Rupert Quaderer-Vogt, Bewegte Zeiten, Bd. 2, S. 234 Fn. 744.

34 Vgl. Herbert Wille, Landtag und Wahlrecht, S. 123.

den Landschaften Rücksicht zu nehmen ist. Ihre Wahl bedarf der Bestä-tigung des Landesfürsten (§ 71). Der Verfassungsentwurf bezeichnet denn auch die Regierung als «seine Regierung» (§ 33).

Dem Volk räumt der Verfassungsentwurf Rechte in Form des Refe-rendums und der Initiative ein, die in konservativen Kreisen auf Skepsis stossen.35 Das Liechtensteiner Volksblatt kommentiert diese direkt-demokratischen Einrichtungen zurückhaltend und meint: «Es sollte also in die neue Verfassung das Referendum, der Volksbeschluss aufgenom-men werden [...]. Es ist verständlich, dass das Referendum jeweils nur mit Einwilligung des Landesfürsten erfolgen soll».36

Vorgesehen sind die Volksabstimmung bzw. das Referendum gegen

«alle Gesetze37, die nicht dringlicher Natur sind» (§ 32). Eine Volksab-stimmung können auch der Landesfürst, seine Regierung und der Land-tag «ergehen» lassen (§ 33). Das Initiativrecht bzw. das Recht des Volks-begehrens «umfasst das Verlangen auf Erlass oder Aufhebung eines Gesetzes oder auf Abänderung eines Gesetzes oder auf Abänderung ein-zelner Teile der Verfassung oder der ganzen Verfassung». Solche Begeh-ren können als einfache Anregung oder als ausgearbeiteter Entwurf gestellt werden, wobei sie begründet werden müssen (§ 34).

Der Verfassungsentwurf konzediert in § 40 dem Landtag bzw. zwei Dritteln seiner Mitglieder, neben dem Landesfürsten einen «ausseror-dentlichen Landtag» einzuberufen, wenn sie es «zur Erledigung drin-gender Landesangelegenheiten» für nötig halten, nachdem sich der

«ordentliche Landtag» nur «zweimal im Jahre und zwar im Frühling und im Herbste» versammelt (§ 39).

35 §§ 31 bis 35 des IV. Hauptstückes: Rechte des gesamten Volkes. Siehe Herbert Wille, Regierung und Parteien, S. 106 Fn. 193; siehe auch Rupert Quaderer-Vogt, Bewegte Zeiten, Bd. 2, S. 234 und 236.

36 LVolksblatt Nr. 77 vom 27. September 1919, zitiert aus Herbert Wille, Regierung und Parteien, S. 106. Das Liechtensteiner Volksblatt meint mit diesem Hinweis die Sanktion des Landesfürsten. Es heisst denn auch in § 32 des Verfassungsentwurfs im Zusammenhang mit dem Referendumsrecht, dass «die Sanktion des Landesfürsten, welche zur Giltigkeit aller Gesetze und Verordnungen vorgesehen ist, in diesen Fäl-len erst nach Ablauf dieser Frist (21 Tage) von der Regierung einzuhoFäl-len» ist.

37 Wenn man § 27, der die Sanktion für die Gültigkeit eines Gesetzes voraussetzt, in Verbindung zu § 32 bringt, kann es sich bei dem hier verwendeten Begriff des Geset-zes nur um einen Beschluss des Landtages handeln, da ja die Sanktion des Landes-fürsten erst nach Ablauf der Referendumsfrist von der Regierung einzuholen ist.

4. Staatsrechtliche Bewertung

Die beiden Verfassungsvorschläge gehen von unterschiedlichen Verfas-sungsvorstellungen aus und verfolgen ungleiche Ziele, die beim politi-schen Gegner auf Ablehnung stossen.38Der Entwurf von Wilhelm Beck postuliert eine «demokratische Monarchie auf parlamentarischer Grundlage», wobei die Staatsgewalt zwischen Fürst und Volk geteilt wird. Er stellt eine Totalrevision39bzw. Weiterentwicklung des konstitu-tionellen Systems der Verfassung von 1862 dar, indem er vom monar-chischen Konstitutionalismus abrückt und zur parlamentarischen Monarchie übergeht. Diese Aussage muss allerdings relativiert werden, soweit er ein einvernehmliches Vorgehen zwischen Fürst und Landtag bei der Bestellung des Landammannes festlegt und in diesem Rahmen dem monarchischen Konstitutionalismus verhaftet bleibt, nicht aber was seine Entlassung sowie die Wahl und die Entlassung der anderen Regie-rungsmitglieder betrifft, für die ausschliesslich der Landtag zuständig ist.

Die beiden Verfassungsvorschläge gehen von unterschiedlichen Verfas-sungsvorstellungen aus und verfolgen ungleiche Ziele, die beim politi-schen Gegner auf Ablehnung stossen.38Der Entwurf von Wilhelm Beck postuliert eine «demokratische Monarchie auf parlamentarischer Grundlage», wobei die Staatsgewalt zwischen Fürst und Volk geteilt wird. Er stellt eine Totalrevision39bzw. Weiterentwicklung des konstitu-tionellen Systems der Verfassung von 1862 dar, indem er vom monar-chischen Konstitutionalismus abrückt und zur parlamentarischen Monarchie übergeht. Diese Aussage muss allerdings relativiert werden, soweit er ein einvernehmliches Vorgehen zwischen Fürst und Landtag bei der Bestellung des Landammannes festlegt und in diesem Rahmen dem monarchischen Konstitutionalismus verhaftet bleibt, nicht aber was seine Entlassung sowie die Wahl und die Entlassung der anderen Regie-rungsmitglieder betrifft, für die ausschliesslich der Landtag zuständig ist.