4. Sozialer Wandel in Ostdeutschland - Ausmaß und Folgen
4.1 Veränderungen der Struktur einzelner sozialer Lagen in Ostdeutschland: Eine Übersicht
Wesentliche Unterscheidungsmerkmale die sich, unter Verwendung des oben beschriebenen Sozialstrukturmodells, zwischen der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik für 1990 erkennen lassen, wurden im Detail bereits an früherer Stelle dargestellt (Landua/Zapf 1991; Landua 1992c:5ff.). Die wichtigsten Ergebnisse sollen hier deshalb nur kurz angesprochen werden.
Erstens, in der "alten" Bundesrepublik veränderten sich, trotz umfangrei
cher Übergänge in, bzw. aus dem Arbeitsmarkt oder durch Mobilitätspro
zesse zwischen einzelnen Berufsgruppen, Branchen und Beschäftigungsver
hältnissen, die Eckdaten der sozialen Grundgliederung bis 1990 nur partiell und relativ langsam (Schaubild 9). Wichtige Kennzeichen der sozialstruktu
rellen Entwicklung in der alten Bundesrepublik lassen sich unter dem Begriff der "Modernisierung" zusammenfassen (Geißler 1992:305ff; Zapf:
/Gehobene Beamte Einlache Angestellte
/Einl.;mittl. Beamte Meister/Vorarbeiter
Facharbeiter Un-, angelernte
Arbeiter Selbständige, freie
Berufe
Arbeitslose Studium, Lehre
Wehrdienst Nichteraerbstätige (früher erwerbstätig)
Nichterwerbstätige (noch nie erwerbstätig)
Noch erwerbstätig Noch nie erwerbstätig Rentner/Pensionäre (früher erwerbstätig)
20 15 10 5 0 5 10 15
In Prozent
Datenbasis: SOEP-West, 1990.
Leitende Angestellte
Datenbasis: Längsschnittdaten des SOEP-Ost, 1990.
CT
1989). Auch die ehemalige DDR wies deutliche Modernisierungstendenzen auf: Wohlstandssteigerung, Höherqualifizierung, Verschiebungen innerhalb der drei Produktionssektoren (Land-, Forstwirtschaft; industrieller Sektor;
Dienstleistungssektor), Lockerung des Schichtgefüges, Verringerung der Unterschiede zwischen Männern und Frauen, Differenzierung der privaten Lebens- und Familienformen, Alterung und Geburtenrückgang. Hinweise für erhebliche "Modernisierungsrückstände" (Geißler 1992:308f.) fanden sich u.a. in dem wachsenden Rückstand beim Lebensstandard und bei Konsum
chancen, in der hohen Machtkonzentration (Monopolelite), in der angestreb
ten Nivellierung sozialer Differenzierungen (Egalitäre Politik der "Annähe
rung aller Klassen und Schichten"), in der relativ geringen Bedeutung des Dienstleistungssektors (Tertiarisierungsrückstand) und in der seit Ende der 70er Jahre einsetzenden sozialen Schließung der höheren Bildungswege.
Zweitens, die ehemalige DDR stellte sich 1990, unmittelbar vor der
"Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion", als eine "Arbeitsgesellschaft"
dar, mit einer deutlich höheren Erwerbsquote, insbesondere der Frauen.
Umgekehrt bildeten die zahlenmäßig starken westdeutschen Soziallagen der weiblichen Nichterwerbstätigen (vor allem "Hausfrauen") im Osten nur kleine gesellschaftliche Teilgruppen. Die Berufstätigkeit von Frauen im er
werbsfähigen Alter war in der ehemaligen DDR nahezu eine Selbstverständ
lichkeit; die Gleichstellung der Frau gehörte zu den offiziellen Zielen der Gesellschaftspolitik. Politisch sollten Frauen, nach der Gründung der DDR, durch den Abbau von Nachteilen für das neue sozialistische System gewon
nen werden und ökonomisch stellten Frauen ein dringend benötigtes Ar
beitskräftepotential für die Wirtschaft dar. Der Ausbau von Kinderkrippen, Kindergärten und Schulhorten wurde in der DDR zur Entlastung berufstä
tiger Frauen entsprechend stark vorangetrieben. Fast alle Kinder konnten während der Arbeitszeiten der Eltern außerhalb der Familie betreut werden.
Drittens, die DDR war eine "Arbeitergesellschaft", genauer eine "Fach- arbeitergesellschaft", zugleich jedoch mit einem nicht imbedeutenden Lei
tungsüberhang (Landua/ Zapf 1991:10f.), der u.a. durch den überproportio
nalen Anteil höherer Angestelltenpositionen zum Ausdruck kam. Die Ent
wicklung der Beschäftigtenanteile verlief in den beiden deutschen Gesell
schaften unterschiedlich. In den 50er und 60er Jahren bildeten sich in der DDR und in der Bundesrepublik typische industriegesellschaftliche Struktu
ren heraus: sekundärer (industrieller) und tertiärer (Dienstleistungs-) Sektor dehnten sich zu Lasten des primären Sektors (Land-, Forstwirtschaft) aus - in der Bundesrepublik allerdings schneller als in der DDR. In den letzten beiden Jahrzehnten klafften die Entwicklungen zunehmend auseinander.
Die Bundesrepublik unterlag einem deutlichen Tertiarisierungsschub; in der DDR stagnierte die Entwicklung dagegen in den drei Sektoren nahezu. Das Ergebnis war ein erheblicher "Tertiarisierungsrückstand" der DDR; sie ent
wickelte sich nicht vollständig zu einer "Dienstleistungsgesellschaft"
(Scharpf 1986; Geißler 1991, iwd 1990/35).
Schaubild 10: Ein Bild sozialer Lagen in Ostdeutschland 1992
Leitende Angestellte Hochqual.Angest eilte/
Höhere Beamte Qualifizierte AngestV Gehobene Beamte Einfache Angestellte,
einf./mittl. Beamte Meister/Vorarbeiter
Facharbeiter Un-, angelernte
Arbeiter Selbständige, freie
Berufe
Arbeitslose Studium, Lehre Mutterschaftsurlaub In Vorruhestand(91-92) Sonst .Nichterwerbstätige
Noch erwerbstätig In Vorruhestand(91-92)
Rentner/Pensionäre
Männer Frauen
10 15
20 15 10 5 0 5
In Prozent
| l West-Pendler
Aus-,Weiterbildung
|a;W'j Kurzarbeit/ABM
Datenbasis: Längsschnittdaten des SOEP-Ost, 1992.
Das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Arbeit, das allerdings gleichzei
tig auch eine Pflicht zur Arbeit enthielt, verhinderte in der DDR 40 Jahre lang quantitativ nennenswerte Formen offener Arbeitslosigkeit12. Durch die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten brach nicht nur das DDR- System gesellschaftlicher Ordnungen und Basisinstitutionen plötzlich und vollständig zusammen, sondern die mit dem "Beitritt" der DDR verbunde
nen (markt-)wirtschaftlichen Strukturveränderungen lösten darüberhinaus Kapitalisierungs- und (Re-)Privatisiertmgsprozesse aus, die bereits bis 1991 massenhafte Freisetzungen von Arbeitskräften nach sich zogen. Hiervon waren keineswegs nur jene ineffizienten Arbeitsplätze betroffen, die als
12 Die sogenannte "verdeckte Arbeitslosigkeit", d.h. die personelle Überbesetzung des Pro
duktionsprozesses durch unproduktive und deshalb wirtschaftlich entbehrliche Arbeitnehmer - war jedoch ein existierendes ökonomisches Problem der DDR-Wirt- schaft (Vortmann 1989; Geißler 1992:150f.; Comelsen 1990:35f.).
Folge einer jahrzehntelangen administrativ "verordneten" Vollbeschäftigung entstanden waren (Landua 1992b). Der Abbau von Arbeitsplätzen bzw. die Zunahme nichterwerbstätiger Personen sind zentrale Merkmale des sozia
len Wandels der ostdeutschen Gesellschaft bis Mitte 1992 geblieben (Schau
bild 10). Es wäre übertrieben die These zu vertreten, daß der ehemaligen Arbeitsgesellschaft bis 1992 die Arbeit "ausgegangen" sei, aber zumindest ist erkennbar, daß sich die ostdeutsche Erwerbsbeteiligung der westdeutschen insgesamt erheblich angenähert hat. Ebenso unzweifelhaft ist, daß selbst das bestehende, niedrigere Beschäftigungsniveau in seinem Umfang nur durch eine Reihe aufwendiger arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen wie Kurzarbeit oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aufrechterhalten werden konnte. Der entsprechende Anteil solch "irregulärer" Beschäftigungsverhältnisse fällt bei Erwerbspositionen von Arbeitern und einfachen Angestellten nicht uner
heblich ins Gewicht. Nach wie vor besteht die Gefahr, daß durch die zuneh
menden Finanzlücken in den öffentlichen Haushaltsetats von Bund, Län
dern und Gemeinden hier ein weiterer, großer Freisetzungsschub von Arbeitskräften ausgelöst werden kann. Entlastend wirkt sich in den neuen Bundesländern allerdings auch noch der Umstand aus, daß ein Teil der Arbeitseinkommen gar nicht mehr auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt erworben wird. Insbesondere männliche Facharbeiter nutzen 1992 die Mög
lichkeit, einer Beschäftigung in den alten Bundesländern nachzugehen. Für die vergleichsweise höheren Arbeitseinkommen dieser ’West-Pendler" müs
sen allerdings z.T. lange Arbeitswege in Kauf genommen werden.
Der Anteil nichterwerbstätiger Personen an der Gesamtbevölkerung im erwerbsfähigen Alter hat sich zwischen Ost- und Westdeutschland bis 1992 weitgehend nivelliert. Die Erwerbsquote liegt im Osten bereits kaum noch über der im Westteil Deutschlands. Die sozialpolitische Bedeutung der Nichterwerbstätigen in den neuen Bundesländern läßt sich allerdings kaum mit derjenigen in den alten Ländern gleichsetzen. Im Westen wird die überwiegende Mehrheit dieser Gruppe von Studenten und Hausfrauen ge
bildet, wobei nur ein Teil der letztgenannten der sogenannten "Stillen Re
serve" zuzurechnen ist. Die mit Abstand größte Gruppe aller nichterwerb
stätigen Personen in Ostdeutschland stellen hingegen die Arbeitslosen. Da lange und kontinuierliche Phasen der Erwerbstätigkeit für den überwiegen
den Teil der erwachsenen Bevölkerung in der DDR zur Normalbiographie zählten und die eigene Berufstätigkeit im Bewußtsein der Menschen bis heute einen entsprechend hohen Stellenwert einnimmt (Habich/ Landua/
Seifert/ Spellerberg 1991:24ff.; Landua 1992c: Kap. 2), stellt Arbeitslosigkeit für die Betroffenen oft eine schwere persönliche Belastung dar. Das Ausmaß dieser Belastungen wird unter den Bedingungen der allgemeinen Wirt
schaftskrise und durch die weitverbreitete, selbst wahrgenommene Chan- cenlosigkeit bei einer Stellensuche noch verstärkt. Umschulungs- oder andere Qualifizierungsmaßnahmen sind u.U. geeignete Mittel, um die
Chancen von Arbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Der Anteil der Arbeitslosen in den neuen Bundesländern, die an solchen Maßnahmen teilnehmen, ist jedoch eher gering. Männliche Beschäftigte finden dabei im Rahmen der Umstrukturierungsprozesse in der ostdeutschen Industrie noch relativ oft den Zugang zu irregulären Arbeits Verhältnis sen und sind damit - zumindest bis auf weiteres - nicht auf den Bezug von Lohnersatzleistungen angewiesen. Frauen sind hingegen, mit einem Anteil von rund 65 Prozent, überproportional häufig von Arbeitslosigkeit direkt betroffen. Der Anteil er
werbsloser Personen in den neuen Bundesländern stieg zwischen 1990 und 1992 allerdings noch stärker an, als dies allein über die Zahl der Arbeitslo
sen zum Ausdruck kommt; hunderttausende von älteren Erwerbstätigen sind bis zu diesem Zeitpunkt auch noch über die "Vorruhestandsregelung"
(endgültig) aus dem Erwerbsleben ausgeschieden. Der frühe Ausstieg aus dem Erwerbsleben ist für die (west-)deutsche Arbeitsgesellschaft keines
wegs untypisch und war schon in früheren Arbeitsmarktkrisen mit staatli
cher Unterstützung forciert worden (Schmidt 1988:64ff.; Sengenberger 1987).
Mit dem Abbau von Arbeitsplätzen gingen gleichzeitig Veränderun
gen in der Beschäftigungsstruktur einher. So wurde der Leitungsüberhang in den höheren Angestelltenpositionen bis 1992 weitgehend abgebaut; viele Stellen wurden dabei seit 1990 personell neu besetzt. Nach wie vor wird die Struktur männlicher Berufspositionen in Ostdeutschland von Arbeiterberu
fen dominiert. Zu diesem Umstand tragen nicht zuletzt eine große Zahl von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und "West-Pendlern" bei. Bei weiblichen Erwerbspersonen zeichnet sich bislang ein leichter Anstieg der Beschäftig
ten lediglich in der Gruppe der "einfachen Angestellten und Beamten" ab. In anderen Berufsgruppen der abhängig Beschäftigten, vor allem bei Fach
arbeiterinnen, überwiegen durch Arbeitslosigkeit bedingte Stellenverluste.
Ein wichtiger Bestandteil einer effizienten modernen Sozialstruktur ist das Vorhandensein eines Mittelstands von Selbständigen. Die Gruppe der Selbständigen gehörte zweiffelos zu den Opfern der radikalen Umgestal
tung der Produktionsverhältnisse in der DDR. Privateigentum an Produk
tionsmitteln wurde nach und nach in "Volkseigentum" (Verstaatlichung) oder in "Gruppeneigentum" (Kollektivierung) umgewandelt. Diese Politik hatte für die privaten Unternehmen weitreichende Folgen: Von etwa 1.6 Millionen Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen im Jahre 1955 haben sich bis 1980 lediglich noch rund 0.2 Millionen halten können.
Die Verstaatlichung machte aus selbständigen Betrieben volkseigene Betriebe (VEB); durch die Kollektivierung wurden selbständige Handwer
ker und Bauern veranlaßt oder gezwungen, sich zu Prokuktionsgenossen- schaften im Handwerk (PGH) oder in der Landwirtschaft (LPG) zusammen
zuschließen. Wichtige Teile des "alten Mittelstandes" wurden auf diese Weise zerstört. Das selbständige Bauerntum verschwand fast vollständig, ebenso wie die sogenannten "Freiberufler". Die stärkste Bastion der Selb
ständigen in der DDR bildete noch das Handwerk (Geißler 1992:104ff.). Die Zahl der Selbständigen und Freiberufler in Ostdeutschland ist seit der
"Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion" deutlich gestiegen, sie haben jedoch im Erwerbssystem bei weitem noch nicht die Bedeutung erlangt, wie die entsprechenden Teilgruppen im Westen. Wieviele der neugegründeten Betriebe in den neuen Bundesländern jedoch wirklich überlebensfähig sind, bleibt abzuwarten. Ein großer Teil der Neugründungen im Klein- und Kleinstgewerbe (Imbiß-Buden, Videoläden etc.) wird sich mittelfristig kaum halten können. Ob hier deshalb langfristig im Erwerbssystem ein Selbstän- digenanteil von rund acht Prozent wie in den alten Bundesländern erreicht wird, dürfte eher von der Entwicklung genossenschaftlicher Strukturen in Landwirtschaft, Handel und Handwerk abhängen.
4.2 Erwerbsbeteiligung einzelner Altersgruppen und Erwerbs-